Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 30.05.2006

LSG Berlin-Brandenburg: fristlose kündigung, anhörung, arbeitsgemeinschaft, hauptsache, zugang, krankenpflege, versorgung, willenserklärung, schriftstück, öffentlich

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 9.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 9 B 261/06 KR ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 132 SGB 5, § 132a Abs 2 SGB
5, § 86b Abs 2 SGG
Fristlose Kündigung eines Vertrages über die Versorgung mit
häuslicher Krankenpflege
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin
vom 30. Mai 2006 aufgehoben.
Es wird im Wege der einstweiligen Anordnung festgestellt, dass die mit Schreiben vom
12. Mai 2006 ausgesprochene fristlose Kündigung des Vertrages gemäß §§ 132 und 132
a Abs. 2 SGB V über die einheitliche Versorgung mit Häuslicher Krankenpflege sowie zur
Erbringung von Leistungen nach §§ 198 und 199 RVO (Häusliche Pflege bzw.
Haushaltshilfe) vom 31. Januar 2005 unwirksam ist.
Die Antragsgegnerinnen zu 1) bis 6) tragen die Kosten des vorläufigen
Rechtsschutzverfahrens für beide Instanzen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500,00 € festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin
vom 30. Mai 2006 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)
zulässig und begründet.
Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Antrag der Antragstellerin abgelehnt, im Wege der
einstweiligen Anordnung festzustellen, dass die mit Schreiben vom 12. Mai 2006
ausgesprochene fristlose Kündigung des im Tenor näher bezeichneten Vertrages
(Versorgungsvertrag) unwirksam ist. Denn dieser Antrag, der bei am Rechtsschutzziel
orientierter Auslegung des – mit der Beschwerdeschrift korrespondierenden –
Antragsschriftsatzes gegen die Verbände der Krankenkassen im Land Brandenburg als
Vertragspartner der Antragstellerin gerichtet ist und den von der Antragstellerin
ergänzend gestellten Leistungsantrag auf Verurteilung der Antragsgegnerinnen zur –
vorläufigen – Fortsetzung des Vertragsverhältnisses über den 16. Mai 2006 hinaus mit
umfasst, ist zulässig und begründet.
Wie das Sozialgericht im Rahmen seiner Zulässigkeitsprüfung zutreffend ausgeführt hat,
richtet sich die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei der hier gegebenen
Fallkonstellation nicht nach § 86 b Abs. 1 SGG, sondern nach § 86 b Abs. 2 SGG. Denn
im Unterschied zur Kündigung eines Versorgungsvertrages über die Erbringung von
Pflegesachleistungen gemäß § 74 Abs. 3 des Elften Buches des Sozialgesetzbuches ist
die hier in Rede stehende Kündigung trotz der ihr am Ende angefügten
Rechtsbehelfsbelehrung nicht als Verwaltungsakt, sondern als öffentlich-rechtliche
Willenserklärung zu qualifizieren, weil es sich bei dem Versorgungsvertrag, um dessen
fristlose Kündigung es geht, um einen öffentlich-koordinationsrechtlichen Vertrag
zwischen gleichgestellten Rechtssubjekten im Sinne der §§ 53 ff. des Zehnten Buches
des Sozialgesetzbuches (SGB X) handelt (vgl. BSG SozR 3 – 2500 § 132 a Nr. 4 sowie
BSG SozR 3 – 3300 § 77 Nr. 2). Diese Willenserklärung ist, will der Erbringer von
Leistungen der häuslichen Krankenpflege (Pflegedienst) die Fortsetzung des
Vertragsverhältnisses erreichen, in der Hauptsache mit der Feststellungsklage zu
bekämpfen (vgl. BSG SozR 3 – 3300 § 77 Nr. 2). Dies schlägt auf das vorläufige
Rechtsschutzverfahren durch.
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist der zulässige Feststellungsantrag auch
begründet. Denn die Antragstellerin hat für ihr mit diesem Antrag verfolgtes Begehren
sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund mit der für die
Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft
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Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft
gemacht.
