Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 26.10.2004

LSG Berlin und Brandenburg: formelle rechtskraft, einstweilige verfügung, erlass, analogie, rechtsschutz, abgrenzung, verwaltungsakt, auflage, zivilprozessordnung, wiederherstellung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 26.10.2004 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 81 KR 2337/03 ER 04
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 15 B 88/04 KR ER
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. August 2004 wird
zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander auch für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde ist zulässig, jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht das Begehren auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung abgelehnt, denn Haupt- und Hilfsantrag sind unzulässig. Die Unzulässigkeit beider Anträge
ergibt sich daraus, dass sie in Bezug auf den hier streitbefangenen Zeitraum ab Mai 2004 vollständig mit demjenigen
Antrag identisch sind, welcher bereits durch rechtskräftigen Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 5. Januar 2004
(Aktenzeichen: S 75 KR 2337/03 ER) für die Zeit ab Mai 2004 abgelehnt worden war. Ablehnende Beschlüsse auch im
einstweiligen Rechtsschutzverfahren erwachsen, wenn kein Rechtsmittel mehr möglich oder - wie hier - eingelegt
worden ist, in (formelle) Rechtskraft; ein erneuter Antrag ist unzulässig, wenn er den abgelehnten Antrag lediglich
wiederholt (Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz - SGG -, 7. Auflage 2002, § 86 b Rdnr. 44 mit weiteren Nachweisen).
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall sowohl hinsichtlich des Haupt- als auch hinsichtlich des
Hilfsantrages erfüllt, weil diese Anträge für die Zeit ab dem 1. Mai 2004 nicht von demjenigen Antrag abweichen, der
bereits Gegenstand des vorangegangenen Verfahrens war.
Die Anträge können auch nicht hilfsweise in Anträge auf Abänderung der vorangegangenen Entscheidung vom 5.
Januar 2004 umgedeutet werden. Hierbei kann offenbleiben, unter welchen Voraussetzungen in einem Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes in der Sozialgerichtsbarkeit ein Abänderungsverfahren durchgeführt werden kann. Die
Vorschrift des § 86 b Abs. 2 SGG, die erst mit Wirkung vom 2. Januar 2002 in Kraft getreten ist, enthält keine
Regelung über die Abänderung von Beschlüssen, welche in Rechtskraft erwachsen sind. Insbesondere enthält sie
keine Bezugnahme auf § 927 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO), der unter engen Voraussetzungen die Abänderung
eines Beschlusses über eine einstweilige Verfügung vorsieht. Gleichfalls fehlt in § 86 b Abs. 2 SGG auch eine
Regelung, die der Vorschrift des § 86 b Abs. 1 Satz 4 SGG entspricht. § 86 b Abs. 1 Satz 4 SGG ermöglichst in den
Fällen, in denen über die Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen
einen belastenden Verwaltungsakt zu entscheiden war, Abänderungsentscheidungen auf Antrag. Wegen des
umfassenden Rechtsschutzgebotes des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz ist allerdings davon auszugehen, dass auch
Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach dem SGG ganz oder teilweise ablehnende Beschlüsse auf
Antrag abänderbar sind; hier spricht vieles für eine doppelt analoge Anwendung der Vorschrift des § 86 b Abs. 1 Satz
4 SGG (vgl. Beschluss des Senats vom 10. Juli 2002, L 15 B 39/02 KR ER, NZS 2002, 670). Die Notwendigkeit einer
doppelten Analogie zu § 86 b Abs. 1 Satz 4 SGG ergibt sich daraus, dass nicht nur diese Regelung von Abs. 1 auf
Abs. 2 der Vorschrift des § 86 b SGG zu übertragen ist, sondern dass sie zudem auch auf die Fälle erstreckt werden
muss, in denen dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nicht entsprochen wurde, sondern umgekehrt ein solcher
Antrag zurückgewiesen bzw. abgelehnt wurde.
Auch diese doppelt analoge Anwendung des § 86 b Abs. 1 Satz 4 SGG kann vorliegend die Anträge der Klägerin nicht
zulässig machen. Denn erforderlich wäre ein bereits beim Sozialgericht gestellter ausdrücklicher Antrag auf
Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin vom 5. Januar 2004. § 86 b Abs. 1 Satz 4 SGG fordert einen
solchen Antrag in bewusster Abgrenzung zu § 80 Abs. 7 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung. Dies führt dazu, dass
das Gericht von Amts wegen eine Überprüfung einer vorangegangenen rechtskräftigen Entscheidung nicht
vorzunehmen hat (Meyer-Ladewig, SGG, § 86 b Rdnr. 20).
An dem hiernach erforderlichen ausdrücklichen Abänderungsantrag fehlt es im vorliegenden Fall. Zu keinem Zeitpunkt
hat die Antragstellerin die Abänderung der vorangegangenen Entscheidung des Sozialgerichts Berlin vom 5. Januar
2004 beantragt, obwohl sie spätestens durch den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. August 2004 auf die
alleinige Möglichkeit eines Abänderungsverfahrens hingewiesen worden war. Auch unter Berücksichtigung des
gesamten Vorbringens der Antragstellerin ist nicht erkennbar, dass ein solcher Antrag gestellt werden sollte. Vielmehr
hat sie den ursprünglichen Antrag im vorliegenden Verfahren wiederholt und damit den gesamten Streitstoff des
vorangegangenen Verfahrens, wenn auch nur bezogen auf die Zeit ab dem 1. Mai 2004, erneut zur Überprüfung
gestellt.
Würde der Senat erneut über denselben Streitgegenstand entscheiden, über den das Sozialgericht Berlin bereits in
seinem Beschluss vom 5. Januar 2004 entschieden hat, würde dies die Rechtskraft des genannten Beschlusses
durchbrechen. In Verbindung mit den hier maßgeblichen Regelungen zur Geschäftsverteilung würde dies dazu führen,
dass die Antragstellerin, die in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes rechtskräftig (teilweise) unterlegen
war, durch nachfolgende Anträge weitere erst- und zweitinstanzliche Spruchkörper zur Entscheidung anrufen könnte.
Hieraus ergäbe sich ein nicht hinnehmbarer Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters. Unter Beachtung
dieses Gebots, das seinen Ausdruck auch in den Vorschriften über die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen
gefunden hat, könnte die Antragstellerin allenfalls dann eine Abänderung der rechtskräftigen Entscheidung des
Sozialgerichts Berlin vom 5. Januar 2004 erreichen, wenn sie - bei der hier zuständigen 75. Kammer des
Sozialgerichts Berlin - einen ausdrücklichen Antrag auf Abänderung der vorangegangenen Entscheidung der selben
Kammer vom 5. Januar 2004 stellte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.
Laurisch Weinert Dr. Kärcher