Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 14.05.2007

LSG Berlin und Brandenburg: hauptsache, zugang, ausschluss, mietwohnung, vergleich, gleichbehandlung, angemessenheit, anschluss, rückgriff, ausnahme

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 14.05.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Potsdam S 27 AS 954/05
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 10 B 217/07 AS PKH
Auf die Beschwerde der Klägerin wird ihr unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Potsdam vom 29.
September 2006 für das Verfahren vor dem Sozialgericht Potsdam Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter
Beiordnung von Rechtsanwalt H-W S, Z V J gewährt.
Gründe:
In der Hauptsache ist streitig, ob der Klägerin in der Zeit vom 01. Juli 2005 bis zum 31. Dezember 2005 monatlich um
11,25 EUR höhere Grundsicherungsleistungen zustehen. Die Klägerin trägt dazu vor, die tatsächlich aufzubringenden
Heizkosten überstiegen in diesem Umfang die von der Beklagten ihrer Leistung zugrunde gelegten Pauschalen. Das
Sozial¬gericht (SG) Potsdam hat mit Beschluss vom 29. September 2006 die Gewährung von Prozesskosten¬hilfe
(PKH) mangels Erfolgsaussicht abgelehnt.
Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet.
Die Beschwerde ist statthaft. Nach § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) findet gegen Entscheidungen der
Sozialgerichte mit Ausnahme der Urteile und gegen Entscheidungen der Vorsitzenden dieser Ge¬richte die
Beschwerde statt, soweit nicht in diesem Gesetz (dem SGG) anderes bestimmt ist. Eine abweichende Bestimmung
ist nicht nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG getroffen, wenn dort die entsprechende Geltung der Vorschriften der
Zivilprozessordnung (ZPO) über die PKH vorgesehen ist. Die ZPO kennt in § 127 Abs. 2 Satz 2 für den Fall der
Ablehnung von PKH, die nicht allein auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers gestützt
wurde, einen Ausschluss der Beschwerde, wenn "der Streitwert in der Hauptsache den in § 511 (der ZPO) genanntem
Betrag (= 600,00 EUR) nicht übersteigt". Die entsprechende Anwendung dieses Ausschlusses bezogen auf den
Beschwerdewert des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG (= 500,00 EUR) ist verschiedentlich vorgenommen worden (LSG
Baden-Württemberg, Be¬schluss vom 06. September 2005, L 8 AL 1862/05 PKH – B; LSG Niedersachsen,
Beschluss vom 06. Dezember 2005, L 8 B 147/05 AS; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Februar 2007, L
25 B 109/07 AS PKH). Mit einer weiteren Entscheidung des LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 02. Januar
2007 – L 13 AS 4100/06 PKH – B), der sich der Senat anschließt, ist demgegenüber festzuhalten, dass keine
ausreichende Rechtsgrundlage für einen Beschwerdeausschluss besteht. Dem steht entgegen, dass ein solcher
Ausschluss durch einen Rückgriff auf § 144 SGG einen anderen (weitergehenden) als den zivilprozessual
vorge¬sehenen Inhalt hätte und dass er - erstreckt auf das Erkenntnisverfahren nach dem SGG - auch Fälle erfassen
würde, in denen in der Hauptsache eine Nichtzulassungsbeschwerde eröffnet ist, die sachliche Befassung des
Berufungsgerichts mit der Entscheidung des Vordergerichts also anders als in den nach der ZPO erfassten
Fallgestaltungen im Rahmen eines ordentlichen Rechtsbehelfs vorgesehen ist. Zudem überzeugt der Hinweis auf die
Gesetzgebungshistorie des 6. SGG-ÄndG. Der Entwurf zu diesem Gesetz (dort § 172 Abs. 1 Satz 2, s BT-Drucks
14/5943 S 11) hatte einen Aus¬schluss der Beschwerde gegen Beschlüsse nach § 86b SGG und im Verfahren über
die PKH vorgesehen. Dieses ausdrücklich mit dem so genannten Konvergenzgedanken (steht in der Hauptsache nur
eine Instanz zur Verfügung, besteht kein Grund, für die wirtschaftliche weniger bedeutsamen Nebenentscheidungen
einen weitergehenden Instanzenzug zu eröffnen) begründete Vorhaben (aaO S 27) wurde im Anschluss an die
Aus¬schussberatungen unter Bezugnahme darauf, ein der Verwaltungsgerichtsordnung vergleich¬barer
Rechtszustand solle beibehalten werden, be¬wusst und gewollt nicht umgesetzt.
