Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 17.01.2011

LSG Berlin-Brandenburg: heizung, wohnfläche, betriebskosten, kündigung, wohnraum, wasser, entwässerung, räumung, produkt, grenzwert

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
14. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 14 AS 205/11 B ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 86b Abs 2 SGG, § 22 Abs 1
SGB 2
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungen für Unterkunft
und Heizung - einstweilige Anordnung
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts
Berlin vom 17. Januar 2011 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
Die nicht durch § 172 Abs. 3 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossene
und auch im Übrigen zulässige (§ 173 SGG) Beschwerde des Antragstellers ist
unbegründet. Er kann vom Antragsgegner die vorläufige Erbringung höherer als in dem
Bescheid vom 3. November 2010 (in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.
Dezember 2010) für die Zeit vom 1. Januar 2011 bis 30. Juni 2011 bewilligter Leistungen
für Unterkunft und Heizung nicht verlangen.
Dabei lässt der Senat dahinstehen, ob – wie das Sozialgericht angenommen hat –
deshalb keine Notwendigkeit für eine vorläufige Regelung besteht, weil dem Antragsteller
keine durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht abwendbare oder zu
beseitigende Nachteile drohen (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – sog. Anordnungsgrund), weil
Mietrückstände, die die Vermieterin zur außerordentlichen fristlosen Kündigung aus
wichtigem Grund berechtigen würden, (noch) nicht bestünden und frühestens im Juni
2011 bestehen könnten. Abgesehen davon, dass der Antragsteller bei fortlaufender
Zahlung (für Januar, Februar und März 2011) nur eines den ihm jetzt für Unterkunft und
Heizung bewilligten Leistungen in Höhe von 378 Euro entsprechenden Teils der
geschuldeten Miete in Höhe von insgesamt 591,07 Euro bereits im März 2011 „für zwei
aufeinander folgende Termine mit der Entrichtung eines nicht unerheblichen Teils der
Miete in Verzug“ geraten dürfte (vgl. Blank, in: Blank/Börstinghaus, Miete, 3. Aufl. [2008],
§ 543 Rdnr. 103), ist zu berücksichtigen, dass nach § 22 Abs. 1 Satz 1 des Zweiten
Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe
der „tatsächlichen Aufwendungen“ erbracht werden.
"Tatsächliche Aufwendungen" für eine Wohnung liegen allerdings nicht nur dann vor,
wenn der Hilfebedürftige die Miete bereits gezahlt hat und nunmehr deren Erstattung
verlangt. Vielmehr reicht es aus, dass der Hilfebedürftige im jeweiligen
Leistungszeitraum einer wirksamen und nicht dauerhaft gestundeten Mietzinsforderung
ausgesetzt ist. Denn bei Nichtzahlung der Miete drohen regelmäßig Kündigung und
Räumung der Unterkunft. Zweck der Regelung über die Erstattung der Kosten für die
Unterkunft ist es aber gerade, existentielle Notlagen zu beseitigen und den Eintritt von
Wohnungslosigkeit zu verhindern. Der Hilfebedürftige wird – solange er im
Leistungsbezug steht – zumeist auf die Übernahme der Unterkunftskosten durch den
Grundsicherungsträger angewiesen sein (BSG, Urteil vom 7. Mai 2009 – B 14 AS 31/07 R
–). Vor diesem Hintergrund hat jeder erwerbsfähige Hilfebedürftige Anspruch darauf,
dass ihm die ihm von Gesetzes wegen zustehenden Leistungen so rechtzeitig erbracht
werden, dass er in der Lage ist, seine vertraglichen Verpflichtungen gegenüber dem
Vermieter von Wohnraum ebenfalls rechtzeitig zu erfüllen. Das Risiko einer Kündigung
von Wohnraum oder eines Prozesses wegen verspäteter Zahlung des Mietzinses (mit
der damit verbundenen Kostenfolge) oder gar einer Klage auf Räumung ist ihm in aller
Regel nicht zuzumuten (zuletzt Beschluss des Senats vom 31. August 2010 – L 14 AS
1263/10 B ER –). Ein Anordnungsgrund wird dementsprechend bei glaubhaft gemachtem
Anordnungsanspruch regelmäßig nur dann zu verneinen sein, wenn der erwerbsfähige
Hilfebedürftige die tatsächlichen Aufwendungen jedenfalls vorläufig aus nicht zu
berücksichtigendem Einkommen („Freibeträge“) oder Vermögen („Schonvermögen“)
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berücksichtigendem Einkommen („Freibeträge“) oder Vermögen („Schonvermögen“)
tätigen kann. Dafür ist hier nichts ersichtlich.
