Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 18.10.2004

LSG Berlin und Brandenburg: arbeitsentgelt, teilzeitbeschäftigung, arbeitsunfall, berufsausbildung, beendigung, schulausbildung, approbation, tarifvertrag, alter, gesundheit

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 18.10.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 25 U 576/02
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 16 U 77/03
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. September 2003 aufgehoben, soweit
das Sozialgericht den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 25. Juni 2002 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 1. August 2002 verurteilt hat, der Klägerin höhere Verletztenrente für die Zeit vom 28.
September 2000 bis 30. September 2000 zu gewähren. Insoweit wird die Klage abgewiesen. Im Übrigen wird die
Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im
Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Höhe einer Verletztenrente.
Die 1970 geborene Klägerin erlitt als Schülerin bei einem Wegeunfall am 8. Oktober 1984 u.a. schwere
Kopfverletzungen. Seit dem 9. Oktober 1984 gewährt ihr der Beklagte Verletztenrente, und zwar zuletzt ab 1.
November 1993 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 25 v.H. auf der Grundlage eines
Jahresarbeitsverdienstes (JAV) von 25.807,00 DM (Bescheide vom 25. Februar 1986, 25. August 1986, 26. August
1988 und 27. September 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Februar 1994). Die Klägerin
absolvierte nach ihrer unfallbedingt ein Jahr längeren Schulausbildung ein Studium der Humanmedizin und war nach
ihrer ärztlichen Prüfung am 27. Mai 1999 als Ärztin im Praktikum ab 8. November 1999 tätig. Die Approbation als
Ärztin erfolgte mit Wirkung vom 27. September 2001 (Approbationsurkunde des Landesamtes für Gesundheit und
Soziales Berlin vom 27. September 2001). Seit Januar 2002 ist die Klägerin im Krankenhaus N halbtags als Ärztin
unter Eingruppierung in die Vergütungsgruppe II a des Bundes-Angestelltentarifvertrages (BAT) beschäftigt.
Nach Einholung von Arbeitgeberauskünften erteilte der Beklagte den "Bescheid über Erhöhung des JAV" vom 25. Juni
2002 für die Zeit ab 28. September 2000. Darin setzte der Beklagte den JAV für die Zeit bis 30. Juni 2001 auf
38.046,33 DM, für die Zeit ab 1. Juli 2001 auf 38.773,01 DM, für die Zeit ab 1. Januar 2002 auf 19.824,33 Euro und für
die Zeit ab 1. Juli 2002 auf 20.252,54 Euro - jeweils nach Maßgabe des JAV für eine halbtagsbeschäftigte approbierte
Ärztin - fest. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin ohne den Unfall ihr Medizinstudium voraussichtlich am 27.
September 2000, d.h. ein Jahr früher, abgeschlossen hätte. Der Widerspruch der Klägerin, mit dem diese die
Zugrundelegung eines JAV einer vollzeitbeschäftigten approbierten Ärztin begehrte, blieb erfolglos
(Widerspruchsbescheid vom 1. August 2002).
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat den Beklagten mit Urteil vom 25. September 2003 unter Änderung der
angefochtenen Bescheide antragsgemäß verurteilt, der Klägerin für die Zeit ab 28. September 2000 höhere
Verletztenrente auf der Grundlage eines Arbeitsentgelts "entsprechend BAT II a für eine volltagsbeschäftigte
approbierte Ärztin" zu gewähren. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei begründet. Der Beklagte sei gemäß §
90 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) verpflichtet, der Neufestsetzung des JAV
ein Arbeitsentgelt entsprechend der Vergütungsgruppe II a BAT für eine Vollzeitbeschäftigte zu Grunde zu legen. Die
Regelung des § 90 Abs. 1 Satz 2 SGB VII orientiere sich allein an der Ausbildung und dem Alter der Versicherten,
nicht jedoch am zeitlichen Umfang einer nach dem Stichtag gegebenenfalls konkret ausgeübten ausbildungsgerechten
Beschäftigung. Sinn und Zweck der Regelung sei es, die Entschädigung von Verletzten mit entwicklungsbedingt noch
fehlendem oder niedrigem Einkommen nicht auf Dauer daran auszurichten. Eine Orientierung an der konkreten
beruflichen Situation bei der Neufeststellung würde zu zufälligen und unbilligen Ergebnissen führen.
Mit der Berufung wendet sich der Beklagte gegen dieses Urteil. Er trägt vor: Gemäß § 90 Abs. 1 SGB VII sei
vorliegend lediglich das tarifvertragliche Einkommen einer entsprechenden Teilzeitbeschäftigung zu Grunde zu legen.
Denn nach Sinn und Zweck der Regelung solle der Versicherte vom Zeitpunkt der voraussichtlichen Beendigung der
Ausbildung an hinsichtlich der JAV-Berechnung so gestellt werden, als hätte er den Unfall erst nach Abschluss seiner
Ausbildung - bei dann höherem JAV - erlitten. Hätte sich ein Arbeitsunfall erst nach der Arbeitsaufnahme der Klägerin
als approbierte Ärztin im Rahmen ihrer Halbtagsbeschäftigung ereignet, wären Entschädigungsleistungen auch nur
nach dem tatsächlichen JAV zu berechnen gewesen. Es sei unbillig, dieses tatsächliche Einkommen auf ein fiktives
höheres Einkommen im Rahmen einer Vollbeschäftigung anzupassen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. September 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten Bezug
genommen.
