Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 21.11.2003

LSG Berlin und Brandenburg: psychoorganisches syndrom, rente, depression, befund, wechsel, urlaub, persönlichkeitsstörung, anfang, erwerbstätigkeit, neurologie

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 21.11.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 32 RJ 1592/00
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 1 RJ 26/02
Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers im
Berufungsverfahren zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist ein Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Der 1944 geborene Kläger erlernte den Beruf des Steinsetzers (1960 bis 1963) und übte bis Mai 1996 ausschließlich
diesen Beruf aus. Anschließend bezog er Leistungen vom Arbeitsamt. Von März 1997 an war er wegen erheblicher
degenerativer Wirbelsäulenveränderungen mit rezidivierender Lumbago arbeitsunfähig krankgeschrieben. Die Beklagte
gewährte ihm für die Zeit vom 8. Oktober bis 5. November 1997 medizinische Leistungen zur Rehabilitation (Reha).
Der Kläger wurde aus dem Heilverfahren als arbeitsfähig entlassen. Im erlernten Beruf könne er im Hinblick auf die
festgestellten Leiden (Lumbago, Zervikalgie und Übergewicht) zwar nur noch halb- bis untervollschichtig eingesetzt
werden, körperlich mittelschwere Arbeiten seien ihm jedoch noch vollschichtig möglich
(Heilverfahrensentlassungsbericht vom 5. November 1997). Dieser Auffassung schloss sich im Wesentlichen auch
das Arbeitsamt an. Gegen die Ausübung der bisherigen Tätigkeit bestünden arbeitsmedizinische Bedenken
(arbeitsamtsärztliches Gutachten vom 17. Januar 1998).
Auf seinen erneuten Reha-Antrag vom 6. Juli 1998 ließ die Beklagte den Kläger von dem Praktischen Arzt und
Chirurgen Dr. R untersuchen, der zum Ergebnis kam, dass der Kläger seinen Beruf als Steinsetzer nicht mehr werde
aufnehmen können. Für leichte körperliche Arbeit in wechselnder Körperhaltung bestehe jedoch ein vollschichtiges
Leistungsvermögen. Eine berufliche Neuorientierung könne sich der Kläger konkret nicht vorstellen (Gutachten vom
16. August 1999). Daraufhin lehnte die Beklagte den Reha-Antrag mit der Begründung ab, die Reha-Voraussetzungen
seien nicht erfüllt, weil der Kläger berufs- oder erwerbsunfähig und eine erfolgreiche Reha nicht zu erwarten sei. Der
Reha-Antrag gelte als Rentenantrag.
Durch Bescheid vom 24. Februar 2000 bewilligte die Beklagte dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit. Die Rente
beginne am 1. Juli 1998. Ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bestehe nicht.
Mit dem Widerspruch machte der Kläger geltend, er sei nicht nur berufsunfähig, sondern auch erwerbsunfähig. Der ihn
seit Januar 2000 behandelnde Arzt, der Allgemeinmediziner Dr. B attestierte unter dem 12. April 2000, dass der
Kläger an Depressionen, somatoformem Schmerzzustand und Schlafstörungen leide. Die festgestellten Krankheiten
gingen einher mit Trauerzustand, sozialem Rückzug, Affektlabilität, multiplen Ängsten, depressiven Schlafstörungen
und Konzentrationsstörung. Er könne auch leichte Arbeiten nicht mehr ganztätig ausführen.
Die den Kläger untersuchende Ärztin für Neurologie und Psychiatrie W stellte bei ihm eine Anpassungsstörung mit
subdepressiver Verstimmtheit und mit neurasthenischer Symptomatik sowie chronische Lumbalgien, ohne
neurologisches Korrelat, fest. Der Kläger habe im Zusammenhang mit der längeren Arbeitslosigkeit und dem Tod der
Eltern, die er zusammen mit seiner Partnerin zum großen Teil gepflegt habe, über eine leichte Lethargie, Einbußen der
Vitalgefühle, Potenzstörungen und eine rasche psychische und physische Erschöpfbarkeit berichtet. Unter
Berücksichtigung des Vorgutachtens sei sein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit den
angegebenen Einschränkungen wirtschaftlich noch vollschichtig verwertbar (Gutachten vom 23. Mai 2000).
