Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 31.07.2001

LSG Berlin und Brandenburg: fristlose kündigung, öffentliches interesse, abrechnung, leistungserbringer, hauptsache, rechtsgrundlage, verdacht, zerstörung, fehlerhaftigkeit, rückforderung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 31.07.2001 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 75 KR 3807/00 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 15 B 25/01 KR ER
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 4. Januar 2001 aufgehoben.
Die Antragsgegner werden im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, die Antragstellerin bis zur rechtskräftigen
Entscheidung in der Hauptsache so zu behandeln, als bestünde das zwischen ihr und den Antragsgegnern seit dem 6.
Februar 1995 bestehende Vertragsverhältnis über die Versorgung mit Krankentransportleistungen mit
Krankentransportwagen fort. Die Antragsgegner tragen die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Gründe:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 4. Januar 2001 ist gemäß §
172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG- zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag der
Antragstellerin, sie bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die von ihr erhobene Feststellungsklage, dass die durch
die Antragsgegner ausgesprochene Kündigung des zwischen den Beteiligten bestehenden Vertrages über
Krankentransportleistungen unwirksam ist, so zu behandeln als bestünde dieses Vertragsverhältnis fort, zu Unrecht
abgelehnt. Denn die Antragstellerin hat für dieses Begehren sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen
Anordnungsgrund mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft
gemacht (vgl. § 123 Abs. 1 und 3 Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO- in Verbindung mit § 920 Abs. 2
Zivilprozessordnung -ZPO-). Bei der im vorliegenden Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung erscheint auf
der Grundlage der derzeit bekannten Tatsachen ein Obsiegen der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren
wahrscheinlicher als ihr Unterliegen.
1. Es spricht viel dafür, dass Rechtsgrundlage für die streitige Kündigung des zwischen den Beteiligten bestehenden
Vertragsverhältnisses § 10 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 der Vereinbarung der Landesverbände der
Krankenkassen und der Arbeitsgemeinschaft K. e.V. vom 16. Januar 1995 ist; dieser Vereinbarung ist die
Antragstellerin gemäß § 13 am 6. Februar 1995 beigetreten. Denn diese vertragliche Regelung berechtigt in § 10 Abs.
1 Satz 2 die Krankenkassenverbände in B., die Krankentransportvereinbarung mit sofortiger Wirkung zu kündigen,
wenn der Verdacht eines Verstoßes gegen Pflichten aus der Vereinbarung besteht und der Leistungserbringer einer
Aufforderung zur Stellungnahme innerhalb von 14 Tagen nicht nachkommt. In sachgerechter Auslegung dieser
Bestimmung nach § 133, 157 BGB - gegebenenfalls in Verbindung mit § 61 Satz 2 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch -
SGB X- dürfte den Krankenkassenverbänden ein Recht zur fristlosen Kündigung erst Recht dann zustehen, wenn
feststeht, dass der Leistungserbringer gegen Pflichten aus der Vereinbarung verstoßen hat. Nach § 10 Abs. 2 der
genannten Vereinbarung kommt als Vertragsverstoß insbesondere die Abrechnung nicht erbrachter Leistungen in
Betracht, zu denen nicht nur die Abrechnung überhaupt nicht erbrachter, sondern auch die fehlerhafte Abrechnung
durchgeführter Leistungen gehört.
Wortlaut, Aufbau und Systematik der Vertragsbestimmungen lässt sich jedoch entnehmen, dass nicht jede fehlerhafte
Abrechnung zur fristlosen Kündigung führen darf. Unbeschadet der Zuordnung der Vereinbarung zum Zivilrecht oder
im Hinblick auf § 69 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch zum öffentlichen Recht, ist die fristlose Kündigung der
Krankentransportvereinbarung von einer vorherigen Anhörung des Leistungserbringers zum aufgetretenen Verdacht
des Vertragsverstoßes entsprechend § 24 Abs. 1 SGB X abhängig. Aus der Formulierung des § 10 Abs. 1 Satz 2 und
des Abs. 2 Regelbeispiel 1 der Vereinbarung geht weiter hervor, dass auch bei Bestehen eines Vertragsverstoßes die
fristlose Kündigung nicht ausgesprochen werden muss, sondern in das Ermessen der Krankenkassenverbände
gestellt ist. Daraus ist zu schließen, dass nur solche Vertragsverletzungen zur fristlosen Kündigung berechtigen, die
nach Qualität und Umfang so schwer wiegen, dass die Krankenkassenverbände auf die Richtigkeit der ihnen in einem
Massenverfahren vorgelegten Krankentransportabrechnungen nicht mehr vertrauen können. Fehlerhafte Abrechnungen
in einzelnen Fällen, in einem geringen Umfang oder infolge einer nachvollziehbaren aber gleichwohl fehlerhaften
Auslegung der Entgeltbestimmungen berechtigen die Krankenkassenverbände nach § 4 Abs. 1 Satz 3 der
Krankentransportvereinbarung zwar zur sachlich-rechnerischen Prüfung und Rückforderung zu Unrecht gezahlter
Entgelte, jedoch nur dann zur fristlosen Kündigung, wenn der Leistungserbringer trotz Hinweises auf die
Fehlerhaftigkeit seiner Abrechnungen im Rahmen einer sachlichen und rechnerischen Prüfung sein vertragswidriges
Verhalten fortsetzt.