Nach der im hiesigen Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes allein
gebotenen summarischen Prüfung erweist sich die mit Schreiben vom 12. Mai 2006
ausgesprochene, der Antragstellerin am 16. Mai 2006 zugegangene, fristlose Kündigung
des Versorgungsvertrages als unwirksam. Rechtsgrundlage für sie sind die §§ 35, 36 des
Versorgungsvertrages in Verbindung mit § 59 SGB X. Hiernach kann das
Vertragsverhältnis schriftlich unter Angabe von Gründen von den vertragsschließenden
Verbänden der Krankenkassen im Land Brandenburg – nach grundsätzlich
durchgeführtem Anhörungsverfahren (vgl. § 35 des Versorgungsvertrages) – ohne
Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn der Pflegedienst seine
gesetzlichen oder vertraglichen Pflichten gegenüber den Versicherten oder den
Krankenkassen derart gröblich verletzt, dass ein Festhalten an dem Versorgungsvertrag
nicht zumutbar ist. Eine Pflichtverletzung im vorgenannten Sinne liegt u. a. vor bei
schwerwiegenden pflegebedingten Qualitätsmängeln, deretwegen Versicherte zu
Schaden kommen können (§ 36 Abs. 1 Satz 2 Buchst. c des Versorgungsvertrages), bei
wiederholt festgestellten Mängeln im Rahmen von Qualitätsprüfungen im Sinne des § 29
des Versorgungsvertrages (§ 36 Abs. 1 Satz 2 Buchst. d des Versorgungsvertrages)
sowie dann, wenn der Pflegedienst einer Anhörung im Sinne des § 35 Abs. 2 des
Versorgungsvertrages nicht innerhalb einer Frist von 3 Wochen nach Zugang des
Anhörungsschreibens Folge leistet (§ 35 Abs. 2 Satz 3 des Versorgungsvertrages).
Den vorgenannten Bestimmungen wird die hier in Rede stehende fristlose Kündigung
nicht gerecht. Hierbei bestehen bereits Zweifel daran, ob die Kündigung – wie nach § 36
Abs. 1 Satz 1 des Versorgungsvertrages erforderlich – von den im Rubrum als
Antragsgegnerinnen zu 1) bis 6) aufgeführten Verbänden der Krankenkassen als
Vertragspartner der Antragstellerin ausgesprochen worden ist. Denn die Kündigung ist
zwar im Text des Kündigungsschreibens als solche der „Krankenkassen(-verbände)“
bezeichnet worden, weist jedoch in ihrer Kopfzeile die – aus den Antragsgegnerinnen zu
1) bis 6) bestehende – „Arbeitsgemeinschaft der Krankenkassen im Land Brandenburg“
(Arbeitsgemeinschaft) als Verfasserin sowie am Ende eine nicht eindeutig zuordenbare
Unterschrift auf, ohne dass in dem Kündigungsschreiben selbst oder in sonstigen
Schriftstücken klargestellt worden wäre, ob und inwieweit die Arbeitsgemeinschaft
berechtigt gewesen sein könnte, die Kündigung für die Verbände der Krankenkassen im
Land Brandenburg als Vertragspartner der Antragstellerin auszusprechen. Diese Zweifel,
die sich auch anhand des sonstigen Akteninhalts nicht ausräumen lassen, können
jedoch auf sich beruhen, weil sich die Kündigung bei summarischer Prüfung jedenfalls
aus sonstigen Gründen als unwirksam erweist.
