Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 28.11.2008

LSG Berlin und Brandenburg: psychische störung, umzug, ambulante behandlung, wohnung, unzumutbarkeit, sozialdienst, glaubhaftmachung, rechtsschutz, therapie, heizung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 28.11.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 157 AS 21590/08 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 29 B 1944/08 AS ER
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 1. September 2008
geändert.
Der Antragsgegner wird vorläufig verpflichtet, der Antragstellerin für den Zeitraum vom 1. Dezember 2008 bis zum 31.
März 2009 Kosten der Unterkunft in tatsächlicher Höhe zu zahlen.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin verfolgt mit ihrer Beschwerde ihr Begehren, den Antragsgegner zur vorläufigen Zahlung von Kosten
der Unterkunft und Heizung (KdU) in tatsächlicher Höhe zu verpflichten.
Die 1953 geborene Antragstellerin bezieht seit Januar 2005 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
(SGB II). Sie ist allein stehend und bewohnt seit 1993 eine 76,25 m² große 2 –Zimmer- Wohnung mit einem
monatlichen Mietzins in aktueller Höhe von 733,08 EUR.
Mit Schreiben vom 25. Juli 2006 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin erstmalig auf, ihre KdU zu senken.
Diese seien unangemessen hoch; für einen 1-Personen-Haushalt sei lediglich eine Bruttowarmmiete in Höhe von
monatlich 360,00 EUR angemessen. Die Antragstellerin teilte daraufhin mit Schreiben vom 16. September 2006 mit,
sie befinde sich derzeit in einer psychischen Krise und ein Umzug hätte für sie katastrophale Folgen.
Die Antragstellerin wurde zu einem Gespräch beim Sozialdienst für erwerbsfähige und soziale Wohnhilfe des
Bezirksamts Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin eingeladen. Dort legte die Antragstellerin ein Attest ihres
behandelnden Psychiaters (Herrn W, mit Praxisadresse in der M, B–Wedding) vom 5. September 2006 vor, in dem
dieser der Antragstellerin eine psychische Störung von Krankheitswert bescheinigte, und einen bevorstehenden
Wohnungswechsel innerhalb der nächsten sechs Monate nicht befürwortete. Der Sozialdienst hielt eine weitere Frist
zum Umzug von 6 Monaten für notwendig. Der Antragstellerin wurden daraufhin weiterhin KdU in tatsächlicher Höhe
gezahlt.
Mit Schreiben vom 11. Mai 2007 (inhaltsgleich Schreiben vom 8. Juni 2007) teilte der Sozialdienst auch im Folgejahr
nach Gesprächen mit der Antragstellerin mit, dass ein Umzug immer noch nicht zumutbar sei und schlug jeweils eine
weitere Frist von 6 Monaten vor. Außerdem legte die Antragstellerin ein weiteres Attest des behandelnden Arztes vom
26. Juli 2007 vor, mit dem Wohnungswechsel innerhalb der nächsten sechs Monate wiederum nicht befürwortet
worden war. Diesen Vorschlägen folgte der Antragsgegner und bewilligte der Antragstellerin weiterhin KdU in Höhe der
tatsächlichen Aufwendungen; noch mit Bescheid vom 22. Mai 2008 wurden der Antragstellerin für die Monate Mai und
Juni 2008 KdU in monatlicher Höhe von 726,55 EUR bewilligt.
Für den Zeitraum vom 1. Juli 2008 bis zum 31. Dezember 2008 bewilligte der Antragsgegner dann mit Bescheid vom
22. Mai 2008 jedoch nur noch KdU in monatlicher Höhe von 382,01 EUR. Gegen diesen Bescheid erhob die
Antragstellerin am 10. Juni 2008 Widerspruch und legte erneut ein Attest des behandelnden Psychiaters mit Datum
vom 9. Juni 2008 vor. Zur Begründung führte sie weiter aus, ihre Wohnung, in der sie seit über 15 Jahren wohne, sei
ihre Zuflucht und ihr letzter Halt in der ansonsten oft aussichtslos erscheinenden Situation. Sie sei zudem finanziell
nicht in der Lage, die von ihr vorzunehmenden Rückbauten in der Wohnung durchzuführen.
Am 11. Juli 2008 hat die Antragstellerin bei dem Sozialgericht Berlin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die
Weitergewährung der Kosten der Unterkunft in tatsächlicher Höhe begehrt. Zum Nachweis einer Unzumutbarkeit eines
derzeitigen Umzuges legte sie nach Aufforderung des Gerichts ein ärztliches Attest des behandelnden Psychiaters
(Herrn W) vom 12. August 2008 vor, indem dieser ausführte, es sei mit einer Verschlechterung des psychischen
Zustandes der Antragstellerin zu rechnen, wenn sie ihre Wohnung zurzeit wechseln müsse. Er halte eine Fortführung
der ambulanten psychiatrischen Behandlung und medikamentösen Therapie für unbedingt erforderlich.
