Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 26.03.2007

LSG Berlin und Brandenburg: einkommen aus erwerbstätigkeit, schulbesuch, dringlichkeit, schule, kausalzusammenhang, verordnung, rückgriff, versicherung, hauptsache, schüler

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 26.03.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 108 AS 10881/06 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 32 B 399/07 AS ER
Unter Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin vom 5. Februar 2007 wird der Antragsgegner im Wege
einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin zu 2.) ab 01. März 2007 vorläufig bis 31. Mai 2007 Leistungen
in Höhe von 321,10 EUR (statt 216,-EUR) monatlich zu zahlen. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat den Antragstellern die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
Zum Sachverhalt verweist der Senat auf die Darstellung in den Gründen des angefochtenen Beschlusses des
Sozialgerichts Berlin (SG) vom 5. Februar 2007.
Das Aktivrubrum war zu ändern. Gegenstand des vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens ist bei
sachgerechter Auslegung des erstinstanzlich geltend gemachten Begehrens der Antrag der in einer
Bedarfsgemeinschaft lebenden Antragstellerin zu 2) auf Gewährung von höheren Leistungen nach dem Zweiten Buch
– Grundsicherung für Arbeitsuchende – des Sozialgesetzbuches (SGB II). Die Antragstellerin zu 1) kann als Mitglied
dieser Bedarfsgemeinschaft nicht im eigenen Namen die Ansprüche der Antragstellerin zu 2) mit einer Klage oder, wie
im vorliegenden Verfahren, mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verfolgen. Jedes Mitglied muss
vielmehr seine Ansprüche im eigenen Namen geltend machen (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 7. November
2006 - L 7b AS 8/06 R – und bereits Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Mai 2006 – L 10 AS
102/06 - ). Die Bevollmächtigung des Antragstellers zu 1) für das vorliegende Verfahren konnte dabei unterstellt
werden (§ 73 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Hier ist nur die Behandlung von Einkommen der
Antragstellerin zu 2.) im Streit. Eine Senkung des bei der Antragstellerin zu 2.) anzurechnenden Einkommens führt
nach § 9 Abs. 2 SGB II nur zu einer Erhöhung ihrer Hilfsbedürftigkeit. Ihre Mutter erhält nämlich bereits jetzt ihren
Gesamtbedarf aus Arbeitslosengeld II-Leistungen gedeckt.
Die zulässige Beschwerde vom 19. Februar 2007, der das SG nicht abgeholfen hat, ist teilweise begründet.
Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung
zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur
Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Hierfür sind grundsätzlich das
Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes erforderlich. Der
Anordnungsanspruch bezieht sich dabei auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger
Rechtschutz begehrt wird, die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den
Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86 b
Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Hier besteht ein Anordnungsanspruch. Der
Antragsgegner hätte die BaföG-Zahlungen für die Antragstellerin zu 2) nicht nur in Höhe von 20% (als zweckbestimmt
speziell für Ausbildungskosten nach § 11 Abs. 3 Nr. 1 Sozialgesetzbuch 2. Buch [SGB II]) abziehen dürfen. Nach
(vorläufiger) Auffassung des Senats stehen nämlich den BaföG-Einnahmen (im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II)
notwendige Ausgaben nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 SGB II entgegen (im Ergebnis anders, aber ohne Prüfung des §
11 Abs. 2 SGB II: LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 23.10.2006 –L 19 B 599/06 ASER):
Es besteht ein Kausalzusammenhang: BaföG-Förderung wird nur für den Schulbesuch gewährt, § 2 Abs. 1
Bundesausbildungsförderungsgesetz (BaföG). Hier ist Voraussetzung für den Schulbesuch die Zahlung des
geschuldeten Schulgeldes. Ohne Schulgeldzahlung gäbe es keine BaföG-Förderung. Um BaföG - berechtigt zu sein,
muss die Antragstellerin die Schule auch besuchen, wodurch ihr Fahrtkosten entstehen, weil die Schule nicht in
fußläufiger Entfernung von der Wohnung ist. Die Förderung von 192,- EUR, wird damit bis auf (zur Zeit) 18,50 EUR
monatlich nahezu vollständig vom Schulgeld in Höhe von 125,- EUR und den Kosten der Monatskarte von 48,50 EUR
aufgezehrt.