So fehlt es hier bereits an einer ordnungsgemäßen Anhörung im Sinne von § 35 Abs. 2
des Versorgungsvertrages, an die wegen des in § 35 Abs. 2 Satz 1, Halbsatz 2 des
Versorgungsvertrages enthaltenen Hinweises auf die Anwendbarkeit von § 24 SGB X
sowie vor allem wegen der in § 35 Abs. 2 Satz 2 des Versorgungsvertrages geregelten
Verpflichtung des Pflegedienstes, der Anhörung innerhalb einer Frist von 3 Wochen Folge
zu leisten, und der für den Fall des Verstoßes gegen die vorgenannte Verpflichtung in §
35 Abs. 2 Satz 3 des Versorgungsvertrages vorgesehenen Möglichkeit zur fristlosen
Kündigung des Versorgungsvertrages durch die Verbände der Krankenkassen im Land
Brandenburg strenge Anforderungen zu stellen sind. Hiernach setzt eine
ordnungsgemäße Anhörung im vorgenannten Sinne voraus, dass die Vertragspartner
des Pflegedienstes, d. h. die Verbände der Krankenkassen im Land Brandenburg, dem
Pflegedienst schriftlich nicht nur die beabsichtigte Maßnahme als solche, sondern alle
entscheidungserheblichen Tatsachen, auf die die fristlose Kündigung gestützt werden
soll, im Einzelnen nachvollziehbar darlegen, um den Pflegedienst in die Lage zu
versetzen, sich hiermit sachgerecht auseinanderzusetzen. Abgesehen davon, dass das
maßgebliche Anhörungsschreiben vom 7. März 2006 ebenso wie die Kündigung selbst
von der hierzu möglicherweise nicht legitimierten Arbeitsgemeinschaft verfasst worden
ist, lässt sich eine derartige Darlegung von Tatsachen hier nicht feststellen. Denn dieses
Anhörungsschreiben erschöpft sich insoweit in dem Hinweis, dass die Maßnahmen aus
den vorhergehenden Prüfungen laut Bericht des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK) vom 11. Januar 2006 immer noch
nicht adäquat umgesetzt seien. Dieser Hinweis reicht für eine ordnungsgemäße
Anhörung nicht aus, weil damit keine nach Art, Zeit und Ort zuordenbaren
Pflichtverletzungen aufgezeigt werden, zu denen die Antragstellerin konkret hätte
Stellung nehmen können. Hierbei kann dahinstehen, ob in der Anhörung selbst die
entscheidungserheblichen Tatsachen aufgeführt werden müssen oder ob insoweit der
Verweis auf ein sonstiges Schriftstück genügt. Denn jedenfalls müssten sich dem in
Bezug genommenen Schriftstück die maßgeblichen Tatsachen eindeutig entnehmen
lassen. Dies ist hier nicht der Fall, weil der in der Anhörung vom 7. März 2006 in Bezug
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lassen. Dies ist hier nicht der Fall, weil der in der Anhörung vom 7. März 2006 in Bezug
genommene Bericht des MDK auf insgesamt 20 Seiten (ohne Anlagen) nur sehr
allgemein gehaltene Feststellungen enthält, die eine genaue Bezeichnung von Mängeln
vermissen lassen und für den MDK im Ergebnis nur Anlass gewesen sind, (wohl) dem
Pflegedienst in abstrakter Form insgesamt 13 qualitätssichernde Maßnahmen zu
empfehlen.
Überdies erweist sich die fristlose Kündigung bei summarischer Prüfung aber auch
deshalb als unwirksam, weil auch das Kündigungsschreiben selbst nicht in überprüfbarer
Weise erkennen lässt, auf welche konkreten Tatsachen/Pflichtverletzungen die Kündigung
gestützt worden ist. Denn dieses Schreiben enthält unter Bezugnahme auf die
nachfolgend benannten Unterlagen nur eine abstrakte Zusammenfassung dessen, was
der MDK in seinem oben bereits als nicht ausreichend qualifizierten Bericht vom 11.
Januar 2006 sowie in seinen früheren Berichten vom 6. Oktober 2004 und 15. Juni 2005
ausgeführt hat, mit denen ebenfalls nur qualitätssichernde Maßnahmen empfohlen, aber
keine konkreten Pflichtverletzungen aufgezeigt worden sind. Letzteres gilt im Übrigen
auch für die von den Antragsgegnerinnen zu 1) bis 6) erst im Laufe des vorläufigen
Rechtsschutzverfahrens angeführten Auszüge aus drei so genannten
Regelbegutachtungen des MDK aus dem Jahre 2005 sowie erst recht für den Vermerk
über eine anonyme Anzeige aus dem Jahr 2004, weil auch sie keine im Einzelnen
nachprüfbaren Tatsachen enthalten. Davon abgesehen hätten hieraus abzuleitende
Pflichtverletzungen auch für die hier in Rede stehende Kündigung keine Relevanz, weil die
Kündigung auf sie nicht gestützt worden ist.