Nachdem die Beklagte dem Widerspruch des Klägers wegen der auch beanstandeten Rentenberechnung durch
Neufeststellungsbescheid vom 23. Juni 2000 abgeholfen hatte, wies sie ihn im Übrigen im Hinblick auf die getroffenen
medizinischen Feststellungen durch Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 2000 zurück.
Das dagegen angerufene Sozialgericht (SG) Berlin holte Befundberichte der behandelnden Ärzte (Allgemeinmediziner
Dr. B und Dr. Sch, HNO-Ärztin H und Orthopäde B) ein. Dr. B vertrat erneut die Auffassung, dass der Kläger aufgrund
seiner Depression nicht in der Lage sei, körperlich leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten. Die zur gerichtlichen
Sachverständigen ernannte Arbeitsmedizinerin Dr. F stellte beim Kläger Übergewicht, schmerzhaften
Aufbrauchschaden der Brust- und Lendenwirbelsäule mit Nervenwurzelreizzuständen, schmerzhafte
Verschleißerscheinungen des linken Schultereckgelenkes mit Engpasssymptomatik des anliegenden
Weichteilgewebes, Anpassungsstörung mit subdepressivem Verstimmungszustand, Schallleitungsstörung
beiderseits, kombinierte Ventilationsstörung, Lebervergrößerung mit Fettinfiltration sowie Kontaktsensibilisierung
gegen Kaliumchromat, Kobaltchlorit und Nickelsulfat mit klinischer Relevanz fest. Der Kläger könne überwiegend
körperlich leichte und zeitweise mittelschwere Arbeiten unter Vermeidung von Arbeiten im Freien unter Einfluss von
Kälte, Feuchtigkeit und Zugluft und mit einseitiger körperlicher Belastung im Wechsel der Haltungsarten noch
vollschichtig verrichten. Dabei kämen Arbeiten in Wechsel- oder Nachtschicht, unter Zeitdruck und mit besonderen
Anforderungen an das Feingehör sowie die Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit nicht in Betracht (Gutachten vom
14. Januar 2001).
Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ließ das SG ein weiteres Gutachten von dem
Neurologen und Psychiater Dipl.-Med. H erstatten. Dieser stellte (nach ICD 10-Klassifikation) eine
Somatisierungsstörung (F 45.0), rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische
Symptome (F 33.2), abhängige (asthenische) Persönlichkeitsstörung (F 60.7), zervikozephales Syndrom (M 53.0)
sowie Lumboischialgie (M 54.4) fest. Er habe gegenüber den vorliegenden ärztlichen Unterlagen neue Befunde
erhoben. Sie drückten sich insbesondere durch eine Erweiterung und Differenzierung eines erheblichen
psychopathologischen Befundes aus. Das Leistungsvermögen des Klägers sei für keine Arbeitsbelastung mehr
ausreichend. Die Einschränkungen bestünden im Wesentlichen seit 1999, wobei es gegenwärtig immer mehr zu einer
Chronifizierung der Symptomatik komme (Gutachten vom 3. September 2001).
Im Hinblick auf kritische Stellungnahmen der Ärztlichen Abteilung der Beklagten (Ärztin für Neurologie und Psychiatrie
Dr. S) zum Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Med. H hat dieser sich unter Beifügung eines
psychodiagnostischen Befundes der klinischen Psychologin Dr. Schn vom 19. Februar 2002 unter dem 28. Februar
2002 und 15. Juli 2002 ergänzend gutachtlich geäußert und an den Ergebnissen seines Gutachtens festgehalten. Dr.
