Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 25.10.2004

LSG Berlin und Brandenburg: ddr, zugehörigkeit, inhaber, invalidität, beratung, versorgung, verfassungsrecht, totalrevision, begünstigung, wiedervereinigung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 25.10.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 3 RA 3829/03
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 16 RA 57/04
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Februar 2004 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
I.
Streitig ist, ob die Beklagte als Versorgungsträger für das Zusatzversorgungssystem der Anlage 1 Nr. 1 zum
Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG) verpflichtet ist, für Beschäftigungszeiten des Klägers vom
1. Januar 1971 bis 31. Mai 1989 Zeiten der Zugehörigkeit zur Altersversorgung der technischen Intelligenz (AVTI)
sowie die entsprechenden Arbeitsverdienste festzustellen.
Der 1944 in Polen geborene Kläger war in der früheren Deutschen Demokratischen Republik (DDR) berechtigt, die
Berufsbezeichnung "Ingenieur" zu führen (Urkunde der Ingenieurschule für Bauwesen E vom 30. September 1977;
Schreiben des Ministerrates der DDR an den Kläger vom 3. Dezember 1973). Er war ab 1. Januar 1971 wie folgt
beschäftigt: bis 31. August 1975 als Bauleiter beim Kombinat Volkseigener Betrieb (VEB) Halbleiterwerk
Frankfurt/Oder, vom 1. September 1975 bis 1. Januar 1979 beim VEB Gebäudewirtschaft Frankfurt/Oder (Bauleiter),
vom 2. Januar 1979 bis 31. Dezember 1988 beim VEB Ingenieurbüro für Rationalisierung (infra) Frankfurt/Oder
(Projektingenieur) und vom 1. Januar 1989 bis zum Verlassen der DDR am 28. Mai 1989 beim VEB Wohnungs- und
Gesellschaftsbaukombinat Frankfurt/Oder (Projektant).
Mit Bescheid vom 6. März 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 2003 lehnte die Beklagte
die Feststellung von Zeiten der Zugehörigkeit des Klägers zur AVTI vom 1. Januar 1971 bis zum 30. Juni 1989 ab mit
der Begründung, dass am 30. Juni 1990 keine Beschäftigung ausgeübt worden sei, die aus bundesrechtlicher Sicht
dem Kreis der obligatorisch Versorgungsberechtigten zuzuordnen sei.
Mit der Klage hat der Kläger beantragt, die Beklagte zu verpflichten, die Zeit vom 1. Januar 1971 bis zum 31. Mai
1989 als Zeit der Zugehörigkeit zum Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum AAÜG sowie die in diesem
Zeitraum tatsächlich erzielten Arbeitsentgelte festzustellen. Das Sozialgericht (SG) Berlin hat diese Klage mit Urteil
vom 23. Februar 2004 abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet. Der Kläger habe
gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Feststellung der im Klageantrag genannten Daten. Denn er habe am
Stichtag, dem 30. Juni 1990, tatsächlich keine Beschäftigung bei einem VEB mehr innegehabt.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er trägt vor: Die auf den Stichtag des 30. Juni 1990
abstellende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) führe zu zufälligen, wenn nicht gar willkürlichen
Ergebnissen. Sie werde auch dem Grundgedanken des Einigungsvertrages (EV) nicht gerecht.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Februar 2004 und den Bescheid der Beklagten vom 6. März 2003 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bestand
einer Versorgungsberechtigung des Klägers im Sinne von § 1 Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz zum
1. August 1991 sowie den Zeitraum vom 1. Januar 1971 bis 31. Mai 1989 als Zeit der Zugehörigkeit zum
Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz und die in
diesem Zeitraum tatsächlich erzielten Arbeitsentgelte festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die zum Verfahren eingereichten Schriftsätze Bezug
genommen.
Die Akte der Beklagten und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.
II.
Das Gericht hat gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Berufung durch Beschluss zurückweisen
können, weil es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat.
Die Beteiligten sind hierzu vorher gehört worden (§ 153 Abs. 4 Satz 2 SGG).
Die Berufung des Klägers ist nicht begründet.
Der Kläger hat keinen mit der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) durchsetzbaren Anspruch
gemäß § 8 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 AAÜG auf Feststellung von Zeiten der Zugehörigkeit zum
Zusatzversorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum AAÜG sowie gegebenenfalls der entsprechenden Arbeitsentgelte
gemäß § 8 Abs. 2 AAÜG. Damit scheidet zugleich die begehrte Status-Feststellung durch die Beklagte aus, dass er
zum 1. August 1991 eine Versorgungsberechtigung im Sinne von § 1 AAÜG innehatte.
Das AAÜG ist auf den Kläger schon deshalb nicht anwendbar, weil er zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des AAÜG
am 1. August 1991 keinen Versorgungsanspruch im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG hatte. Denn der
Versorgungsfall (des Alters oder der Invalidität) war bis zu diesem Zeitpunkt nicht eingetreten. Der Kläger war aber
auch am 1. August 1991 nicht Inhaber einer Versorgungsanwartschaft im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG. Denn er
hatte - unstreitig - bis zum 30. Juni 1990 eine Versorgungszusage in der DDR nicht erhalten und ihm war auch nicht
im Rahmen einer Einzelentscheidung eine Versorgung zugesagt worden.