Die danach auch in Ansehung des Umstandes, dass der Beschwerdewert in der Hauptsache einen Betrag von 500,00
EUR nicht erreicht, statthafte Beschwerde ist auch begründet. Der Klägerin ist PKH unter Beiordnung ihrer
Bevollmächtigten zu gewähren, da sie nach ihren - hier mit Blick auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 127 Abs. 1 Satz
3 ZPO nicht näher darzulegenden - persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten
der Prozessführung auch nur teilweise oder in Raten aufzubringen und der Rechtsstreit auch Erfolgsaussicht hat (§
73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm §§ 114, 115 ZPO).
Nach § 114 ZPO ist einem Beteiligten, der - wie die Klägerin - nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf seinen Antrag
PKH zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Mit dieser Bestimmung wird der Gesetzgeber seiner Verpflichtung gerecht, die aus Art 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG)
grundrechtlich gesicherte Rechtsschutzgleichheit zu gewährleisten, die beinhaltet, den Zugang zu den Gerichten für
jedermann in grundsätzlich gleicher Weise zu eröffnen, insbesondere dem Unbemittelten einen weitgehend gleichen
Zugang zu den Gerichten zu ermöglichen (BVerfGE 81, 347 f). Dieses Ziel wird nur erreicht, wenn § 114 ZPO von den
Fachgerichten in einer Weise ausgelegt und angewandt wird, die Restriktionen vermeidet, die in Ansehung der
dargestellten Zielvorstellung verfassungsrechtlich unzulässig sind. Dazu gehört es, die Anforderungen an die
Erfolgsaussicht nicht zu überspannen, insbesondere die Prüfung schwieriger Sach- und Rechtsfragen nicht in das
PKH-Verfahren vor zu verlagern, und bei der Beurteilung der Erforderlichkeit der Beiordnung eines Rechtsanwalts (§
121 Abs. 2 ZPO) Un¬gleichheiten entgegenzuwirken, deren Ausmaß nach den Fähigkeiten der Beteiligten und dem
Streitstoff variieren können (vgl. BVerfG 1. Senat, 3. Kammer, Beschluss vom 30. August 2006 – 1 BvR 955/06,
BVerfG 1. Senat, 1. Kammer, Beschluss vom 18. Dezember 2001 1 BvR 391/01). Die Bewilligung von PKH unter
Beiordnung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist danach im Ausgangspunkt problemlos, da das Begehren der
Klägerin, die meint, ihr ständen über die von der Beklagten abstrakt angemessen festgelegten Heizkosten hinaus die
tatsächlich anfallenden Heizkosten zu, nicht ohne Erfolgsaussicht ist. Die Frage, in welchem Umfang im Rahmen der
Grundsicherung für Arbeitssuchende Heizkosten einer Mietwohnung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Zweites Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II) übernommen werden müssen, ob sie abstrakt nach der Anzahl der Personen und der
Größe der Wohnung oder unter Berücksichtigung des tatsächlichen (auf seine Angemessenheit zu prüfenden)
Aufwandes zu bestimmen sind, ist bislang noch nicht geklärt und auch durch die höchstrichterliche Rechtsprechung
(insbesondere BSG, Urteil vom 07. November 2006 – B 7b AS 18/06 R) nicht vorgegeben. Insoweit ist auch noch
nicht zu überblicken, welche Ermittlungen das SG zu den konkret oder allgemein angemessenen Heizkosten anstellen
wird, wenn es die Bezugnahme auf den Widerspruchsbescheid der Beklagten zugunsten einer eigenen Prüfung der
Sach- und Rechtslage aufgibt.
