Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 25.04.2006

LSG Berlin-Brandenburg: entlassung aus der haft, einkünfte, aufenthalt, hauptsache, verfügung, existenzminimum, begriff, haftkosten, unterbringung, kritik

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
19. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 19 B 416/06 AS ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 86b Abs 2 S 2 SGG, § 7 Abs 4
SGB 2
Leistungsausschluss nach § 7 SGB 2 für Freigänger während des
Strafvollzugs
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom
25. April 2006 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller macht Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches
(SGB II) geltend.
Der am 1975 geborene Antragsteller verbüßte in der Zeit vom 20. Juli 2005 bis zum 7.
Juli 2006 Haftstrafen im offenen Strafvollzug in der Justizvollzugsanstalt (JVA) H. Als
Vollstreckungsende war der 26. Februar 2007 vorgesehen gewesen. Er war im
sogenannten Außenkommando tätig und erzielte dort im Februar 2006 Einkünfte in
Höhe von 229,31 Euro netto. Davon wurden 131,03 Euro als Überbrückungsgeld
einbehalten. Im März 2006 wurde von den Einkünften in Höhe von 263,70 Euro netto ein
Betrag von 61,04 Euro als Überbrückungsgeld einbehalten. Der Antragsteller ist seit
Oktober 2005 bei Frau S K, die Leistungen nach dem SGB II für sich und ihr
minderjähriges Kind erhält, gemeldet. Diese teilte dem Antragsgegner am 13. Oktober
2005 mit, die Anzahl der Personen der Bedarfsgemeinschaft habe sich ab dem 7.
Oktober 2005 geändert, und der bei ihr eingezogene Antragsteller verfüge über kein
eigenes Einkommen.
Der Antragsgegner lehnte mit Bescheid vom 15. November 2005 den Antrag des
Antragstellers auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ab.
Der dagegen vom Antragsteller eingelegte Widerspruch wurde von dem Antragsgegner
mit Widerspruchsbescheid vom 16. März 2006 mit der Begründung zurückgewiesen, die
Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung seien
vollstationären Einrichtungen gleichgestellt und im Zeitpunkt der Einweisung des
Antragstellers sei abzusehen gewesen, dass sein dortiger vollstationärer Aufenthalt
länger als sechs Monate bestehen werde, weshalb ein Anspruch auf Leistungen nach
dem SGB II nicht bestünde. Hiergegen hat der Antragsteller Klage erhoben, die beim
Sozialgericht Berlin unter dem Aktenzeichen 100 AS 2358/06 I geführt wird.
Am 27. März 2006 beantragte der Antragssteller, den Antragsgegner im Wege einer
einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes in Höhe von 271,41 Euro monatlich zu gewähren. Er könne seinen
Grundbedarf in Höhe von 345,- Euro mit seiner Tätigkeit im Außenkommando nicht
decken. Aufgrund der Inhaftierung im offenen Vollzug stehe er dem Arbeitsmarkt
grundsätzlich zur Verfügung. In diesem Fall handele es sich nicht um eine vollstationäre
Einrichtung. Von dem ihm zustehenden Regelsatz von 345,- Euro seien 26,41 Euro für
Frühstück und 47,18 Euro für Mittagessen abzuziehen. Es bestehe danach ein
Gesamtbedarf von 271,41 Euro. Eigene Einkünfte seien nicht anzurechnen, da von
diesen das Überbrückungsgeld, der Freibetrag von 90,- Euro und Kosten für ein
Sozialticket in Abzug zu bringen seien und somit keine anrechenbaren Einkünfte
verbleiben würden.
Das Sozialgericht Berlin hat mit Beschluss vom 25. April 2006 den Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Es hat ausgeführt, dass es vorliegend bereits
an einem Anordnungsgrund fehle. Eine besondere Dringlichkeit sei angesichts der
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an einem Anordnungsgrund fehle. Eine besondere Dringlichkeit sei angesichts der
Tatsache, dass der Antragsteller die unabdingbaren Leistungen wie Verpflegung und
Unterkunft durch die JVA erhalte, nicht zu erkennen. Darüber hinaus beziehe der
Antragsteller aus seiner Tätigkeit im Außenkommando Einkünfte, wovon ihm nach Abzug
von Haftkosten und Überbrückungsgeld noch ein Betrag für das Sozialticket und ein
kleinerer Betrag für persönliche Bedürfnisse verbleiben würden.
Gegen diesen dem Antragsteller am 4. Mai 2006 zugestellten Beschluss richtet sich
seine am 9. Mai 2006 eingegangene Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen
hat.
Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, das Sozialgericht habe die Anforderungen
an die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes überspannt. Da
nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) das Gericht eine
einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes treffen könne, wenn
eine solche zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheine, und es vorliegend
um Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes gehe, hätte geprüft werden
müssen, ob dem Antragsteller ein Anspruch auf Leistungen zur Grundsicherung zustehe.
