Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 19.01.2009

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 1.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 1 SF 220/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 60 SGG, § 42 Abs 1 ZPO, § 43
ZPO, § 42 Abs 2 ZPO
Sozialgerichtliches Verfahren - Ablehnung wegen Befangenheit -
Richter - Dauer des gerichtlichen Verfahrens
Leitsatz
Allein auf die Dauer eines gerichtlichen Verfahrens kann ein Befangenheitsantrag nicht
erfolgreich gestützt werden unabhängig von der Ursache der zeitlichen Verzögerung.
Unbeantwortete Sachstandsanfrage bzw. die Nichtweiterleitung von Schriftsätzen müssen
unverzüglich gerügt werden andernfalls geht das Ablehnungsrecht verloren
Tenor
Das Gesuch der Antragstellerin den Richter am Sozialgericht wegen Besorgnis der
Befangenheit abzulehnen wird zurückgewiesen.
Gründe
Gemäß § 60 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 42 Abs. 1 und 2 Zivilprozessordnung
findet die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein
Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu
rechtfertigen. Dies ist der Fall, wenn ein am Verfahren Beteiligter von seinem
Standpunkt aus bei objektiver und vernünftiger Betrachtung davon ausgehen darf, dass
der Richter nicht unvoreingenommen entscheiden werde. Die nur subjektive Besorgnis,
für die bei Würdigung der Tatsachen vernünftigerweise kein Grund ersichtlich ist, ist
dagegen nicht Maßstab der Prüfung.
Dies zugrunde gelegt hat die Antragstellerin hier keinen Grund glaubhaft gemacht, der
Anlass bieten könnte, an der Unparteilichkeit des Richters zu zweifeln.
Die Antragstellerin bemängelt hier in erster Linie die lange Dauer des Verfahrens.
Sie hat am 11. Oktober 2005 bei dem Sozialgericht Berlin Klage erhoben, verbunden mit
einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der
Klagefrist.
Beide Anträge mit Begründung wurden von dem abgelehnten Richter zeitnah der
Antragsgegnerin und Beklagten in diesem Klageverfahren zur Stellungnahme übersandt.
Auf deren Stellungnahme hin beantragten die Bevollmächtigten der Antragstellerin
Akteneinsicht zur weiteren Klagebegründung. Die Akteneinsicht wurde ebenfalls zeitnah
gewährt und erfolgte im Januar 2006.
Eine weitergehende Begründung der Klage und des Antrags auf Wiedereinsetzung
erfolgte dann im April 2006.
Diese Begründung wurde wiederum zeitnah der Beklagten zur Stellungnahme
übersandt, welche im Mai 2006 erfolgte. Diese Stellungnahme, in der die Beklagte auf
widersprüchliche Angaben der Antragstellerin im jetzigen Verfahren und im
Entschädigungsverfahren hinwies, wurde den Bevollmächtigten der Antragstellerin
unverzüglich zur Stellungnahme übermittelt verbunden mit der Nachricht an die
Antragstellerin, es werde „demnächst über den Wiedereinsetzungsantrag“ entschieden.
Deren Stellungnahme vom Juni 2006 wurde ebenfalls mit dem Vermerk, es werde
demnächst über den Wiedereinsetzungsantrag entschieden zeitnah an die Beklagte zur
freigestellten Stellungnahme übersandt.
Auf den zuletzt genannten Vermerk des Richters abstellende Anfragen der
Bevollmächtigten der Antragstellerin vom 21. September 2006 und 23. November 2006
wurden durch den Richter nicht beantwortet.
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Eine erneute Anfrage der Bevollmächtigten der Antragstellerin erfolgte dann erst wieder
im Juli 2008. Hierauf antwortete der Richter wieder zeitnah Anfang August und teilte mit,
es werde nunmehr über die Wiedereinsetzung „kurzfristig“ entschieden. In gleicher
Weise wurde eine Sachstandsanfrage der Beklagten beantwortet.
Mit Beschluss vom 17. Oktober 2008 wurde sodann der Antrag auf Wiedereinsetzung
abgelehnt, nachdem der Richter zuvor noch bei der Beklagten angefragt hatte, ob diese
bereit sei, die Klageschrift als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X zu werten. Dieser
Anregung kam die Beklagte nach (Schriftsatz vom 28. 10. 2008).
Diesen Sachverhalt zugrunde gelegt besteht auch aus Sicht der Antragstellerin bei
objektiver und vernünftiger Betrachtung nicht zuletzt auch im Hinblick auf die in der
Öffentlichkeit bekannte Überlastung gerade des Sozialgerichts Berlin noch kein Grund
zur Annahme, der Richter werde sein Amt nicht unparteilich ausüben.
Die Dauer eines gerichtlichen Verfahrens belastet alle Prozessbeteiligten gleichermaßen
und begründet für sich genommen keinen Anhaltspunkt für die Annahme, der Richter
stehe dem einen oder anderen Beteiligten nicht mit der gebotenen Neutralität und
Unbefangenheit gegenüber. Dies gilt auch dann, wenn der antragstellende Beteiligte ein
besonderes Interesse an einer beschleunigten Sachentscheidung hat und ihm der seit
Verfahrensbeginn verstrichene Zeitraum unerklärlich lang erscheint (vgl. OLG
Düsseldorf, MDR 1998, 1052). Es ist vielmehr Sache des Gerichts, nach seinem
Ermessen darüber zu befinden, in welcher Weise das Verfahren in dem Zeitraum von der
Klageerhebung bis zur Entscheidung zu fördern ist (vgl. OVG Münster, NJW 1993, 2259).