Der begehrten Anordnung steht indes entgegen, dass nicht glaubhaft gemacht ist, dass
der Antragsteller für die Zeit ab 1. Januar 2011 Anspruch auf Erbringung von Leistungen
für Unterkunft und Heizung in Höhe des von ihm nach dem Mietvertrag geschuldeten
Mietzinses (einschließlich Vorauszahlungen für Betriebskosten, Warmwasser und
Heizung: 591,07 Euro) hat.
Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGB II werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in
Höhe der tatsächlichen Aufwendungen – nur – erbracht, soweit sie angemessen sind.
Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft den die Besonderheit des Einzelfalles
angemessenen Umfang übersteigen, sind sie als Bedarf des alleinstehenden
Hilfebedürftigen so lange zu berücksichtigen, wie es ihm nicht möglich oder nicht
zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise
die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate.
Die Aufwendungen für die vom Antragsteller derzeit genutzte Wohnung sind nicht mehr
angemessen. Die Angemessenheit der Aufwendungen ist für die Unterkunft und deren
Heizung getrennt zu prüfen (BSG, Urteil vom 2. Juli 2009 – B 14 AS 36/08 R –).
Die Höhe der Aufwendungen für die Unterkunft wird in erster Linie durch ihre Größe
beeinflusst. Deshalb ist zunächst deren Angemessenheit zu bestimmen, „und zwar
typisierend … anhand der landessrechtlichen Ausführungsbestimmungen über die
Förderung des sozialen Mietwohnungsbaus“ (BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7b
AS 10/06 R –). Auch in Berlin hält der Senat für eine Person eine Wohnung mit einer
Wohnfläche von höchstens 50 qm für angemessen (BSG, Urteil vom 19. Februar 2009 –
B 4 AS 30/08 R – für die Stadt München). Sodann ist der Wohnstandard festzustellen,
wobei dem Hilfebedürftigen lediglich ein einfacher und im unteren Segment liegender
Ausstattungsgrad der Wohnung zusteht. Als Vergleichsmaßstab ist regelmäßig die Miete
am Wohnort heranzuziehen. Letztlich kommt es darauf an, dass das Produkt aus
Wohnfläche und Standard, das sich in der Wohnungsmiete niederschlägt, der
Angemessenheit entspricht. Als Maßstab hierfür scheiden die vom
Grundsicherungsträger herangezogenen Ausführungsvorschriften – AV-Wohnen – aus
(vgl. BSG, Terminbericht vom 20. Oktober 2010 - Nr. 58/10). Mangels anderer
Erkenntnisquellen hält der Senat derzeit, jedenfalls in einstweiligen
Anordnungsverfahren, das von Richterinnen und Richtern des Sozialgerichts Berlin
entwickelte Konzept für geeignet zur Bestimmung von angemessenen Kosten der
Unterkunft und legt es deswegen zugrunde. Danach ergibt sich unter Berücksichtigung
des für Berlin geltenden qualifizierten Mietspiegels (Mietspiegel 2009) und einer
Gewichtung der sich daraus für einzelne Gruppen ergebenden Werte entsprechend der
Zahl der vorhandenen Wohnungen eine „abstrakt“ angemessene (Nettokalt-)Miete von
4,76 Euro/qm für Wohnungen bis zu einer Größe von 60 qm (vgl. dazu und zum
folgenden auch S. Schifferdecker/B. Irgang/E. Silbermann, Einheitliche Kosten der
Unterkunft. Ein Projekt von Richterinnen und Richtern des Sozialgerichts Berlin,
ArchsozArb 2010, Nr. 1, 28-42). Hinzuzurechnen sind die umlagefähigen Betriebskosten
in einer Höhe von 1,41 Euro/qm. Somit ergibt sich für eine für eine Person angemessene
Wohnung eine (Bruttokalt-)Miete von 308,50 Euro. Diese Grenze übersteigen die
Aufwendungen für die bisherige Wohnung des Antragstellers. Diese betragen unter
Einschluss der von der Vermieterin mit den Kosten für Warmwasser und Heizung
abgerechneten, dessen ungeachtet aber den „kalten“ Betriebskosten
hinzuzurechnenden Kosten für (Kalt-)Wasser und Entwässerung in Höhe von monatlich
gerundet 50 Euro (nach der Heizkostenabrechnung für das Jahr 2009 596,82 Euro
jährlich) 378,36 Euro monatlich (273,62 Euro Grundmiete [davon 83,10 Euro wegen
Modernisierung], 54,74 Euro Betriebskostenvorauszahlung, 50 Euro Vorauszahlung für
[Kalt-]Wasser und Entwässerung).
