Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 24.10.2008
LSG Berlin und Brandenburg: erlass, hauptsache, versicherung, vergütung, leib, sozialhilfe, vertretung, zivilprozessordnung, verweigerung, menschenwürde
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 24.10.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 76 P 89/04
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 27 P 98/08 ER
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin mit Wirkung ab dem
24. Oktober 2008 vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens jedoch für sechs
Monate, Pflegegeld in Höhe von weiteren 205,00 EUR monatlich zu zahlen. Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin deren außergerichtliche Kosten
des Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu ¾ zu erstatten. Der Antragstellerin wird für das
Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe ohne Monatsraten und aus dem Vermögen
zu zahlenden Beträgen unter Beiordnung ihrer Verfahrensbevollmächtigten bewilligt.
Gründe:
Der während des nach wie vor anhängigen Berufungsverfahrens bei dem Landessozialgericht gestellte Antrag auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
Rechtsgrundlage für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung ist § 86 b Abs. 2 Satz 2 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Nach dieser Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung
zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen bezogen auf die
vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Zahlung von Pflegegeld in Höhe von weiteren 205,00 EUR monatlich
für die Zeit ab der Entscheidung des Senats bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens
jedoch für sechs Monate, vor, was sich für den Senat anhand einer Folgenabwägung ergibt.
Eine solche Folgenabwägung, bei der in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32
des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird,
regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat und stattdessen die Folgen abzuwägen sind, die eintreten würden, wenn die
begehrte Anordnung nicht erginge, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren aber obsiegen würde,
gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die Anordnung erlassen würde, der Rechtsschutzsuchende im
Hauptsacheverfahren indes keinen Erfolg hätte, erscheint im Lichte von Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) im
vorliegenden Fall zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich. Denn die Antragstellerin begehrt hier
Leistungen, die dazu dienen, die Anspruchsberechtigten vor einer Gefährdung von Leib und Leben zu bewahren und
ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, das sicherzustellen der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet
ist. Da das vorläufige Rechtsschutzverfahren für dieses Begehren die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens
vollständig übernimmt und der Antragstellerin bei einer Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes eine endgültige
Grundrechtsverletzung droht, dürfen nach Art. 19 Abs. 4 GG die Anforderungen an die Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes nicht überspannt werden. Um dem Gebot effektiven Rechtsschutzes zu genügen, darf sich das zur
Entscheidung berufene Gericht nicht auf eine nur summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache
beschränken, sondern muss die Sach- und Rechtslage abschließend prüfen. Ist ihm dies im vorläufigen
Rechtsschutzverfahren nicht möglich, so ist eine Folgenabwägung vorzunehmen (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom
12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –, zitiert nach juris). So liegt der Fall hier. Denn die Entscheidung, ob der Antragstellerin
die mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrten Leistungen tatsächlich zustehen, ist nach dem
derzeitigen Stand des Berufungsverfahrens nicht möglich, weil sich die Antragstellerin unter Vorlage eines
Krankenhausentlassungsberichts des Zvom 13. August 2007 im Laufe dieses Verfahrens auf eine im Sommer 2007
eingetretene erhebliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes berufen hat, hinsichtlich deren Auswirkungen
auf die Pflegebedürftigkeit weitere medizinische Ermittlungen erforderlich erscheinen. Diese Ermittlungen, die um
weitere Ermittlungen zu der Frage zu ergänzen sind, wo die Antragstellerin tatsächlich wohnt bzw. sich auf Dauer
aufhält, müssen dem Berufungsverfahren vorbehalten bleiben, weil sie den Charakter des vorläufigen
Rechtsschutzverfahrens sprengen würden.