Das Sozialgericht Berlin hat mit Beschluss vom 1. September 2008 den Antrag abgelehnt und zur Begründung
ausgeführt, ein Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht. Die derzeitigen tatsächlichen Kosten der Unterkunft
seien unangemessen und es sei nicht glaubhaft gemacht, dass ein Umzug nicht zumutbar sei. Gegen diesen der
Antragstellerin am 8. September 2008 zugestellten Beschluss hat sie am 30. September 2008 Beschwerde bei dem
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingelegt.
Während des laufenden Verfahrens hat der Antragsgegner den Widerspruch gegen den Bescheid vom 22. Mai 2005
mit Widerspruchsbescheid vom 18. Juni 2008 zurückgewiesen; gegen diese Entscheidung hat die Antragstellerin vor
dem Sozialgericht Berlin die unter dem Aktenzeichen S 157 AS 21590/08 registrierte Klage erhoben. Mit Bescheid
vom 20. November 2008 hat der Antragsteller auch für den Folgezeitraum (1. Januar 2009 bis 30. Juni 2009) KdU nur
in monatlicher Höhe von 382 EUR bewilligt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der
Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten (), die Gegenstand der Entscheidung gewesen
sind, Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet; im Übrigen
ist sie unbegründet.
Nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG - kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige
Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des
bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden
könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b
Abs. 2 S. 2 SGG). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass der Antragsteller das Bestehen eines
zu sichernden Rechts (den so genannten Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (den
so genannten Anordnungsgrund) glaubhaft macht (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG, § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO -
). Auch im Beschwerdeverfahren sind die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der gerichtlichen
Entscheidung maßgeblich (OVG Hamburg, NVwZ 1990, 975).
Soweit die Antragstellerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig die Zahlung der tatsächlichen KdU
begehrt, ist für den Zeitraum vom 1. Dezember 2008 bis zum 31. März 2009 nach der gebotenen summarischen
Prüfung sowohl eine Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund als glaubhaft gemacht anzusehen.
Ein Anordnungsanspruch ergibt sich vorliegend aus § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II.
Grundsätzlich werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen nur dann
erbracht, soweit dieser angemessen sind (§ 22 Abs.1 S. 1 SGB II). Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft den
der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen, sind sie aber als Bedarf des allein stehenden
Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft so lange zu berücksichtigen, wie es dem allein stehenden
Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen
Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch
längstens für sechs Monate (§ 22 Abs.1 Satz 3 SGB II).
Nach diesen Regelungen ist ein Anspruch auf Gewährung der tatsächlichen KdU glaubhaft gemacht.
Wie sowohl der Antragsgegner und auch das Sozialgericht zutreffend ausgeführt haben, übersteigen die derzeitigen
Kosten der Unterkunft in monatlicher Höhe von 733,08 EUR, die Höhe der angemessenen Kosten zwar bei weitem.
Sie sind jedoch nach § 22 Abs.1 S. 3 SGG II solange zu berücksichtigen, wie es der Antragstellerin nicht zuzumuten
ist, sie zu senken. Vorliegend kommt einzig eine Senkung der Kosten durch einen Wohnungswechsel in Betracht. Die
Zumutbarkeit eines solchen Umzuges ist jedoch derzeit nicht absehbar.
Zwar ergibt sich eine Unzumutbarkeit eines Umzuges nicht aus den notwendigen Rückbauten in der Wohnung. Die
von der Antragstellerin erwähnten Maßnahmen (Entfernung des verklebten Teppichbodens, Renovierung der Wohnung
und Entfernung von Einbauten sowie Licht- und Galerieleisten) fallen regelmäßig im Fall eines Umzuges an und
können daher eine Unzumutbarkeit eines Umzuges nicht begründen.
Die gesundheitliche Situation der Antragstellerin spricht jedoch für eine Unzumutbarkeit eines Umzuges.
Hierzu ist anzumerken, dass im Rahmen einer Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz regelmäßig nur eine
summarische Prüfung stattfinden kann und die Voraussetzungen für den begehrten Leistungsanspruch nicht
nachgewiesen werden müssen, sondern eine Glaubhaftmachung ausreichend ist. Eine solche Glaubhaftmachung ist
der Antragstellerin gelungen. Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass sie für weitere Monate einen Anspruch auf die
begehrte Leistung hat.