Ob der Antragstellerin Pflichtverletzungen vorgeworfen werden können, die eine fristlose
Kündigung des Versorgungsvertrages rechtfertigen könnten, ist durch das Gericht nicht
zu prüfen. Denn dieses ist insbesondere vor dem Hintergrund, dass der
Kündigungsausspruch unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (vgl.
hierzu auch die von den Vertragsparteien in § 35 des Versorgungsvertrages getroffene
Vereinbarung) im Ermessen der Verbände der Krankenkassen steht, nicht gehalten, den
Fall von sich aus auf mögliche Kündigungsgründe zu untersuchen. Vielmehr ist es -
grundsätzlich - auf die Überprüfung der geltend gemachten Kündigungsgründe
beschränkt. Soweit etwas anderes ausnahmsweise nur dann gelten könnte, wenn ein
Kündigungsgrund evident feststünde und sein Vorliegen eine Fortsetzung des
Vertragsverhältnisses unter jedem denkbaren Gesichtspunkt ausgeschlossen
erscheinen ließe, ist hierfür nach Lage der Akten kein Raum.
Schließlich erweist sich die mit Schreiben vom 12. Mai 2006 ausgesprochene fristlose
Kündigung bei summarischer Prüfung auch insoweit als unwirksam, als sie auf (nach den
obigen Ausführungen ohnehin nicht hinreichend dargelegte) Kündigungsgründe gestützt
worden ist, die im Rahmen der Prüfung durch den MDK im September 2004 zu Tage
getreten sein sollen. Denn mit der Geltendmachung dieser Kündigungsgründe sind die
Verbände der Krankenkassen präkludiert, weil sie sich nur auf solche Kündigungsgründe
berufen dürfen, die in der Zeit nach Abschluss des (nach Lage der Akten letzten)
Versorgungsvertrages vom 31. Januar 2005 bekannt geworden sind. Schließen die
Verbände der Krankenkassen in Kenntnis bestehender Kündigungsgründe einen neuen
Versorgungsvertrag ab, kommt - abgesehen von Extremfällen - ein späterer Rückgriff
auf diese Kündigungsgründe nicht mehr in Betracht, weil der Pflegedienst bei dieser
Sachlage auf den Fortbestand des neu begründeten Vertragsverhältnisses vertrauen
darf.
Anders als das Sozialgericht gemeint hat, besteht für den Erlass der begehrten
einstweiligen Anordnung im vorliegenden Fall im Lichte von Art. 19 Abs. 4 des
Grundgesetzes auch ein Anordnungsgrund, weil die Versagung vorläufigen
Rechtsschutzes für die Antragstellerin zu unwiederbringlichen Nachteilen führen würde.
Denn sie könnte das ihr bei summarischer Prüfung zustehende Recht auf Feststellung,
dass die fristlose Kündigung unwirksam ist, wegen Zeitablaufs in einem eventuellen
Hauptsacheverfahren nicht mehr effektiv durchsetzen. Darüber hinaus erscheint dem
Senat nicht zweifelhaft, dass der Antragstellerin ohne die begehrte Feststellung auch in
finanzieller Hinsicht wesentliche Nachteile drohen, die die Vernichtung ihrer
wirtschaftlichen Existenz zur Folge haben können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1
der Verwaltungsgerichtsordnung und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache
selbst.
Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 197 a Abs. 1
SGG in Verbindung mit §§ 52, 63 des Gerichtskostengesetzes. Hiernach war der
Streitwert auf 7.500,00 € festzusetzen, was der Hälfte des Streitwerts der Hauptsache
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Streitwert auf 7.500,00 € festzusetzen, was der Hälfte des Streitwerts der Hauptsache
entspricht. Insoweit sind die aus dem Versorgungsvertrag erzielbaren Einnahmen für die
Zeit vom 16. Mai 2006 (Zugang der fristlosen Kündigung) bis zum 31. Dezember 2006
(Eintritt der inneren Wirksamkeit der hilfsweise ausgesprochenen fristgemäßen
Kündigung) zugrunde zu legen, die nach den Angaben der Antragstellerin 2.000,00 €
monatlich betragen.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden (§ 177 SGG).
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