Ginge man mit dem Sozialgericht von einem Recht zur Kündigung in entsprechender Anwendung der §§ 554 a, 626
und 723 BGB (gegebenenfalls in Verbindung mit § 61 Satz 2 SGB X) aus, käme man zu keinem anderen Maßstab für
die Möglichkeit der Antragsgegner zur fristlosen Kündigung, so dass es einer abschließenden Klärung der
Rechtsgrundlage des Kündigungsrechts nicht bedarf.
2. Es lässt sich anhand der Kündigungserklärung der Antragsgegner und der von der Antragsgegnerin zu 1)
vorgelegten Verwaltungsvorgänge nicht feststellen, dass die von der Antragstellerin nur in Einzelfällen eingeräumten
Vertragsverstöße so schwer wiegen, dass das Vertrauen der Antragsgegner in die Abrechnungspraxis der
Antragstellerin endgültig zerstört wäre. Den Verwaltungsvorgängen, der Kündigungserklärung vom 9. November 2000
und dem Vorbringen der Antragsgegner im vorliegenden Verfahren lässt sich entnehmen, dass die Antragsgegnerin zu
1) 237 Transportkostenabrechnungen aus der Zeit vom 8. September bis zum 12. September und vom 6. Oktober bis
zum 10. Oktober 1997 stichprobenartig überprüft und 52 fehlerhafte Abrechnungen mit einer Schadenssumme in Höhe
von insgesamt 2.444,-- DM festgestellt hat. Dabei fällt auf, dass die fehlerhaften Abrechnungen bezogen auf die
fristlose Kündigung sich nicht nur auf einen mehr als drei Jahre zurückliegenden Zeitraum beziehen, sondern auch,
dass sich weder den vorgelegten Verwaltungsakten noch dem Vorbringen der Antragsgegner nachvollziehbar
entnehmen lässt, dass die Antragstellerin auch danach Krankentransporte fehlerhaft abgerechnet hat. Aus den
Angaben der Antragsgegner geht vielmehr hervor, dass der errechnete Schaden „ca. 55.000,-- bis 73.000,-- DM pro
Jahr, hochgerechnet auf fünf bis sechs Jahre ca. 350.000,-- DM“ betragen haben soll; nach einer
staatsanwaltschaftlichen Schätzung soll der Schaden dagegen 107.000,-- DM betragen haben. Mit solchen
divergierenden Angaben lässt sich auch in einem summarischen Verfahren kein hinreichend schwerwiegender
Kündigungsgrund belegen. Vielmehr kann derzeit nur von 52 fehlerhaften Abrechnungen mit einem festgestellten
Schaden von 2.444,-- DM ausgegangen werden. Bezogen auf einen jährlichen Umsatz der Antragstellerin in Höhe von
ca. 3 Mio. DM bewegen sich die nachgewiesenen Abrechnungsfehler ebenso wie die entstandenen Schäden in einem
so geringen Umfang, dass von einer Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen den Beteiligten im
Abrechnungsverfahren nicht gesprochen werden kann. Es lässt sich allerdings nicht ausschließen, dass sich aus den
bei den Antragsgegnern vorhandenen Abrechnungsunterlagen oder den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten
weitere - gegebenenfalls erhebliche - Abrechnungsfehler auch aus der Zeit zwischen 1997 und der
Kündigungserklärung im November 2000 belegen lassen. Die Antragsgegner werden im Hauptsacheverfahren
Gelegenheit haben, hierzu ergänzend vorzutragen und Unterlagen vorzulegen; das Sozialgericht wird sodann zu prüfen
haben, ob die fristlose Kündigung gegebenenfalls auf dieses ergänzende Vorbringen gestützt werden kann und ob
dadurch qualitativ und quantitativ erhebliche Vertragsverstöße nachgewiesen werden können.
3. Bei dieser Sach- und Rechtslage erübrigt es sich, auf die weiteren von der Antragstellerin vorgebrachten rechtlichen
Einwände gegen die fristlose Kündigung einzugehen.
4. Das für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes erforderliche eilige Regelungsbedürfnis ergibt sich daraus, dass
die Antragstellerin beim sofortigen Eintritt der Wirkung der von den Antragsgegnern ausgesprochenen fristlosen
Kündigung in ihrer Existenz gefährdet wäre. Sie hat glaubhaft vorgetragen, dass ihr Unternehmen weiterhin sowohl auf
die Durchführung von Krankentransport- wie Mietwagenfahrten angewiesen ist, um bestehen zu können, selbst wenn
Krankentransportfahrten für die
Träger der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit ausmachen sollten, wie die
Antragsgegnerin zu 1) behauptet hat. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind hier keine hohen Anforderungen
zu stellen, weil ein Anordnungsanspruch offensichtlich besteht. Berücksichtigt man, dass die von den Antragsgegnern
ausgesprochene fristlose Kündigung nach ihren Voraussetzungen wie ihren Rechtsfolgen wie ein sofort vollziehbarer,
belastender Verwaltungsakt wirkt, so muss zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine Kündigung eines
Vertragsverhältnisses grundsätzlich ausreichen, dass diese sich bei summarischer Prüfung als rechtswidrig erweist
und dem Betroffenen daraus nicht unerhebliche Nachteile erwachsen können. Denn wie bei Verwaltungsakten besteht
auch an der Umsetzung einer fristlosen Kündigung dann kein öffentliches Interesse, wenn diese offensichtlich
rechtswidrig ist.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).