Auch die Aufwendungen des Antragstellers für die Heizung seiner Wohnung (ohne die
aus der Regelleistung zu deckenden Aufwendungen für die Lieferung von Warmwasser)
übersteigen das Maß des Angemessenen. Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob der
Auffassung der Bundessozialgerichts – uneingeschränkt – zu folgen ist, wonach
Aufwendungen bis zu einem sich aus einem kommunalen oder bundesweiten
Heizspiegel ergebenden Grenzwert (Produkt aus abstrakt angemessener
Wohnungsgröße und „extrem hohen“ Heizkosten) als angemessen anzusehen sind
(Urteil vom 2. Juli 2009 – B 14 AS 36/08 R –). Nach der Heizkostenabrechnung für 2009
betrugen die Heizkosten für die gesamte Wirtschaftseinheit (1.419,39 qm) 13.145,98
Euro (9,26 Euro/qm jährlich) und liegen damit nach dem bundesweiten Heizspiegel im
mittleren Bereich. Es wäre deshalb zumindest näher begründungsbedürftig, warum unter
derartigen Umständen Aufwendungen in nahezu der zweifachen Höhe bis hin zur
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derartigen Umständen Aufwendungen in nahezu der zweifachen Höhe bis hin zur
„Verschwendungsgrenze“ (in diesem Fall: 17,90 Euro/qm jährlich) noch angemessen
sein sollten. Aber selbst diese „Verschwendungsgrenze“ übersteigen die Aufwendungen
des Antragstellers, die für das Jahr 2009 insgesamt 1.335,53 Euro und damit unter
Zugrundelegung der tatsächlichen Wohnfläche (55,4 qm) 24,10 Euro/qm jährlich und
unter Zugrundelegung der angemessenen Wohnfläche (50 qm) sogar 26,71 Euro/qm
jährlich betrugen. Dafür, dass diese Aufwendungen in dem vorliegend zu beurteilenden
Zeitraum ab dem 1. Januar 2011 wesentlich geringer sein könnten, besteht kein Anhalt;
insbesondere hat der Antragsteller keine niedrigeren Vorauszahlungen als 2009 oder
2010 zu leisten.
Es ist auch nicht glaubhaft gemacht, dass die Aufwendungen des Antragstellers für
Unterkunft und Heizung aufgrund „der Besonderheit des Einzelfalles“ (§ 22 Abs. 1 Satz 3
SGB II) angemessen sein könnten. Dies ist weder wegen der Schwerbehinderung des
Antragstellers noch sonstiger gesundheitlicher Beeinträchtigungen anzunehmen.
Ebenso wenig ergibt sich dies daraus, dass die Tochter des Antragstellers diesen jedes
zweite Wochenende besucht und dort auch übernachtet. Dadurch werden keine höheren
Aufwendungen für die Unterkunft des Antragstellers erforderlich. Insbesondere kann er
nicht verlangen, dass ihm wegen dieser zwar regelmäßigen, aber zeitlich begrenzten
Besuche Leistungen für eine Unterkunft erbracht werden, die für zwei (dauerhaft in einer
Wohnung lebende) Personen angemessen sind.