§ 1 Abs. 1 AAÜG ist zwar im Wege verfassungskonformer Auslegung dahin auszulegen, dass den tatsächlich
einbezogenen Personen diejenigen gleichzustellen sind, die aus bundesrechtlicher Sicht auf Grund der am 30. Juni
1990 gegebenen Sachlage einen (fiktiven) Anspruch auf Erteilung einer Versorgungszusage gehabt hätten (ständige
Rechtsprechung des BSG: vgl. z.B. Urteile vom 9. April 2002 - B 4 RA 31/01 R = SozR 3-8570 § 1 Nr. 2 und B 4 RA
3/02 R = SGb 2002, 379 sowie B 4 RA 18/01 R nicht veröffentlicht). Ein derartiger fiktiver Anspruch ist aber nur dann
zu bejahen, wenn am maßgeblichen Stichtag (30. Juni 1990) eine Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt worden ist,
wegen der ihrer Art nach eine zusätzliche Altersversorgung in dem betreffenden Versorgungssystem vorgesehen war
(ständige Rechtsprechung: vgl. z.B. BSG, Urteil vom 10. April 2002 - B 4 RA 32/01 R = SGb 2002, 380).
Letzteres ist indes nicht der Fall. Der Kläger hatte am 30. Juni 1990 tatsächlich keine entgeltliche Beschäftigung mehr
ausgeübt, wegen der ihrer Art nach in der DDR eine zusätzliche Altersversorgung im Zusatzversorgungssystem Nr. 1
der Anlage 1 zum AAÜG vorgesehen war. Er war vielmehr am Stichtag überhaupt nicht mehr in der DDR beschäftigt
und hielt sich dort auch nicht mehr auf, sondern in B (). Ohne eine tatsächliche Beschäftigung in der DDR am 30. Juni
1990 konnte der Kläger aber nicht die erforderlichen Voraussetzungen für einen fiktiven Anspruch auf Erteilung einer
Versorgungszusage nach der AVTI erfüllen. Aus welchen Gründen der Kläger die DDR verlassen hat, kann hierbei
keine Rolle spielen. Denn es kommt insoweit nur auf die tatsächliche Sachlage hinsichtlich einer am Stichtag
vorliegenden, der Berufsbezeichnung entsprechenden Beschäftigung oder Tätigkeit in einem insoweit geeigneten
Betrieb an (vgl. hierzu zuletzt BSG, Urteil vom 29. Juli 2004 - B 4 RA 12/04 R - nicht veröffentlicht).
Da es für die Anwendbarkeit des AAÜG ausschließlich auf die am 30. Juni 1990 gegebene Sachlage ankommt, ist es
bundesrechtlich auch unerheblich, ob der Kläger bis zum Verlassen der DDR am 28. Mai 1989 in einem volkseigenen
Produktionsbetrieb der Industrie und des Bauwesens oder einem gleichgestellten Betrieb beschäftigt war.
Andere Rechtsgrundlagen, auf die der Kläger sein Begehren stützen könnte, sind nicht ersichtlich. Insbesondere
verstößt es nicht gegen Verfassungsrecht, dass der Bundesgesetzgeber an die im Zeitpunkt der Wiedervereinigung
vorgefundene Ausgestaltung der Versorgungssysteme der DDR und deren Differenzierung angeknüpft hat (vgl.
BVerfG, Beschluss vom 4. August 2004 - 1 BvR 1557/01 -). Denn der Gleichbehandlungsgrundsatz des Artikels 3
Grundgesetz gebietet es nicht, von den historischen Gegebenheiten der DDR, aus denen sich Ungleichheiten ergeben
könnten, abzusehen und sie rückwirkend zu Lasten der heutigen Beitrags- und Steuerzahler auszugleichen. Die
Begünstigung der zum Zeitpunkt der Schließung der Zusatzversorgungssysteme am 30. Juni 1990 Einbezogenen hat
der Bundesgesetzgeber als ein Teilergebnis der Verhandlungen im EV angesichts der historischen Bedingungen
hinnehmen dürfen (vgl. BVerfGE 100, 138, 190 = SozR 3-8570 § 7 Nr. 1). Zu einer "Totalrevision" des aus der DDR
stammenden Versorgungsrechts war er über die mit der ständigen Rechtsprechung des BSG vorgenommene
Modifikation von § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG hinaus nicht verpflichtet (vgl. BSG SozR 3-8570 § 1 Nr. 2; BSG, Urteil vom
18. Juni 2003 - B 4 RA 1/03 R - nicht veröffentlicht; siehe dazu jetzt auch BVerfG, Beschluss vom 8. September 2004
-1 BvR 1697/02).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1
oder 2 SGG liegen nicht vor.