Schn teilte mit, dass sich die Ergebnisse der psychologischen Leistungsdiagnostik im Wesentlichen im
pathologischen Bereich befänden. Testpsychologisch ließen sich mittlere bis schwere Leistungsminderungen
objektivieren. In Verbindung mit den festgestellten Antriebsminderungen lasse sich das Gesamtbild aus
psychologischer Sicht am ehesten als ein psychoorganisches Syndrom beschreiben. Der Kläger sei den
Anforderungen einer Erwerbstätigkeit zur Zeit nicht gewachsen.
Am 16. September 2002 verurteilte das SG die Beklagte unter Änderung der angefochtenen Bescheide und
Klageabweisung im Übrigen, dem Kläger ab September 2001 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren. Der
Kläger sei nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen im Klageverfahren nicht mehr in der Lage, einer
Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dies folge aus der auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet vorliegenden Erkrankung
im Sinne der Somatisierungs- und Funktionsstörung im Zusammenhang mit hirnorganischen Defiziten und reaktiver
depressiver Symptombildung unter Berücksichtigung der in das Erwerbsleben eingebrachten asthenischen
Persönlichkeitsstörung und leichten intellektuellen Beeinträchtigung. Allerdings könne dieses aufgehobene
Leistungsvermögen im Hinblick auf die Vorbegutachtungen nicht schon seit 1999 angenommen werden, sondern in
Würdigung des vom Sachverständigen Dipl.-Med. H in seinem Gutachten festgestellten Chronifizierungsprozesses
erst seit dem zugrunde liegenden Untersuchungszeitpunkt August 2001.
Mit der Berufung hält die Beklagte unter Bezugnahme auf eine weitere Stellungnahme ihrer Ärztlichen Abteilung (vom
5. November 2002) an ihrer Auffassung fest, dass dem dem angefochtenen Urteil zugrunde gelegten Gutachten des
Sachverständigen H und auch der Zusatzdiagnostik von Dr. Schn nicht gefolgt werden könne. Dieser Auffassung
habe sich für die Zeit bis Januar 2001 (Untersuchung durch Dr. F) auch das SG angeschlossen. Gründe für die von
diesem offenbar zum August 2001 angenommene Verschlechterung des Leistungsvermögens des Klägers würden
dann allerdings im Urteil nicht dargelegt. Die Beweiswürdigung durch das SG überzeuge damit nicht und verletze
zugleich § 128 SGG.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. September 2002 zu ändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat eine weitere ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dipl.-Med. H (vom 10. Juli 2003)
eingeholt. Danach sieht sich dieser nicht veranlasst, von seiner in seinem Gutachten gegebenen Beurteilung
abzuweichen. Insbesondere sieht er nicht die von der Ärztlichen Abteilung der Beklagten angenommenen
Widersprüche zwischen seinen diagnostischen Feststellungen und denen der Psychologin Dr. Schn.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (einschließlich der Akte des SG - S 32 RJ
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (einschließlich der Akte des SG - S 32 RJ
1592/00-) und Beklagtenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist unbegründet.
Das SG hat zutreffend entschieden, dass dem Kläger vom 1. September 2001 an Rente wegen voller
Erwerbsminderung zusteht (§ 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch [SGB] VI in der ab 1. Januar 2001 geltenden Fassung). Er
kann (jedenfalls) von diesem Zeitpunkt an nicht mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2
SGB VI) und erfüllt auch die versicherungsrechtlichen Rentenvoraussetzungen (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 in
Verbindung mit Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und §§ 50, 51 SGB VI).
