Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 28.01.2010

LSG Berlin und Brandenburg: anhörung, versorgung, verwaltungsakt, zukunft, wohnung, widerspruchsverfahren, pflege, eltern, ermessen, sorgfalt

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 28.01.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 76 P 186/07
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 27 P 70/08
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. Februar 2008 geändert. Die
Beklagte wird unter Änderung ihres Bescheides vom 10. Januar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 10. April 2007 verurteilt, dem Kläger für den Zeitraum vom 1. Dezember 2006 bis zum 31. Januar 2007
Pflegegeld bei Pflegestufe I zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Kosten sind für das gesamte
Verfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Weitergewährung von Pflegegeld an den Kläger.
Der 1961 geborene Kläger ist schwerbehindert mit einem GdB von 100, Merkzeichen B, G, H und RF. Er leidet an
einer geistig-seelischen Behinderung (chronische paranoide Psychose), einem cerebralen Anfallsleiden sowie an einer
Gangstörung. Nach Aktenlage wird die Einrichtung einer Betreuung des Klägers durch das zuständige Amtsgericht
abgelehnt. Ihm wurde mit Bescheid vom 13. September 1995 Pflegegeld bei Pflegestufe I bewilligt. Auf den Antrag
des Klägers vom 3. Oktober 2006 zur Gewährung von Leistungen bei Pflegestufe II veranlasste die Beklagte die
Begutachtung durch den MDK. Die Gutachterin N stellte einen erforderlichen Zeitaufwand für die Grundpflege mit
einem Umfang von 46 Minuten täglich fest und teilte mit, dass der Versicherte keine Grundpflege erhalte und auch
keine Reinigung seiner Wohnung zulasse. Die häusliche Versorgung sei nicht sichergestellt. Das Pflegegeld werde
eindeutig nicht für die pflegerische Versorgung des Versicherten verwendet. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom
22. November 2006 ab, dem Kläger Leistungen der Pflegestufe II zu gewähren. Mit einem weiteren Schreiben
ebenfalls vom 22. November 2006 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass er weiter Leistungen nach Pflegestufe I
erhalte. Weil die häusliche Pflege durch private Pflegepersonen nicht sichergestellt sei, werde ab 1. Dezember 2006
Pflegegeld nicht mehr gezahlt. Der Kläger sollte sich mit der Sozialstation H in Verbindung setzen, damit im Rahmen
der Pflegeversicherung Sachleistungen erbracht werden können. Die Pflegestation sei bereits informiert. Dagegen
legte der Kläger Widerspruch ein. Mit Schreiben vom 19. Dezember 2006 nahm der Kläger seinen Widerspruch
hinsichtlich der Ablehnung von Leistungen der Pflegestufe II zurück.
Am 4. Dezember 2006 schloss der Kläger einen Pflegevertrag mit einer Sozialstation über eine häusliche Pflegehilfe
durch Sachleistung nach § 36 SGB XI. Er hat in der Folgezeit Leistungen der Sozialstation nur sehr eingeschränkt
zugelassen, insbesondere das Reinigen der Wohnung nicht jedoch Verrichtungen der Grundpflege. Mit Bescheid vom
10. Januar 2007 lehnte die Beklagte die Gewährung von Pflegegeld bei Pflegestufe I seit 1. Dezember 2006 ab.
Bereits bei der Begutachtung im November 2006 sei festgestellt worden, dass der tägliche Hilfebedarf nicht
sichergestellt sei, eine Versorgung erfolge nicht. Zur Sicherstellung der häuslichen und aktivierenden Pflege sei die
Gewährung der Kombinationsleistung empfohlen worden. Die Sozialstation habe mitgeteilt, dass der Kläger die
erforderliche Grundpflege nicht durchführen lasse und diese auch nicht durch eine private Pflegeperson erfolge.
Pflegegeld könne nur gezahlt werden, wenn die erforderlichen Maßnahmen der Grundpflege täglich durch geeignete
Pflegepersonen sichergestellt seien. Anteiliges Pflegegeld sei deshalb ab 1. Dezember 2006 zu versagen. Dagegen
legte der Kläger Widerspruch ein. Diesen wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. April 2007 zurück.