Die Unfallakten des Beklagten (2 Bände) und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung
gewesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden
erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Beklagten ist begründet, soweit das SG den Beklagten unter Änderung der angefochtenen
Bescheide verurteilt hat, der Klägerin höhere Verletztenrente bereits für die Zeit vom 28. September 2000 bis 30.
September 2000 zu gewähren; insoweit war die Klage abzuweisen. Im Übrigen ist die Berufung nicht begründet; sie
war daher zurückzuweisen.
Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch richtet sich gemäß § 214 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nach den
Vorschriften des SGB VII über den JAV (§§ 81 bis 93 SGB VII), weil der JAV nach dem In-Kraft-Treten des SGB VII
auf Grund des § 90 SGB VII neu festgesetzt worden ist.
Unabhängig von der Neufestsetzung des JAV zum Stichtag (Tag nach dem- fiktiven - Ende der Ausbildung; vgl. BSG
SozR 3-2200 § 573 Nr. 2) am 28. September 2000 und dessen maßgebender Höhe wird die aus tatsächlichen
Gründen neu zu berechnende Verletztenrente in neuer Höhe erst nach Ablauf des Monats geleistet, in dem die
Änderung wirksam geworden ist, mithin ab 1. Oktober 2000 (vgl. § 73 Abs. 1 SGB VII). Das angefochtene Urteil war
insoweit aufzuheben und die auf Gewährung höherer Verletztenrente bereits ab 28. September 2000 gerichtete Klage
insoweit abzuweisen.
Im Übrigen ist die Berufung jedoch nicht begründet. Die Klägerin hat für die Zeit ab 1. Oktober 2000 einen Anspruch
auf höhere Verletztenrente unter Berücksichtigung eines neu festgesetzten JAV, dem das im Klageantrag
bezeichnete Arbeitsentgelt zu Grunde liegt.
Berechnungsgrundlage für die der Klägerin aus Anlass des Wegeunfalls vom 8. Oktober 1984 bindend zuerkannte
Verletztenrente ist neben dem Grad der MdE der JAV der Verletzten. Hierfür ist im Regelfall der Gesamtbetrag aller
Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen (§§ 14, 15 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die
Sozialversicherung - SGB IV) der Verletzten in den letzten 12 Kalendermonaten vor dem Monat, in dem der
Arbeitsunfall eingetreten ist, maßgebend (§ 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Grundsätzlich bleiben diese
Verdienstverhältnisse für die Zukunft Grundlage der Rentenberechnung; spätere Erwerbsaussichten sind in der Regel
bei der Feststellung des JAV rechtlich unbeachtlich (vgl. BSG, Urteil vom 28. Januar 1993 - 2 RU 15/92 = HV-Info
1993, 972). Eine Ausnahme gilt u.a. dann, wenn - wie hier - der Versicherungsfall während einer Schul- oder
Berufsausbildung eintritt. In einem solchen Fall wird nach § 90 Abs. 1 Satz 1 SGB VII, wenn es für den Versicherten
günstiger ist, der JAV von dem Zeitpunkt an neu festgesetzt, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall
voraussichtlich beendet worden wäre. Der Neufestsetzung wird das Arbeitsentgelt zu Grunde gelegt, das in diesem
Zeitpunkt für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarifvertrag vorgesehen ist; besteht keine
tarifliche Regelung, ist das Arbeitsentgelt maßgebend, das für derartige Tätigkeiten am Beschäftigungsort der
Versicherten gilt (§ 90 Abs. 1 Satz 2 SGB VII).
Nach der Zweckbestimmung der genannten Vorschrift sollen Personen, die schon vor oder während der Zeit der
Schul- oder Berufsausbildung einen Arbeitsunfall erleiden und deshalb im Jahre vor dem Unfall regelmäßig noch kein
bzw. nicht das volle Arbeitsentgelt erzielt haben, zur Vermeidung von Härten geschützt und so gestellt werden, als
hätten sie den Unfall nach der voraussichtlichen Beendigung der Berufsausbildung erlitten (vgl. BSG, Urteil vom 7.
November 2000 -B 2 U 91/99 R- nicht veröffentlicht - m.w.N.). Die Klägerin befand sich zum Unfallzeitpunkt in einer
Schulausbildung im Sinne des § 90 Abs. 1 Satz 1 SGB VII. Ihre "Ausbildung" im Sinne von § 90 Abs. 1 Satz 1 SGB
VII war durch die Erlangung des zum Ausbildungsziel führenden Ausbildungsabschlusses beendet, nämlich durch die
Approbation als Ärztin mit Wirkung vom 27. September 2001 (Approbationsurkunde des Landesamtes für Gesundheit
und Soziales Berlin vom 27. September 2001). Da die Ausbildung der Klägerin im Hinblick auf die unfallbedingt ein
Jahr längere Schulausbildung ohne den Versicherungsfall bereits am 27. September 2000 beendet worden wäre, ist
der Stichtag für die Neufestsetzung des JAV der 28. September 2000. Der Neufestsetzung des JAV ist somit das
Arbeitsentgelt zu Grunde zu legen, das am 28. September 2000 für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters
durch Tarifvertrag vorgesehen gewesen ist. Maßgebend sind nach der getroffenen Regelung somit allein Ausbildung
und Alter einer Vergleichsperson, nicht aber der zeitliche Umfang einer konkret ausgeübten Tätigkeit. Diese
Auslegung folgt nicht nur aus dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift, sondern auch aus deren Zweckbestimmung.