Die von dem Senat vorzunehmende Folgenabwägung fällt im vorliegenden Fall für die Zeit ab der Entscheidung des
Senats zugunsten der Antragstellerin aus, weil ihr mit Blick auf das besondere grundrechtliche Gewicht des mit ihrem
Antrag verfolgten Begehrens bei einer Ablehnung ihres Antrags für diese Zeit schwere und unwiederbringliche
Nachteile drohen, die sie aus eigener Kraft nicht imstande ist, von sich abzuwenden. Denn sie hat sich hier unter
Vorlage des oben näher bezeichneten Entlassungsberichts auf eine erhebliche Verschlechterung ihres
Gesundheitszustandes berufen und insbesondere mit ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 1. Juli 2008
Funktionseinschränkungen dargelegt und glaubhaft gemacht, die sich jedenfalls auch auf die in § 14 Abs. 4 des Elften
Buches des Sozialgesetzbuches genannten Verrichtungen beziehen und aus denen anstelle ihres bisherigen
Anspruchs auf Pflegegeld der Pflegestufe I in Höhe von derzeit 215,00 EUR ein Anspruch auf Pflegegeld der
Pflegestufe II in Höhe von derzeit 420,00 EUR abzuleiten sein könnte. Zudem hat die Antragstellerin im Verfahren auf
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes eine Pflegesituation beschrieben und durch Abgabe der vorgenannten
eidesstattlichen Versicherung glaubhaft gemacht, die ohne Zahlung der zwischen dem Pflegegeld der Pflegestufe I
und dem Pflegegeld der Pflegestufe II bestehenden Differenz in Höhe von 205,00 EUR monatlich mit erheblichen
gesundheitlichen Risiken sowie Gefahren für ein menschenwürdiges Leben verbunden sein könnten. Dass die
Antragstellerin diese Risiken und Gefahren aus eigener Kraft von sich abwenden könnte, ist nicht ersichtlich. Denn
nach ihren weiteren Angaben im vorläufigen Rechtsschutzverfahren, deren Richtigkeit sie ebenfalls an Eides Statt
versichert hat, stehen ihr lediglich zwei Pflegepersonen zur Verfügung. Von diesen zwei Pflegepersonen ist ihre
Tochter aus zeitlichen Gründen nicht dazu in der Lage, die Pflege in dem – bei Bestehen eines Anspruchs –
erforderlichen Ausmaß zu erbringen, und die externe Pflegekraft, deren Pflegeleistungen bisher aus dem Pflegegeld
der Pflegestufe I bezahlt werden, ist nicht bereit, ohne zusätzliche Vergütung weitere Pflege zu leisten. Über
finanzielle Mittel, aus denen sie die von der externen Pflegekraft geforderte zusätzliche Vergütung für weitere
Pflegeleistungen begleichen oder den Einsatz einer dritten Pflegeperson bezahlen und damit die Gefahrenlage selbst
überwinden könnte, verfügt die Antragstellerin ausweislich ihrer eidesstattlichen Versicherung nicht. Zudem ist es ihr
entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin wegen des grundsätzlichen Nachrangs der Sozialhilfe auch nicht
zuzumuten, sich zur Befriedigung des hier geltend gemachten Bedarfs mit einem Antrag nach dem Zwölften Buch des
Sozialgesetzbuches (SGB XII) an den Sozialhilfeträger zu wenden. Den ihr damit drohenden Gefahren für Leib und
Leben sowie die Menschenwürde stehen auf der Seite der Antragsgegnerin lediglich finanzielle Interessen gegenüber,
die sich im Hinblick auf den in Rede stehenden Zahlbetrag in Höhe von 205,00 EUR monatlich in einem für die
Antragsgegnerin überschaubaren Rahmen halten und dementsprechend hinter den der Antragstellerin drohenden
Nachteilen zurückzutreten haben.
Die Verpflichtung der Antragsgegnerin musste allerdings – wie von der Antragstellerin bei sachgerechter Auslegung
ihrer Schriftsätze auch beantragt – auf die Zeit bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens
begrenzt werden, weil eine einstweilige Anordnung nicht über das im Hauptsacheverfahren erreichbare Begehren
hinausgehen darf. Des Weiteren war der Zahlungszeitraum – ohne dass hiermit eine Ablehnung des Antrags auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden wäre – auf längstens sechs Monate zu befristen, damit der Fall in
leistungsrechtlicher Hinsicht sachgerecht unter Kontrolle gehalten werden kann. Die Möglichkeit, bei veränderten
Umständen eine frühere Aufhebung oder Abänderung der einstweiligen Anordnung in analoger Anwendung von § 86 b
Abs. 1 Satz 4 SGG zu erreichen, bleibt hiervon unberührt.
Soweit sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei sachgerechter Auslegung des Schriftsatzes der
Antragstellerin vom 20. August 2008 auch auf die Zeit ab Eingang ihrer Antragsschrift bei Gericht am 8. Juli 2008 bis
zur Entscheidung des Senats bezieht, war der Antrag hingegen abzulehnen. Denn dieser Zeitraum ist mittlerweile
verstrichen und die Antragstellerin hat diesbezüglich lediglich auf die aus ihrer Sicht gegebene Verweigerung
effektiven Rechtsschutzes hingewiesen, nicht jedoch vorgetragen und glaubhaft gemacht, dass sie schwere und
unzumutbare Nachteile zu gegenwärtigen hätte, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der
Hauptsache nicht mehr in der Lage sein könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt, dass die Antragstellerin im Kern mit ihrem
Begehren durchgedrungen ist, sie dieses Begehren jedoch im Laufe des Antragsverfahrens hinsichtlich des
Beginnzeitpunkts auf die Zeit ab Eingang ihrer Antragsschrift bei Gericht am 8. Juli 2008 beschränkt hat, während sie
mit ihrer Antragsschrift noch ausdrücklich Leistungen ab dem 28. September 2007 geltend gemacht hatte.
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe folgt aus § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 114 ff. der
Zivilprozessordnung. Denn wie die im Wege der einstweiligen Anordnung ausgesprochene Verpflichtung der
Antragsgegnerin zeigt, kommen dem Antrag der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
hinreichende Erfolgsaussichten zu. Dieser Antrag, hinsichtlich dessen die Vertretung durch einen Rechtsanwalt
erforderlich erscheint, erweist sich auch nicht als mutwillig. Zudem ist die Antragstellerin ausweislich der von ihr
zeitgleich mit dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und dem Antrag auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe bei Gericht eingegangenen Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse
nicht in der Lage, die Kosten des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens auch nur zum Teil oder in Raten aufzubringen.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).