Dementsprechend hat der Gesetzgeber einen Ablehnungsgrund der
Verfahrensverzögerung nicht in die Befangenheitsvorschriften aufgenommen und
inzwischen selbst für das schiedsgerichtliche Verfahren den Ablehnungsgrund der
ungebührlichen Verzögerung im Gegensatz zu der früheren Regelung des § 1032 Abs.2
ZPO in der ab 01.01.1998 geltenden Fassung durch Art.1 Nr.6 des Gesetzes zur
Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts vom 22.12.1997 (BGBl.1997 I S.3224) nicht
mehr normiert.
Auch in dem von den Bevollmächtigten der Antragstellerin zitierten Fall des LSG
Niedersachsen- Bremen (NZS 1994-nicht 1964-S. 575 ff.) stand nicht die reine zeitliche
Verzögerung im Vordergrund sondern die darüber hinausgehende Untätigkeit des
Gerichts, die sich in der Nichtbeantwortung von Sachstandsanfragen und
Nichtweiterleitung von Schriftsätzen äußerte. So liegt der Fall hier jedoch nicht.
Die allenfalls vergleichbare Nichtbeantwortung der Anfragen vom 21. September und 23.
November 2006 haben die Bevollmächtigten hingenommen und sich durch die erneute
Anfrage erst im Juli 2008 ihres Rügerechts begeben. Das Ablehnungsgesuch muss
nämlich alsbald nach Kenntnis des Ablehnungsgrundes bei dem Prozessgericht gestellt
werden; das Recht, den Richter abzulehnen, geht verloren, wenn die Befangenheit nicht
rechtzeitig geltend gemacht wird (§ 60 SGG i. V. m. §§ 42, 43 ZPO, vgl. BSG vom 16. 10.
2003 Az.: B 3 P 16/03 B zit. nach Juris).
Die darauf folgende erneute Verzögerung stellt sich als nicht so ungewöhnlich dar, dass
daraus die Besorgnis der Befangenheit hergeleitet werden könnte. Zumal der Richter
hier zeitnah geantwortet und Abhilfe versprochen hat. Die Bevollmächtigten der
Antragstellerin haben diese weitere Verzögerung auch nicht gesondert gerügt, sondern
erst nachdem ihnen die für sie negative Entscheidung des Gerichts bekannt geworden
war. Es liegt nahe anzunehmen, dass der Inhalt der Entscheidung und nicht die weitere
Verzögerung durch das Gericht, Anlass für das Befangenheitsgesuch war.
Soweit die Bevollmächtigten der Antragstellerin insoweit rügen, dass der abgelehnte
Richter seinen Beschluss „grob unzureichend“ begründet habe, kann dem nicht gefolgt
werden. Ein Richter kann grundsätzlich nicht mit der Begründung, eine verfahrens-
und/oder materiell-rechtlich falsche Entscheidung getroffen zu haben, wegen Besorgnis
der Befangenheit abgelehnt werden. Fehlerhafte Entscheidungen sind vielmehr
ausschließlich mit den gegebenen Rechtsbehelfen anzugreifen, wie das hier mit der
Beschwerde, über die der 6. Senat entscheiden wird, erfolgt ist.
Anders verhielte es sich allerdings, wenn sich der abgelehnte Richter dem begründeten
Verdacht ausgesetzt hätte, eine Willkürentscheidung getroffen zu haben, wovon die
Bevollmächtigten der Antragstellerin hier wohl ausgehen. Dem vermag der Senat jedoch
nicht zu folgen. Selbst eine möglicherweise grob fehlerhafte Entscheidung begründet
noch nicht den Anschein der Willkür. Dass es dem abgelehnten Richter nicht alleine
darum ging, die Sache „vom Tisch haben zu wollen“, wie die Bevollmächtigten der
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darum ging, die Sache „vom Tisch haben zu wollen“, wie die Bevollmächtigten der
Antragstellerin meinen, wird alleine schon daraus deutlich, dass der Richter mit der
Anregung an die Beklagte die Klageschrift als Überprüfungsantrag aufzufassen, einen
Weg gewiesen hat, der zur inhaltlichen Überprüfung des Begehrens der Antragstellerin
führen kann, selbst wenn sich der Wiedereinsetzungsantrag als unbegründet
herausstellen sollte. Schließlich widerspricht diesem Gedanken der Bevollmächtigten der
Antragsteller auch, dass der Richter mit seiner Entscheidung gerade eine
Verfahrensweise gewählt hat, die es nicht ausschließt, dass er die Sache noch einmal
auf „den Tisch“ bekommt. Hätte er dagegen, was aus seiner Sicht ohne weiteres
möglich gewesen wäre, über den Klageanspruch nach § 105 SGG durch
Gerichtsbescheid entschieden, wäre seine weitere Befassung, abgesehen vom Fall einer
Zurückverweisung durch das LSG, ausgeschlossen und auch dem Befangenheitsgesuch
der Boden entzogen gewesen.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden (§ 177 SGG).
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