Es erscheint schon fraglich, ob sich die volle Erwerbsminderung des Klägers nicht schon auf der Grundlage des
arbeitsmedizinischen Gutachtens von Dr. F ergibt. Denn bei dem vor der Vollendung des 60. Lebensjahres stehenden
Kläger, der Zeit seines Berufslebens nur grobe Handarbeiten im Freien verrichtet hat und an dessen Anpassungs- und
Umstellungsfähigkeit keine besonderen Anforderungen gestellt werden können, liegen Zweifel auf der Hand, ob es
überhaupt leichte bis zeitweise mittelschwere Arbeiten gibt, die unter Berücksichtigung der weiteren von Dr. F
festgestellten Einschränkungen (praktisch nur in geschlossenen Räumen, nur im Wechsel der Haltungsarten, nur in
Tagesschicht, ohne Zeitdruck) noch seinem Leistungsvermögen entsprechen. Das kann jedoch dahinstehen.
Zu Recht hat das SG sein Urteil jedenfalls auf das neurologisch-psychiatrische Gutachten des Sachverständigen
Dipl.-Med. H und auf den psychodiagnostischen Befund der klinischen Psychologin Dr. Schn gestützt. Die
gutachtlichen Ausführungen des Sachverständigen in Verbindung mit dem Zusatzbefund reichen auch für die
Überzeugungsbildung des Senats aus, dass der Kläger im Erwerbsleben nicht mehr leistungsfähig ist.
Entgegen der Ansicht der Beklagten hat der Sachverständige unter Berücksichtigung des Zusatzbefundes
nachvollziehbar dargelegt, dass beim Kläger nicht nur die bereits von den Vorgutachtern festgestellten schmerzhaften
Aufbrauchschäden und Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule und des Bewegungsapparates sowie die auch von
der Beklagten nicht in Abrede gestellte asthenische Persönlichkeitsstörung vorliegen, sondern darüber hinaus eine
Somatisierungsstörung und ferner kognitive bzw. intellektuelle Leistungsdefizite, die über eine ohnehin unbestritten
vorhandene (nämlich eingebrachte) leichte intellektuelle Beeinträchtigung hinausgehen und sowohl durch eine
rezidivierende depressive Störung als auch hirnorganisch bedingt sind.
Zum Nachvollzug dessen, dass die vom Kläger geschilderten Beschwerden nicht nur auf seine körperlichen Leiden
zurückzuführen sind, sondern auf eine krankheitswertige, willensmäßig und durch ärztliche Hilfe kausal nicht
beeinflussbare Somatisierungsstörung, hat der Sachverständige zum einen auf zahlreiche Anhaltspunkte in den Akten
hingewiesen und zum anderen - und vor allem - darauf, dass dies aus dem Zusammenhang der von ihm erhobenen
eingehenden Anamnese und dem aktuellen, im Gutachten dargestellten psychopathologischen Befund folge. Auch
hinsichtlich der krankheitswertigen Depression hat er etliche Anhaltspunkte in den Akten bezeichnet sowie - vor allem
- die maßgeblichen Kriterien, nämlich depressive Stimmung, Verlust von Interesse und Freude, starke Gehemmtheit,
erhöhte Ermüdbarkeit (nach kleinen Anstrengungen), Selbstwertverlust, Schwierigkeiten, normale Berufstätigkeit und
soziale Aktivitäten fortzusetzen, aufgezeigt.
Die darauf zurückgeführte, nervenärztlich begründete Leistungsminderung des Klägers wird bestätigt durch den von
der Beklagten geforderten und von Dr. Schn durchgeführten psychodiagnostischen (hirnleistungsdiagnostischen)
Befund. Dieser erbrachte pathologische Ergebnisse einerseits im subjektiven Befinden (Klagen über chronische
Schmerzzustände sowie Schlafstörungen). Dies unterstützt die Annahme des gerichtlichen Sachverständigen, dass
der Kläger an einer Somatisierungsstörung leide. Zum anderen erbrachte er pathologische Ergebnisse in den
Bereichen Aufmerksamkeit/Konzentration, Wahrnehmungstempo und sensomotorische Geschwindigkeit. Dies
bestätigt aus psychodiagnostischer Sicht die vom Sachverständigen H im Kontext der depressiven Störung
festgestellten kognitiven Defizite.