Das Sozialgericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 20. Februar 2008 abgewiesen. Es hat seine
Entscheidung damit begründet, dass ein Anspruch auf anteiliges Pflegegeld voraussetze, dass der Pflegebedürftige
die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftlicher Versorgung mit dem Pflegegeld entsprechend dessen Umfang
selbst sicherstelle. Diese Voraussetzungen würden nicht vorliegen, was zur Überzeugung der Kammer aufgrund des
MDK-Gutachtens feststehe. Gegenteilige Anhaltspunkte seien nicht ersichtlich. Sollte der Kläger in dem Verfahren
weitere Ansprüche geltend gemacht haben, so sei die Klage insoweit unzulässig, weil nicht feststehe, um welche
Ansprüche es sich handele.
Seine Berufung begründet der Kläger damit, dass man ihm nicht vorschreiben könne, ob, wann und von wem er
Verrichtungen der Grundpflege in Anspruch zu nehmen habe.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. Februar 2008 und die Bescheide der Beklagten vom 22.
November 2006 und 10. Januar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. April 2007 aufzuheben und
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger über den 30. November 2006 hinaus Pflegegeld bei Pflegestufe I, hilfsweise
anteiliges Pflegegeld bei Pflegestufe I zu zahlen.
Die Beklagte hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend und beantragt,
die Klage abzuweisen.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen
Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die
Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung hat teilweise Erfolg. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage auch für den
Leistungszeitraum vom 1. Dezember 2006 bis 31. Januar 2007 abgewiesen. Der Kläger hat insofern Anspruch auf
Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 10. Januar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.
April 2007, weil für die tatsächlichen Voraussetzungen einer rückwirkenden Aufhebung nach § 48 SGB X eine
entsprechende Anhörung nicht erfolgte. Dies gilt indes nicht für Zeiträume ab 1. Februar 2007. Insoweit werden im
Ergebnis Rechte des Klägers durch den angefochtenen Gerichtsbescheid und den Bescheid der Beklagten nicht
verletzt. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Pflegegeld, weil er die erforderliche Grundpflege nicht sicherstellt.
1. Maßgebliche Entscheidung ist der Bescheid der Beklagten vom 10. Januar 2007. Das Schreiben vom 22.
November 2006, mit welchem die Beklagte verlautbart hat, dass ab 1. Dezember 2006 kein Pflegegeld mehr gezahlt
werde, kann nicht als Aufhebungsbescheid bewertet werden. Durch diese Äußerung der Beklagten wird dem Kläger
lediglich mitgeteilt, dass ab 1. Dezember 2006 die mit Bescheid vom 13. September 1995 erfolgte Bewilligung von
Pflegegeld nicht mehr vollzogen werde. Ein darüber hinausgehender Regelungswille ist aus Adressatensicht dem
Schreiben weder hinsichtlich seiner äußeren Form noch seines Inhalts zu entnehmen.
2. Der Kläger kann nicht die Aufhebung des Bescheides vom 10. Januar 2007 für die Zeiträume ab 1. Februar 2007
verlangen (dazu a). Er hat allerdings Anspruch auf Aufhebung des Bescheides für den Zeitraum von Dezember 2006
bis Januar 2007, weil insofern eine rückwirkende Aufhebung nach §§ 24, 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X formell
rechtmäßig nicht erfolgt ist (dazu b).
a) Der Aufhebungsbescheid vom 10. Januar 2007 ist zwar formell rechtswidrig, weil die erforderliche Anhörung über
die tatsächlichen Voraussetzungen der Aufhebung vor Erlass dieses Bescheides nicht erfolgte. Bevor ein
Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, ist diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den
für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (§ 24 Abs 1 SGB X). Das Schreiben vom 22. November 2006,
mit welchem die Zahlungseinstellung angekündigt wurde, teilte keine Absicht mit, noch eine entsprechende
Entscheidung treffen und dem Kläger Gelegenheit zur Äußerung geben zu wollen. Jedoch kann der Kläger keinen
Aufhebungsanspruch nach § 42 SGB X auf diese Rechtswidrigkeit stützen, weil die Anhörung im
Widerspruchsverfahren im Sinne von § 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X nachgeholt wurde. Im Widerspruchsverfahren
konnte sich der Kläger zu dem für die Beklagte wesentlichen Umstand äußern, dass er private Pflegeleistungen nicht
in Anspruch nehme. Andere tatsächliche Voraussetzungen hatte die mit Wirkung für die Zukunft erfolgte Aufhebung
nicht.
Nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X war die Beklagte befugt und verpflichtet, die Bewilligung des Pflegegeldes mit
Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen ergab sich
daraus, dass der Kläger inzwischen auch Pflegeleistungen durch seine Eltern (die bisherigen Pflegepersonen) nicht
mehr in Anspruch genommen hatte. Der Anspruch des Klägers auf Gewährung von Pflegegeld ist deswegen entfallen.
Nach § 37 Abs 1 Satz 2 SGB XI ist Voraussetzung für einen Anspruch auf Pflegegeld, dass der Pflegebedürftige mit
dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in
geeigneter Weise selbst sicherstellt. Diese Voraussetzung wird nicht mehr erfüllt. Für die Aufhebung der Bewilligung
mit zukünftiger Wirkung ist der Behörde ein Ermessen nicht eingeräumt.
Weil das anteilige Pflegegeld nach § 38 Abs 1 Satz 1 SGB XI auf die Voraussetzungen nach § 37 SGB XI abstellt,
bestand auch kein Anspruch auf diese Leistung. Der Bescheid vom 10. Januar 2007 ist deshalb insofern nicht zu
beanstanden. Sehr bedauerlich ist aus Sicht des Senats, dass bereit stehende Leistungen der Pflegeversicherung
nicht durch den Kläger in Anspruch genommen werden. Die Ausführung von Pflegeleistungen kann jedoch durch die
Pflegekasse nicht gegen den Willen des Versicherten erzwungen werden. Die Nachteile der betreuungsrechtlichen
Situation des Klägers können nicht durch pflegerisch wirkungslose Zahlungen der Versichertengemeinschaft
kompensiert werden.
b) Der Kläger hat Anspruch auf Aufhebung des Bescheides vom 10. Januar 2007 für die Zeiträume vor Februar 2007,
weil die erforderliche Anhörung nicht erfolgt ist – vgl § 42 Satz 2 SGB X. Der angefochtene Bescheid hat die die
Beteiligten bindende Bewilligung von Pflegegeld rückwirkend ab 1. Dezember 2006 aufgehoben. Es hatte deshalb
zuvor eine Anhörung im Sinne des § 24 Abs 1 SGB X zu erfolgen. Dies ist nicht in gesetzlich vorgesehener Weise
geschehen und war auch nicht ausnahmsweise entbehrlich. Soweit man das Schreiben vom 22. November 2006 als
Anhörungsschreiben werten wollte, ist damit jedenfalls keine Anhörung zu den tatsächlichen subjektiven
Voraussetzungen einer rückwirkenden Aufhebung nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X erfolgt. Nach § 48 Abs 1 Satz
2 Nr 4 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden,
soweit der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße
verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder
ganz oder teilweise weggefallen ist. Weil der Aufhebungsbescheid auf diese Vorschrift nicht Bezug nimmt und die
subjektiven Voraussetzungen der rückwirkenden Aufhebung auch nicht thematisiert, konnte die Durchführung des
Widerspruchsverfahrens auch nicht als entsprechende Nachholung der bislang versäumten Anhörung im Sinne von §
41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X gewertet werden. Eine Nachholung erfolgte auch nicht während des gerichtlichen
Verfahrens. Der Anhörungsfehler begründet bereits für sich den Aufhebungsanspruch für den Zeitraum der
rückwirkenden Aufhebung Dezember 2006 bis Januar 2007. Dabei kommt es nicht darauf an, dass der Kläger ggf nur
Anspruch auf anteiliges Pflegegeld gehabt haben könnte, weil die auf den tatsächlichen Änderungen beruhende
Änderung in der Anspruchsgrundlage mit Wirkung für die Vergangenheit nur nach Maßgabe der Vorschriften der §§ 48,
24 SGB X umgesetzt werden durfte. Der angefochtene Bescheid ist wegen §§ 37 Abs 1 Satz 3, 2 SGB XI, 40, 41
SGB I für den ganzen Januar 2007 aufzuheben.
Unter diesen Umständen kann der Senat offen lassen, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Aufhebung der
Leistungsbewilligung nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X vorlagen. Hier ergeben sich jedenfalls erhebliche Zweifel am
Vorliegen der subjektiven Voraussetzungen angesichts der schweren psychischen Erkrankung des Klägers.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt die ganz überwiegende Erfolglosigkeit der
Rechtsverfolgung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür nach § 160 Abs 2 SGG nicht vorliegt.