Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 06.10.2010

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 7.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 7 KA 107/06
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 72 Abs 2 SGB 5, § 85 Abs 4
SGB 5
Vertragsärztliche Versorgung - Honorarverteilungsmaßstab -
Kassenärztliche Vereinigung Berlin - Neuberechnung des
Individualbudgets bei Patientenübernahme nach
Praxisschließung im näheren Umfeld
Leitsatz
Eine "Praxisschließung ohne Praxisnachfolge im Umfeld" eines Vertragsarztes im Sinne von §
9 Abs. 9 HVM/Berlin ist auch gegeben, wenn die Praxis des Vertragsarztes sich am Stadtrand
befindet und die Praxisschließung im stadtnahen Brandenburger Umland erfolgt ist; sie kann
bei erfolgter Patientenübernahme zum Anspruch auf Neuberechnung des Individualbudgets
führen.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
Berlin vom 28. Juni 2006 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über das Individualbudget des Klägers in den Quartalen III/2003
bis II/2004. Umstritten ist dabei, ob die Übernahme von Patienten aus der
geschlossenen Praxis eines anderen KV-Bereichs dazu führen kann, das Individualbudget
des die Patienten übernehmenden Vertragsarztes nach § 9 Abs. 9
Honorarverteilungsmaßstab (HVM) zu erhöhen.
Der Kläger nimmt seit 1986 als Neurologe und Psychiater an der fachärztlichen
Versorgung teil. Er betreibt seine Facharztpraxis in B. Nach dem seit 1. Juli 2003
geltenden HVM der Beklagten erhalten alle an der vertragsärztlichen Versorgung
teilnehmenden Ärzte und Psychotherapeuten für punkzahlbewertete Leistungen ein
Punktzahlvolumen (Individualbudget), bis zu dem eine Vergütung mit einem festen
Punktwert gesichert sein soll. Grundlage für die Berechnung des Budgets sind im
Wesentlichen die individuellen Umsätze in den Quartalen I bis IV/2002.
Im Juli 2003 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Hinweis auf eine
Praxisschließung im benachbarten F (B) und die Übernahme von Patienten die Erhöhung
seines Individualbudgets ab dem Quartal III/2003. Der in F tätige Nervenarzt war zuletzt
im Quartal IV/2002 tätig und rechnete insgesamt 674 Fälle ab. In der näheren
Umgebung in Brandenburg war kein weiterer Nervenarzt tätig, die nächstgelegene Praxis
befand sich in P. Die Nachbesetzung der Praxis in F erfolgte im August 2003 mit einer
Fachärztin für Psychiatrie. Im Juli bzw. September 2004 erfolgten in F zwei weitere
Zulassungen von Nervenärzten.
Mit Bescheid vom 26. November 2003 und Widerspruchsbescheid vom 26. April 2004
lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil sie die Voraussetzungen für eine
Ausnahmeregelung nicht als gegeben ansah. Die Versorgung von Brandenburger
Patienten müsse die dortige Kassenärztliche Vereinigung sicherstellen. Für das
Individualbudget des Klägers müsse die Behandlung von Brandenburger Patienten in
Folge einer dortigen Praxisschließung ohne Auswirkungen bleiben.
Mit Urteil vom 28. Juni 2006 gab das Sozialgericht Berlin der hiergegen erhobenen Klage
statt und verurteilte die Beklagte zur Neuberechnung des klägerischen Individualbudgets
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statt und verurteilte die Beklagte zur Neuberechnung des klägerischen Individualbudgets
für die Quartale III/2003 bis II/2004. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Im Sinne von § 9 Abs. 9 HVM sei es zu einer Praxisschließung im näheren Umfeld des
Klägers gekommen, denn F und der Praxissitz des Klägers seien nur 9 km von einander
entfernt. In Folge der Übernahme von Patienten sei ein atypischer Einzelfall gegeben,
der es gebiete, eine Neuberechnung des Individualbudgets vorzunehmen, zumal die
Behandlung von Brandenburger Patienten unstreitig in die Bemessung des
Individualbudgets eingeflossen wäre, wenn sie bereits im Jahre 2002 erfolgt wäre. Zudem
erhalte die Beklagte insoweit einen Fremdkassenzahlungsausgleichs (FKZ). Die nun
konkret vorzunehmende Bemessung des klägerischen Individualbudgets für die
streitigen Quartale werde sich an den Fallzahlsteigerungen und den vom Kläger
eingereichten Patientenlisten orientieren müssen.
Gegen das ihr am 3. August 2006 zugestellte Urteil richtet sich die am 23. August 2006
erhobene Berufung der Beklagten. Das Urteil des Sozialgerichts verkenne die
Systematik des FKZ und widerspreche dem Honorarverteilungsmaßstab der Beklagten.