Die Überzeugungskraft des nervenärztlichen Gerichtsgutachtens und des psychologischen Zusatzbefundes wird durch
die von der Beklagten gesehenen Widersprüche zwischen beiden nicht durchgreifend in Frage gestellt. Die Beklagte
meint, im Gegensatz zum Sachverständigen H habe Dr. Schn keine depressive Störung erheblicher Ausprägung
festgestellt. Zum anderen habe sie - anders als jener - bei den Gedächtnisleistungen ein Kurzzeitgedächtnis und eine
visuelle Merkfähigkeit im Normbereich vorgefunden. Abgesehen davon, dass sich Letzteres (im Sinne einer
Abweichung von Dipl.-Med. H) nur hinsichtlich des Kurzzeitgedächtnisses sagen lässt, hat der Sachverständige
unwidersprochen ausgeführt, es sei, da der Kläger zu Verdrängungen neige, möglich, dass Dr. Schn den Kläger
hinsichtlich reaktiver Gedächtnisstörungen und Depressionen anders erlebt habe als er. Im Übrigen hat er zu Recht
darauf hingewiesen, dass Dr. Schn lediglich die Aufgabe gehabt habe, den hirnorganischen Leistungszustand als
neuropsychologische Diagnostikerin einzuschätzen, und ihre Ansicht in Sachen Depression lediglich in ihrem
persönlichen Anschreiben vom 23. Februar 2002, das er dem Gericht zusammen mit dem psychodiagnostischen
Befund (vom 19. Februar 2002) übersandt habe, zum Ausdruck gebracht habe. Die Äußerung der Psychologin, eine
Depression von Krankheitswert liege nach ihrer "ganz persönlichen Sichtweise" nicht vor, ist weder
psychodiagnostisch belegt noch stellt sie die mögliche Annahme einer Depression nach neurologisch-psychiatrischen
Kriterien in Abrede.
Wesentlich bleibt, dass sowohl der nervenärztliche Sachverständige als auch die hinzugezogene psychologische
Diagnostikerin übereinstimmend die Leistungsfähigkeit erheblich mindernde kognitive Defizite festgestellt haben. Ob
Dr. Schn, indem sie auch eine Leistungsbeurteilung abgegeben hat, ihre Zuständigkeit - wie die Beklagte meint -
überschritten hat, kann dabei dahinstehen. Jedenfalls hat der fachärztlich berufene Sachverständige H deren
diagnostische Ergebnisse nicht nur im Nachhinein in seine gutachtliche Leistungsbeurteilung mit einbezogen, sondern
in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 10. Juli 2003 auch darauf hingewiesen, dass er die hirnorganischen
Leistungsdefizite schon von Anfang an - wenn auch (wie bereits erwähnt) in anderem Kontext - konstatiert habe.
Allerdings zieht die Beklagte die Schwere der festgestellten kognitiven Defizite damit in Zweifel, dass das Verhalten
des Klägers "bei den Untersuchungen", seine Urlaubsgestaltung und sein Tagesablauf dagegen sprächen. Er sei in
der Lage, sich allein zu versorgen und habe einen sechswöchigen Urlaub "genossen", so dass die mitgeteilte
Antriebsminderung zu relativieren sei. Der Kläger sei nicht auf die Hilfe der Umwelt angewiesen und den
Anforderungen des täglichen Lebensablaufes gewachsen. Damit kann die Beklagte jedoch nicht durchdringen.