Zudem sei nicht berücksichtigt worden, dass von den Einkünften des Antragstellers
Haftkosten in Abzug gebracht worden seien. Ihm seien keine anrechenbaren Einkünfte
verblieben und er sei nicht in der Lage gewesen, beispielsweise für seine Kleidung ohne
Leistungen der Grundsicherung zu sorgen.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 25. April 2006 aufzuheben und den
Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe von 271,41 Euro monatlich zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend. Die Entlassung aus der Haft stelle
eine Änderung der Verhältnisse des Antragstellers dar und habe zu einer Überprüfung
des Fortbewilligungsbescheides der S K für den Bewilligungszeitraum 1. Juli 2006 bis 31.
Dezember 2006 geführt.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, da sie form- und fristgerecht erhoben wurde. Sie ist jedoch
nicht begründet. Der Antragssteller hat die Voraussetzungen für einen Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung nicht glaubhaft gemacht. Das Sozialgericht hat den
Antrag zu Recht abgelehnt.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG - sind einstweilige Anordnungen
zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint. Voraussetzung ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch (d. h. ein nach der
Rechtslage gegebener Anspruch auf die einstweilig begehrte Leistung) wie auch ein
Anordnungsgrund (im Sinne einer Eilbedürftigkeit des Verfahrens) bestehen.
Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2
Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -). Wegen des vorläufigen
Charakters einer einstweiligen Anordnung soll durch sie eine endgültige Entscheidung in
der Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden. Bei seiner Entscheidung
kann das Gericht grundsätzlich sowohl eine Folgenabwägung vornehmen wie auch eine
summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache anstellen. Drohen aber
ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare anders nicht
abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu
beseitigen wären, dann dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten
orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht
dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht
möglich, so ist allein anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden
(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 596/05 -). Handelt es
sich wie hier um Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende, die der
Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen und damit das Existenzminimum
absichern, muss die überragende Bedeutung dieser Leistung für den Empfänger mit der
Folge beachtet werden, dass ihm im Zweifel die Leistung - ggf. vermindert auf das
absolut erforderliche Minimum - aus verfassungsrechtlichen Gründen vorläufig zu
gewähren ist.
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Ausgehend von diesen Grundsätzen sind die Voraussetzungen für die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes nicht gegeben. Es fehlt bereits an einem Anordnungsgrund.
Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende dienen zwar im Allgemeinen der
Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens, so dass in der Regel ein
Anspruchsteller nicht auf ein Hauptsacheverfahren verwiesen werden kann, weil bis zu
einer Entscheidung sein Existenzminimum nicht gedeckt ist und ihm dadurch erhebliche
Beeinträchtigungen, die nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden können, drohen.
Derart erhebliche Beeinträchtigungen sind hier aber nicht ersichtlich, so dass eine
Vorwegnahme der Hauptsache weder aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten
noch aus sonstigen Gründen erforderlich ist.
Aufgrund der Unterbringung in der JVA war bis zum Zeitpunkt der Entlassung am 7. Juli
2006 der elementare Wohn- und Ernährungsbedarf des Antragstellers gedeckt. Es
standen ihm zudem finanzielle Mittel in unterschiedlicher Höhe zur Deckung davon nicht
erfasster Bedarfe zur Verfügung. Von den in den Abrechnungen ausgewiesenen
Nettoeinkünften ist das Überbrückungsgeld nach § 51 Strafvollzugsgesetz in Abzug zu
bringen, über das der Antragsteller im Abrechnungszeitraum nicht frei verfügen konnte.
Dagegen handelt es sich bei dem in den Abrechnungen ausgewiesenen Hausgeld nach §
47 Strafvollzugsgesetz um einen Betrag, der dem Gefangenen für den Einkauf oder
anderweitig zur Verfügung steht. Der Antragsteller verfügte daher im Februar 2006 über
einen Betrag von 98,28 Euro und im März 2006 über einen Betrag von 153, 24 Euro.
Auch bei einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten kann nicht davon
ausgegangen werden, dass der Antragsteller im Hauptsacheverfahren voraussichtlich
mit seinem Begehren Erfolg haben wird. Es besteht daher kein Anlass, geringere
Anforderungen an das Vorliegen eines Anordnungsgrundes deshalb zu stellen, weil die
begehrte Leistung dem Antragsteller offensichtlich zusteht und aufgrund dessen bei
einer Abwägung der widerstreitenden Interessen im einstweiligen Anordnungsverfahren
denen des Antragstellers der Vorrang einzuräumen ist.
Der Senat geht im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes davon aus, dass der
Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II in der bis zum 31. Juli 2006 geltenden
Fassung für in einer stationären Einrichtung Untergebrachte grundsätzlich auch für
Gefangene in einer JVA gilt, wenn der Aufenthalt dort länger als sechs Monate andauert.