Die Auffassung des Antragsgegners im Widerspruchsbescheid, § 11 Abs. 2 Nr. 5 SGB II beträfe nur Einkommen aus
Erwerbstätigkeit, lässt sich der Norm nicht entnehmen, ohne dass diese Anlass zur Auslegung gäbe. Das Gegenteil
(Abzug für Werbungskosten für alle Arten von Einnahmen) ergibt sich ferner aus § 11 Abs. 2 Nr. 6 und Abs. 2 Satz 2
SGB II, die speziell für die Teilgruppe aller Einnahmenempfänger der Erwerbstätigen einen zusätzlichen Abzug fordern
beziehungsweise einen Grundfreibetrag festlegen. Auch aus der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (AlgII-V)
folgt nichts anderes: § 2b AlgII-V lässt nur für die Ermittlung der Einnahmen § 2 AlgII-V Anwendung finden, der nur die
Einkommensberechnung betrifft, nicht Anwendungsfragen zu § 11 Abs. 2 SGB II. Hierzu gibt es nur den hier nicht
einschlägigen § 3 AlgII-V, der Pauschalen (ohne Einzelnachweis) erlaubt, höhere Abzüge bei Nachweis aber
gesetzeskonform zulässt. Es kann auch nicht mit Erfolg eingewendet werden, eine Berücksichtigung des Schulgeldes
als Werbungskosten des Bafög-Erhaltes bevorzuge Schüler, die –ausnahmsweise- nach § 7 Abs. 6 SGB II Anspruch
auf Arbeitslosengeld II haben gegenüber den Regelfällen, die aufgrund § 7 Abs. 5 SGB II mit dem BaföG-Sätzen
auskommen müssten, in denen Ausgaben für Privatschulen nicht vorgesehen seien. Dass die BaföG-Sätze zu niedrig
sein mögen, vermag den Kausalzusammenhang nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 SGB II zwischen der
Schulgeldzahlungspflicht und den BaföG-Einnahmen nicht aufzuheben. Der Gesetzgeber hat bewusst bei den
geringen BaföG-Leistungen nach §§ 7 Abs. 6 Nr. 2 SGB II, 12 Abs. 1 Nr. 1 BaföG die Tür zur Bedürftigkeitsprüfung
nach dem SGB II offen gelassen, und damit hinsichtlich der Einnahmen auch den Rückgriff auf den
Einkommensbegriff des § 2 EStG. Unter Ansatz des Berechnungsbogens zum Bescheid vom 9.11.2006 ist deshalb in
diesem Eilverfahren von "Sonstigem Einkommen" der Antragstellerin statt von 153,60 EUR von 18,50 EUR
auszugehen, Bei einem Gesamteinkommen von 172,50 EUR ergibt sich bei einem Bedarf von 496,60 EUR ein
Anspruch auf 321,10 EUR statt 216,- EUR, also 105,10 EUR mehr, genau wie (nur) beantragt. Der
Bedarfsgemeinschaft insgesamt stehen somit 613,70 EUR + 321,10 EUR = 934,80 EUR monatlich zu.
Es besteht auch ein Anordnungsgrund. Es ist gerade angesichts der guten Erfolgschancen in der Hauptsache davon
auszugehen, dass es der Antragstellerin zu 2) unzumutbar ist, das Hauptsacheverfahren abzuwarten. Wie durch
eidesstattliche Versicherung der Antragstellerin zu 1) glaubhaft gemacht ist, bezieht diese aktuell benötigte
Medikamente nicht, um mit den ersparten Medikamentenzuzahlungen ihrer Tochter die Ausbildung zu ermöglichen.
Der Betrag von 321,10 EUR für die Antragstellerin zu 2.) monatlich ist jedoch nur für den laufenden Monat ab dem
Zeitpunkt dieses Beschlusses zu gewähren, da nur für die Befriedigung des gegenwärtigen und zukünftigen Bedarfes
die besondere Dringlichkeit einer vorläufigen Entscheidung gegeben ist. Für eine rückwirkende Gewährung für die Zeit
vor dem jetzt laufenden Monat fehlt es an einer entsprechenden Begründung. Die Nichteinnahme der Medikamente
lässt sich nicht rückgängig machen. Der Anspruch ist auf den aktuellen Bewilligungszeitraum, das heißt bis zum 31.
Mai 2007 zu begrenzen (§ 41 Abs. 1 S. 4 SGB II).
Zum selben Ergebnis gelangt auch eine reine Folgenabwägung, welche vorzunehmen ist, wenn eine vollständige
Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist (so bereits LSG Berlin-Brandenburg, B. v.
29.09.2006 –L 19 B 199/06 ASER mit Bezug auf Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR
596/05 -; Beschluss des Senats vom 21.02.2007 -L 32 B 123/07 AS ER-).
Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 193 SGG. Da die Antragstellerin nur wegen des
Zeitablaufes teilweise unterliegt, wäre es unbillig, der Antragsgegnerin nicht die volle Kostentragungslast
aufzuerlegen.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Mit diesem Beschluss ist noch nicht über die Beschwerde gegen die im Beschluss des SG vom 5. Februar 2007
erfolgte Ablehnung von Prozesskostenhilfe entschieden.