Das Verhalten des Klägers bei den Untersuchungen durch Dipl.-Med. H und Dr. Schn begründete gerade deren
Einschätzungen. Entsprechendes gilt für den Tagesablauf des Klägers, soweit dieser ihn anlässlich der Untersuchung
durch Dipl.-Med. H geschildert hat. Er ist in die Gesamtbeurteilung eingeflossen. Der Senat vermag (in
Übereinstimmung mit dem Sachverständigen) nicht zu erkennen, dass die noch erhaltene Fähigkeit des Klägers, das
tägliche Leben allein zu bewältigen, gegen die Schlussfolgerungen des Sachverständigen bzw. der psychologischen
Diagnostikerin sprechen. Gleiches gilt für den dem Anschreiben der Diagnostikerin an Dipl.-Med. H vom 23. Februar
2002 zu entnehmenden Umstand, dass der Kläger Anfang 2002 sechs Wochen im Auslandsurlaub war, so dass die
Untersuchung durch Dr. Schn erst nach dessen Rückkehr stattfinden konnte. Für den Senat ist es nachvollziehbar,
dass der Sachverständige die Mitteilung über diesen Urlaub nicht zum Anlass genommen hat, von seiner
Einschätzung abzurücken. Denn auch ein im Ausland verbrachter Urlaub erlaubt - jedenfalls heutzutage - keine
positive Aussage zum Grad der Lebenstüchtigkeit. Unter Berücksichtigung der Ausführungen des Sachverständigen H
ließe sich der Auslandsurlaub zum Beispiel auch als Flucht vor den Anforderungen des täglichen Lebens deuten.
Auch soweit die Beklagte die Aussagen der Psychologin Dr. Schn durch den Hinweis relativieren möchte, dass diese
nur den Verdacht eines psychoorganischen Syndroms geäußert habe, kann der Senat dem nicht folgen. Wenn Dr.
Schn nach testpsychologisch objektivierten mittleren bis schweren Leistungsminderungen zum Ergebnis gekommen
ist, dass sich in Verbindung mit den festgestellten Antriebsminderungen das Gesamtbild aus psychologischer Sicht
"am ehesten" als ein psychoorganisches Syndrom beschreiben lasse, so handelt es sich hierbei um keine bloße
Verdachtsdiagnose. Es geht vielmehr um das Bemühen, die objektivierten Leistungs- bzw. Antriebsminderungen - auf
die es letztlich für die Frage der Erwerbsminderung allein ankommt - möglichst sachangemessen zu beschreiben.
Soweit sich die Zweifel der Beklagten schließlich in dem Hinweis auf die abweichenden Vorgutachten und
insbesondere darin artikulieren, dass die Nervenärztin W in Bezug auf die umstrittenen Antriebs- und
Leistungsminderungen keinen ausgeprägten Schweregrad habe feststellen können, und es deshalb unwahrscheinlich
sei, dass dieser sich innerhalb von zwei Jahren entwickelt habe, so greifen auch diese Zweifel nicht durch.
Der Senat ist von der Richtigkeit der aktuellen Einschätzungen von Dipl.-Med. H und Dr. Schn jedenfalls deshalb
überzeugt, weil beide - der Nervenarzt und die klinische Psychologin - auf unterschiedlichen (jeweils anerkannten)
Erkenntniswegen zum selben Ergebnis gekommen sind, ohne dass sie - ebenfalls übereinstimmend - irgendwelche
Anzeichen für Simulation oder Aggravation oder neurotisches Rentenbegehren vorgefunden haben. Angesichts
dessen gibt es hinsichtlich der vorangegangenen Einschätzungen zwei Möglichkeiten: Entweder haben sich die
Leistungsdefizite des Klägers - was nicht auszuschließen ist - tatsächlich in relativ kurzer Zeit zu dem
entsprechenden im August 2001 festgestellten Schweregrad entwickelt oder schon die Nervenärztin W hat den
Schweregrad nicht zutreffend erkannt. Wenn das SG im Hinblick darauf den im August 2001 festgestellten
Schweregrad erst mit dem Untersuchungstag für nachgewiesen erachtet und für die Zeit davor die objektive
Beweislast (d.h. die Last der nicht festgestellten vollen Erwerbsminderung) dem Kläger aufgebürdet hat, so ist das
verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden und folgt daraus materiell-rechtlich ein Anspruch auf Rente wegen voller
Erwerbsminderung ab 1. September 2001 (vgl. § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI).
Die Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 SGG entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.