Es bleibt zu überprüfen, ob die begrenzte wirtschaftliche Bedeutung des Rechtsstreits der Bewilligung von PKH und
der Beiordnung des Prozessbevollmächtigten entgegensteht, wobei der Senat im Ergebnis nicht von einem
Bagatellstreit ausgeht, für den PKH nicht zu bewilligen sein dürfte (vgl. LSG Berlin, Beschluss vom 05. Oktober 1998
– L 14 Ar-N 60/96). Die PKH-Bestimmungen in ihrem verfassungsrechtlichen Kontext gebieten es nicht, den
Unbemittelten dem wirtschaftlich Leistungsfähigen vollständig und in jeder Hinsicht gleichzustellen. Das Gericht muss
vielmehr erwägen, ob ein Unbemittelter in der Lage des Unbemittelten vernünftigerweise einen Rechtsanwalt mit der
Wahrnehmung seiner Interessen beauftragen würde (BVerfG 1. Senat, 3. Kammer, Beschluss vom 20. Juni 2006 – 1
BvR 2673/05 = info also 2006, 279 ff). Damit ist es nicht erforderlich, den Unbemittelten in den (dem Bemittelten
eröffneten) Stand zu versetzen, einen Anwalt ohne Beachtung der Relation des Wertes der durchzusetzenden
Position zum Kostenrisiko zu beauftragen (vgl. BVerfGE 81, 347). Die Verhältnisse im vorliegenden Fall sind
grenzwertig, denn es ist davon auszugehen, dass der streitbefangene Betrag (11,25 EUR x 6 Monate = 67,50 EUR)
nur in der Größenordnung etwa eines Achtels des Betrages liegt, mit dem die Klägerin bei Erfolglosigkeit des
Rechtsstreits als Gebührenschuld belastet wäre (Verfahrensgebühr – Mittelgebühr 250,00 EUR + Terminsgebühr –
Mittelgebühr 200,00 EUR + Postpauschale 20,00 EUR + 19 % Umsatzsteuer = 559,30 EUR). Allerdings würde die
alleinige Maßstäblichkeit der Höhe des streitigen Betrages eine von der wirtschaftlich ratio¬nalen Betrachtungsweise
ausgehende Gleichbehandlung nicht gewährleisten, denn es ist nicht vernunftwidrig, die Frage, ob ein Rechtsstreit
unter Inkaufnahme eines erhöhten Kostenrisikos optimal (d.h. anwaltlich vertreten) geführt werden soll, auf der
Grundlage des Umfangs der aus der Vorenthaltung der streitigen Position resultierenden Beeinträchtigung zu
beurteilen. Diese ist bei wirtschaftlich beengten Verhältnissen bereits dann nicht unerheblich, wenn relativ geringe
Beträge "fehlen", dies zumal als Leistungen der Grundsicherung zugewandte Mittel praktisch weitestgehend gebunden
sind und dem Berechtigten kaum Dispositionsmöglichkeiten verbleiben. Da bei der Beurteilung der wirtschaftlichen
Bedeutung dieses Rechtsstreits zudem nicht gänzlich außer Betracht bleiben kann, dass über den Streitgegenstand
hinaus von der Entscheidung faktisch auch abhängen dürfte, wie der "Heizkostenanspruch" für die Folgehalbjahre
berechnet werden wird, besteht für die Gewährung von PKH und die Beiordnung des Prozessbevollmächtigten eine
hinreichende Grundlage.
Dieser Beschluss ist nicht weiter anfechtbar (§ 177 SGG).