Der Begriff der stationären Einrichtung ist weder im Gesetz noch in der Begründung des
Gesetzentwurfs konkretisiert worden. Nach dem Gesamtzusammenhang der Regelung
liegt eine stationäre Einrichtung im Sinne des Gesetzes im Allgemeinen dann vor, wenn
der Einrichtungsträger von der Aufnahme bis zur Entlassung des Untergebrachten im
Rahmen des Therapiekonzepts die Gesamtverantwortung für dessen tägliche
Lebensführung übernimmt und Gemeinschaftseinrichtungen vorhanden sind (vgl.
Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II § 7 Rdnr. 34, Bayerisches Landessozialgericht,
Beschluss vom 27. Oktober 2005 - L 11 B 596/05 AS ER -; Landessozialgericht Berlin-
Brandenburg, Beschluss vom 16. Mai 2006 - L 19 B 327/06 AS ER -). Dies trifft für
Gefangene in einer JVA auch dann zu, wenn zu ihren Gunsten Lockerungen des Vollzugs
im Sinne von § 11 Strafvollzugsgesetz angeordnet werden und sie außerhalb der Anstalt
regelmäßig einer Beschäftigung unter Aufsicht (Außenbeschäftigung) oder ohne Aufsicht
eines Vollzugsbediensteten (Freigang) nachgehen dürfen. Diese Vollzugslockerungen
führen insbesondere nicht dazu, dass die JVA lediglich als „teilstationäre Einrichtung“
anzusehen ist (so aber Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2.
Februar 2006 - L 14 B 1307/05 AS ER -). Denn auch Lockerungen des Vollzugs ändern
nichts daran, dass der JVA im Rahmen des Vollzugsplans (§ 7 Strafvollzugsgesetz) die
Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung des Gefangenen verbleibt. Er
unterliegt nicht etwa nur in den Zeiten, in denen er sich tatsächlich in der JVA aufhält,
den Regelungen des Strafvollzugs, sondern diese bestimmen weitgehend auch seine
Möglichkeiten außerhalb der Vollzugsanstalt. Dies wird bereits durch § 14 Abs. 1
Strafvollzugsgesetz belegt, wonach der Anstaltsleiter dem Gefangenen für Lockerungen
und Urlaub Weisungen erteilen kann.
Der Senat hält an seiner in dem Beschluss vom 16. Mai 2006 (- L 19 B 327/06 AS ER -)
vertretenen Auffassung fest. Er vermochte jedenfalls im vorläufigen
Rechtsschutzverfahren nicht der Auffassung zu folgen, Justizvollzugsanstalten stellten
keine vollstationären Einrichtungen im Sinne von § 7 Abs. 4 SGB II dar (vgl. LSG
Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 7. März 2006 - L 7 AS 423/05 ER -). Gegen diese
Auffassung spricht bereits die Entstehungsgeschichte der Norm. Ursprünglich sah der
Gesetzentwurf (BT-Dr 15/1516, 10) ohne nähere Begründung überhaupt keine
Leistungen nach dem SGB II für erwerbsfähige Hilfebedürftige vor, die stationär
untergebracht sind. Gegen diese Regelung erhob sich erheblicher Widerstand mit
Blickrichtung auf Personen, die sich nur vorübergehend z. B. in Einrichtungen der
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Blickrichtung auf Personen, die sich nur vorübergehend z. B. in Einrichtungen der
Wohnungslosenhilfe, in stationärer Krankenbehandlung oder in Untersuchungshaft
befinden (vgl. Brühl in Münder Sozialgesetzbuch II § 7 Rdnr. 54). Diese Kritik führte zur
Einführung der Sechsmonatsfrist in § 7 Abs. 4 SGB II. Hätte der Gesetzgeber
Justizvollzugsanstalten nicht unter den Begriff „stationäre Einrichtungen“ fassen wollen,
hätte es aufgrund der genannten Kritik, die sich ausdrücklich auch auf Gefangene bezog,
nahe gelegen, eine etwaige Einschränkung im Gesetz oder zumindest in der
Gesetzesbegründung kenntlich zu machen. Da dies nicht geschehen ist, spricht nichts
dafür, dass eine solche Einschränkung von Anfang an beabsichtigt war oder aber mit der
Einführung der Sechsmonatsfrist in § 7 Abs. 4 SGB II auch der vom Gesetzgeber
ursprünglich gewollte sachliche Anwendungsbereich der Norm eine Änderung erfahren
hat. Mit dem am 1. August 2006 in Kraft getretenen Gesetz zur Fortentwicklung der
Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (BGBl I Seite 1706 ff.) wurde § 7
Abs. 4 SGB II geändert und nunmehr ausdrücklich der Aufenthalt in einer Einrichtung
zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung dem Aufenthalt in einer
stationären Einrichtung gleichgestellt.
Aufgrund der Dauer der Haftstrafen des Antragstellers war bei Antragstellung eine mehr
als sechsmonatige Unterbringung in einer vollstationären Einrichtung absehbar.
Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz konnte daher keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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