Zahlungen, die die Beklagte aus dem FKZ erhalte, dürften nicht an den Kläger im Wege
der Erhöhung seines Individualbudgets weitergereicht werden; dieses Ansinnen werde
der Struktur und der Komplexität des FKZ, der von einem fiktiven Punktwert ausgehe,
nicht gerecht. Eine Erhöhung des Individualbudgets des Klägers hätte zur Folge, dass
das Einkommen sämtlicher Ärzte seiner Fachgruppe sänke; es sei aber nicht
einzusehen, warum sämtliche Ärzte der Berliner Fachgruppe die Behandlung von
Brandenburger Patienten, die über den Sicherstellungsauftrag der Beklagten
hinausgehe, durch eine Kürzung ihrer Vergütung mitfinanzieren sollten. Die
Praxisschließung im benachbarten Bundesland müsse für die Beklagte ohne jede
Relevanz bleiben, da sie sich ansonsten in den Sicherstellungsauftrag der anderen
Kassenärztlichen Vereinigung einmische. Soweit es um die Auslegung von § 9 Abs. 9
HVM gehe, bedeute „wegen Praxisschließungen ohne Praxisnachfolge im Umfeld des
Antragstellers und entsprechender Patientenübernahme“, dass davon nur
Praxisschließungen im eigenen KV-Bereich betroffen sein könnten. Sofern der einzelne
Vertragsarzt mit der Behandlung von Versicherten der in seinem Zuständigkeitsbereich
wohnenden Versicherten ausgelastet sei, dürfe er durchaus auch die Behandlung
anderer Patienten ablehnen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Juni 2006 aufzuheben und
die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Die Versorgung von Versicherten
mit Wohnsitz im Bereich einer anderen Kassenärztlichen Vereinigung sei bei der
Honorarverteilung zwingend zu berücksichtigen. Ein Arzt dürfe nicht dafür bestraft
werden, Patienten ohne Ansehen ihres Wohnorts zu behandeln. Die Erhöhung des
Individualbudgets habe hier nach § 9 Abs. 9 HVM zu erfolgen.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den
Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen,
der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und
der Entscheidungsfindung war.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, hat jedoch keinen Erfolg. Das Sozialgericht
beurteilt die Sach- und Rechtslage zutreffend. Der Kläger hat Anspruch auf
Neuberechnung seines Individualbudgets in den Quartalen III/2003 bis II/2004.
Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat Bezug auf den Inhalt der
erstinstanzlichen Entscheidung (§ 153 Abs. 2 SGG), die nachvollziehbar und
überzeugend begründet ist. Das Berufungsvorbringen gebietet keine andere Sichtweise.
Auch der Senat sieht den Ausnahmetatbestand in § 9 Abs. 9 HVM bei wortgetreuer
Auslegung ohne Weiteres als erfüllt an. Der Kläger hat Anspruch auf Neufestsetzung
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Auslegung ohne Weiteres als erfüllt an. Der Kläger hat Anspruch auf Neufestsetzung
seines Individualbudgets, weil es in den streitigen Quartalen wegen einer
Praxisschließung ohne Praxisnachfolge in seinem Umfeld und entsprechender
Patientenübernahme zu vermehrten Patientenzahlen gekommen ist. Der Wortlaut der
Vorschrift und ihre systematische Stellung lassen eine teleologisch reduzierende
Auslegung im Sinne des Standpunkts der Beklagten nicht zu. Maßgeblich für die
Bestimmung des Individualbudgets ist nicht etwa der auf ein bestimmtes und
umgrenztes Gebiet bezogene Sicherstellungsauftrag der Beklagten, sondern die reale
Inanspruchnahme eines Arztes durch eine bestimmte Anzahl von Versicherten der
gesetzlichen Krankenversicherung. Der nachfragebedingte Charakter der
Ausnahmeklausel in § 9 Abs. 9 HVM muss dem Kläger zugute kommen, was besonders
deutlich wird, wenn man – wie auch die Beklagte – zugrunde legt, dass eine besonders
hohe Inanspruchnahme durch Brandenburger Versicherte bei der Bemessung des
Individualbudgets berücksichtigt worden wäre, wenn diese sich im Bemessungsjahr 2002
zugetragen hätte. Durch den Fremdkassenzahlungsausgleich, in dessen Rahmen der
Beklagten jährlich nennenswerte Mittel zufließen, ist eine wirtschaftliche Kompensation
gegeben, die sich auf die Ausschüttung der Gesamtvergütung im Zuständigkeitsbereich
der Beklagten auswirkt. Daher greift es zu kurz zu behaupten, dass eine Erhöhung des
klägerischen Individualbudgets sich einseitig zu Lasten der übrigen Ärzte seiner
Fachgruppe auswirkte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 154
Abs. 2 VwGO und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil hierfür kein Grund nach § 160 Abs. 2 SGG
vorlag. Bei der entscheidenden HVM-Vorschrift handelt es sich um nicht revisibles
Landesrecht. Ob es inhaltsgleiche Vorschriften in anderen KV-Bezirken gibt, ist nicht
ersichtlich; auch die Beklagte hat hierzu nichts Näheres vorgetragen.
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