Vorliegend leidet die Antragstellerin ausweislich der vorgelegten Atteste des behandelnden Psychiaters bereits seit
mehreren Jahren an seelischen Leiden. Nicht nur die Antragstellerin und ihr behandelnder Psychiater, sondern auch
der Sozialdienst des Bezirksamtes Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin und mit ihm der Antragsgegner gingen in
der Vergangenheit seit Jahren davon aus, dass der Antragstellerin aufgrund ihrer seelischen Leiden ein Umzug nicht
zuzumuten sei. Entsprechend bewilligte der Antragsgegner die Leistungen noch mit Bescheid vom 22. Mai 2008 bis
einschließlich 30. Juni 2008.
Dass ab dem 1. Juli 2008 eine Änderung im gesundheitlichen Zustand der Antragstellerin eingetreten ist, die zur
nunmehrigen Zumutbarkeit eines Umzugs führt, ist nicht ersichtlich. Medizinische Ermittlungen wurden von dem
Antragsgegner nicht durchgeführt. Der behandelnde Psychiater bescheinigte der Antragstellerin demgegenüber noch
mit Attest vom 9. Juni 2008 und 12. August 2008, dass er einen Umzug der Antragstellerin aus gesundheitlichen
Gründen weiterhin ablehne.
Zwar ist insbesondere in dem Attest vom 12. August 2008 nicht konkret dargelegt, aus welchen Gründen sich der
psychische Zustand der Antragstellerin im Falle eines Umzuges verschlechtern würde. Als Begründung wird allenfalls
ausgeführt, dass eine Fortführung der ambulanten psychiatrischen Behandlung und medikamentösen Therapie aus
Gründen der Stabilisierung des seelischen Zustandes und des bisher erreichten Behandlungserfolges unbedingt
erforderlich sei. Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass ein Umzug einer solchen weiteren Behandlung entgegensteht.
Dies gilt umso mehr, als die Antragstellerin bereits derzeit für eine ambulante Behandlung einen Weg von ihrer
Wohnung (in S) zur Praxis des behandelnden Psychiaters (in Wedding) von über 10 km auf sich nimmt.
Aufgrund der bisherigen Entwicklung genügen aber diese Atteste jedoch als Mittel noch einer Glaubhaftmachung des
Anordnungsanspruches. Bescheinigt der behandelnde Arzt (weiterhin) gesundheitliche Leiden, die nach seiner
Einschätzung einem Umzug entgegenstehen, so ist der Antragsgegner im Wege der Amtsermittlung regelmäßig
gehalten, medizinische Ermittlungen zur Klärung einer Zumutbarkeit des Wohnungswechsels durchzuführen. Dies gilt
umso mehr, wenn der Antragsgegner der Einschätzung des Arztes selbst jahrelang gefolgt ist. In einer solchen
Situation kann im Zweifel so lange nicht von einer nunmehrigen Zumutbarkeit eines Umzuges ausgegangen werden,
wie ein ausreichender Gesundheitszustand nicht dokumentiert ist.
Entsprechend sieht der Senat die Notwendigkeit einer vorläufigen Weitergewährung der tatsächlichen Kosten für einen
Übergangszeitraum, der für die medizinischen Ermittlungen (Einholung eines medizinischen Gutachtens) notwendig
ist. Da die Erstellung eines Gutachtens gerichtsbekannt regelmäßig mehrere Monate in Anspruch nimmt, hält der
Senat als Übergangszeitraum den Zeitraum vom 1. Dezember 2008 bis zum 31. März 2009 für angemessen.
Insoweit ist die Beschwerde begründet, weil für diesen Zeitraum auch ein Anordnungsgrund vorliegt. Die
Antragstellerin ist finanziell nicht in der Lage, die Differenz zwischen den bewilligten 382 EUR und den tatsächlichen
Kosten der Unterkunft in Höhe von rund 733 EUR zu zahlen.
Die Beschwerde ist demgegenüber insoweit unbegründet, als die Antragstellerin auch höhere Leistungen bis zum
Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts begehrt.
Für den zurückliegenden Zeitraum vom 1. Juli 2008 bis zum 30. November 2008 ist zumindest ein Anordnungsgrund
nicht ersichtlich. Leistungen nach dem SGB II werden grundsätzlich nicht für die Vergangenheit gewährt und
einstweiliger Rechtsschutz kommt regelmäßig nur zur Abwendung gegenwärtiger Nachteile infrage. Solche
gegenwärtigen Nachteile wurden von der Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere ist nicht absehbar,
dass aufgrund der aufgelaufenen Mietrückstände tatsächlich ein Wohnungsverlust konkret droht.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und trägt dem Umstand
Rechnung, dass der Antragsgegner durch seine unterlassenen medizinischen Ermittlungen Anlass für den Antrag auf
einstweiligen Rechtsschutz gegeben hat.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).