Leistungen in Höhe der tatsächlichen, aber nicht mehr angemessenen Aufwendungen
sind dem Antragsteller für die Zeit ab dem 1. Januar 2011 auch nicht etwa deswegen zu
erbringen, weil es ihm nicht möglich oder nicht zumutbar wäre, die Kosten für die
Unterkunft – durch einen Umzug – zu senken (§ 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II). Dass ihm eine
Wohnung, für die die Aufwendungen noch angemessen sind, konkret nicht zugänglich ist,
ist nicht glaubhaft gemacht. Das Gegenteil ist anzunehmen. Dem „Antrag“ des
Antragstellers vom 2. Juni 2010 an den Antragsgegner ist zu entnehmen, dass ihm
zumindest zwei entsprechende Angebote vorlagen, die er „aus persönlichen Gründen“
abgelehnt hat. Welche Gründe dies waren, hat der Antragsteller nicht erläutert. Jedenfalls
scheiterte ein Wohnungsangebot nicht an einer (im Übrigen vom Antragsteller gleichfalls
nicht belegten) „negativen Schufa“. Eben sowenig bestehen Hinweise, dass zu den als
angemessen anzusehenden Bedingungen weder eine Wohnung im Erdgeschoß (oder
ggf. mit Aufzug) noch mit zwei Räumen (ein und ein halbes Zimmer) angeboten werden.
Dass der Antragsteller innerhalb eines Zeitraums von nunmehr mehr als einem Jahr
keine seinen Vorstellungen entsprechende preiswertere Wohnung gefunden hat, dürfte
vielmehr darauf beruhen, dass er zu verkennen scheint („Und ich möchte mich ja nicht
verschlechtern gegenüber meiner jetzigen Wohnung.“), dass ihm – wie bereits
ausgeführt – lediglich ein einfacher und im unteren Segment liegender Ausstattungsgrad
der Wohnung zusteht und er deshalb nicht mit der ihm obliegenden gebotenen Intensität
eine solche Wohnung gesucht hat. Solange und soweit er auf staatliche
Fürsorgeleistungen zur Deckung seines Lebensunterhalts angewiesen sein wird, wird er
die von ihm nicht gewünschte Verschlechterung seiner Wohnverhältnisse allerdings nicht
vermeiden können.
Schließlich ist dem Antragsteller eine Senkung der Aufwendungen für Unterkunft und
Heizung nicht etwa deshalb unzumutbar, weil er vom Antragsgegner nicht oder nur
unzureichend auf seine Obliegenheit, die Kosten für Unterkunft und Heizung zu senken,
hingewiesen bzw. darüber aufgeklärt worden wäre. Der Antragsgegner hat den
Antragsteller durch die Schreiben bereits vom 25. November 2009 und 29. Dezember
2009 auf die Unangemessenheit der Aufwendungen für die Unterkunft, auf die nach
seiner Ansicht angemessene Höhe der Aufwendungen (378 Euro) und darauf
hingewiesen, dass Leistungen in Höhe der tatsächlichen (unangemessenen)
Aufwendungen nur noch bis zum 30. Juni 2010 bzw. – nach dem dem Widerspruch des
Antragstellers gegen den Bescheid vom 31. Mai 2010 abhelfenden Bescheid vom 10.
Juni 2010 – bis zum 31. Dezember 2010 erbracht werden würden; dies genügt den
Anforderungen an eine „Kostensenkungsaufforderung“. Unschädlich ist, dass der
Antragsgegner dem Antragsteller darin ungeachtet der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (Urteil vom 2. Juli 2009, a.a.O.) eine Bruttowarmmiete benannt hat.
Letztlich wirkt sich die getrennte Berechnung der Aufwendungen für Unterkunft und
Heizung allenfalls geringfügig aus. Auch deshalb ist nicht erkennbar, dass der
Antragsteller seine Suche nach einer angemessenen Wohnung aufgrund dieses Mangels
entscheidend eingeschränkt hätte oder dadurch sonst in der Suche beschränkt gewesen
wäre (vgl. dazu BSG, Urteil vom 19. Februar 2009 – B 4 AS 30/08 R –).
Die Entscheidung über die Kostenerstattung beruht auf entsprechender Anwendung des
§ 193 Abs. 1 SGG.
14 Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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