Mit § 90 Abs. 1 SGB VII und seinen Vorgängervorschriften ist die grundsätzlich abstrakte Schadensberechnung im
Recht der gesetzlichen Rentenversicherung nicht durch eine konkrete ersetzt worden. Vielmehr bestimmt diese
Vorschrift allein die eine der beiden Schadensbemessungsgrößen (MdE bzw. JAV) abweichend vom zeitlichen
Bezugsrahmen des § 82 Abs. 1 SGB VII als maßgeblich (vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2000 -B 2 U 31/99 R-).
So hat der Gesetzgeber bespielsweise in Kauf genommen, dass die günstigere JAV-Berechnung nach § 90 Abs. 1
SGB VII auch denjenigen Versicherten zu Gute kommt, die das voraussichtliche Ausbildungsziel trotz der
Unfallfolgen erreicht haben und ein entsprechendes Einkommen erzielen, also gar keinen wirtschaftlichen Schaden im
Beruf erlitten haben (vgl. BSG SozR 2200 § 573 Nr. 11). Erst recht muss diese abstrakte Schadensberechnung für
diejenigen Versicherten wie die Klägerin gelten, die trotz der Unfallfolgen ihr Ausbildungsziel ebenfalls erreicht haben,
aber wegen einer Teilzeitbeschäftigung nicht das Einkommen einer vollschichtig erwerbstätigen Vergleichsperson
erzielen.
Kein anderes Ergebnis ergäbe sich im Übrigen auch, wenn die Klägerin nach Beendigung ihrer Ausbildung - aus
welchen Gründen auch immer - gar nicht erwerbstätig gewesen wäre. Denn auch in diesem Fall wäre der JAV nach §
90 Abs. 1 SGB VII mit der Erlangung des zum Ausbildungsziel führenden Ausbildungsabschlusses neu festzusetzen.
Wäre hingegen der Auffassung des Beklagten zu folgen, wäre die Klägerin gegenüber einer nicht erwerbstätigen Ärztin
gleicher Ausbildung und gleichen Alters in einer mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Artikel 3 Abs. 1
Grundgesetz (GG) nicht zu vereinbarenden Weise benachteiligt. § 90 Abs. 1 SGB VII setzt eine tatsächliche
Aufnahme der erstrebten Tätigkeiten nach Beenden der Ausbildung im Sinne des § 90 Abs. 1 Satz 1 SGB VII
tatbestandlich gar nicht voraus. Maßgebender Zeitpunkt für die Neufestsetzung des JAV ist allein das fiktive Beenden
der Ausbildung durch den zum Ausbildungsziel führenden Ausbildungsabschluss. Der JAV ist dann an dem Entgelt
auszurichten, das dem durch die Ausbildung angestrebten Beruf entspricht, und zwar unabhängig davon, ob dieser
angestrebte Beruf nach dem Ausbildungsabschluss auch tatsächlich, wenngleich auch nur im Rahmen einer
Teilzeitbeschäftigung, ausgeübt wird. Die tatsächliche Aufnahme der erstrebten Tätigkeit kann erst in dem hier nicht
zu entscheidenden Fall relevant werden, wenn der betreffende Versicherte sein Berufsziel ohne Ablegung der
einschlägigen Abschlussprüfung erreicht hat.
Der Neufestsetzung des JAV ist somit vorliegend das Arbeitsentgelt zu Grunde zu legen, das am 28. September 2000
für eine approbierte Ärztin gleichen Alters gemäß den Vorschriften des BAT (Vergütungsgruppe II a) vorgesehen
gewesen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dabei war zu berücksichtigen, dass die Klägerin mit ihrem Begehren
bis auf einen Zeitraum von lediglich drei Tagen (28. September bis 30. September 2000) hat durchdringen können.
Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor. Soweit der Beklagte
die Zulassung der Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung angeregt hat (Schriftsatz vom 1. September 2004),
ist darauf hinzuweisen, dass die in § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG geregelte Zulassungsvoraussetzung der "grundsätzlichen
Bedeutung der Rechtssache" entgegen der von dem Beklagten geäußerten Rechtsauffassung nicht vorliegt. Der
Senat sieht die Rechtslage vielmehr auf Grund der - eindeutigen - gesetzlichen Regelungen sowie der Ausführungen
des BSG in dem Urteil vom 7. November 2000 (B 2 U 31/99 R) zum Entschädigungscharakter des § 90 Abs. 1 SGB
VII als geklärt an.