Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 03.03.2006

LSG Berlin und Brandenburg: geburt, zeitliche geltung, wohnung, arbeitsgemeinschaft, bekleidung, stadt, schwangerschaft, verwaltungsverfahren, zubehör, notlage

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 03.03.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Potsdam S 15 AS 878/05 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 10 B 106/06 AS ER
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Leistungen für eine
Säuglingserstausstattung in Höhe von 50 Euro zu zahlen. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen. Die
Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die Hälfte seiner außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen im Zusammenhang mit der Geburt des Antragstellers am
24. Juli 2005.
Die Mutter und gesetzliche Vertreterin des Antragstellers S D (im Folgenden S.D.) stellte am 5. April 2005 einen
Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für
sich selbst und die am 31. Oktober 1997 geborene Tochter. Mit Schreiben vom 28. April 2005 teilte S.D. mit, dass sie
ihr zweites Kind erwarte, voraussichtlicher Geburtstermin des Kindes (des Antragstellers dieses Verfahrens) sei der
20. Juli 2005. Sie beantragte einmalige Leistungen wegen Schwangerschaft; sie benötige Umstandskleidung,
Klinikbedarf sowie Babyerstausstattung und größere Gebrauchsgegenstände für das Kind nach der Entbindung.
Mit getrennten Bescheiden vom 22. Juni 2005 bewilligte die Antragsgegnerin für die Erstausstattung für Bekleidung
bei Schwangerschaft einen Betrag von 102,- Euro, sowie für die Erstausstattung für Bekleidung bei Geburt einen
Betrag von 120,- Euro. Mit weiterem Bescheid vom 23. Juni 2005 bewilligte die Antragsgegnerin der S.D. und ihrer
Tochter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II.
Mit Schreiben vom 4. Juli 2005 wurde Widerspruch gegen die Bescheide vom 22. Juni 2005 eingelegt, mit dem
Leistungen zur Anschaffung eines Kinderbetts, einer Wickelkommode nebst Auflage, eines Kinderzimmerschrankes,
sowie für Auslegeware und einen Kinderwagen begehrt wurde.
Mit Bescheid vom 1. September 2005 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Es seien Leistungen zur Anschaffung
von Schwangerschaftsbekleidung und Babyerstbekleidung bewilligt worden. Weitere Bedarfe seien von der
Regelleistung abgedeckt.
S.D. hat hiergegen Klage beim Sozialgericht (SG) Potsdam zum Aktenzeichen S 15 AS 599/05 erhoben, über die
noch nicht entschieden ist.
Mit Schreiben vom 28. November 2005 hat sie einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt, mit dem sie
Leistungen für einen Kinderzimmer-Schrank, ein Laufgitter, Kopfkissen und Decke, Badewanne, Hochstuhl und
Babykocher begehrt. Diese Gegenstände seien als Erstausstattung der Wohnung zu erbringen, zu deren
Leistungskatalog auch die Babyerstausstattung gehöre, soweit es sich nicht um Kleidung handele, die als
Erstausstattung für Bekleidung zu leisten sei. Die besondere Eilbedürftigkeit ergebe sich daraus, dass das Kind
bereits geboren sei. Die in den ersten Wochen genutzten Gegenstände seien geborgt worden und müssten wieder
zurückgegeben werden.
Die Antragsgegnerin meint, weitere Kosten für die Babyerstausstattung seien nicht zu übernehmen. Die Ziffer 5.2.4.
ihrer Arbeitsanweisung (Nr. 1/2005 für den Fachbereich Soziales, Wohnung und Senioren und der Antragsgegnerin
vom 23. August 2005) sehe zwar ab dem 15. September 2005 für die Babyerstausstattung mit größeren
Gebrauchsgegenständen nach der Geburt eine einmalige Pauschale i.H.v. 175,- Euro vor. S.D. bzw. der Antragsteller
könnten sich auf die geänderte Richtlinie nicht berufen, da diese im Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht gegolten
habe. Außerdem habe S.D. vor Inkrafttreten der neuen Arbeitsanweisung am 15. September 2005 die begehrten
Gegenstände selbst angeschafft. Im Übrigen sei S.D. auf einen zivilrechtlich geltend zu machenden
Unterhaltsanspruch des Antragstellers gegenüber dem Kindesvater zu verweisen.
Bei einem Hausbesuch eines Mitarbeiters der Antragsgegnerin am 14. Dezember 2005 wurde festgestellt, dass
zahlreiche Gegenstände angeschafft worden waren, u.a. eine Wickelkommode, ein Kinderbett, ein Kleiderschrank und
ein Kinderwagen.
Mit Beschluss vom 29. Dezember 2005 hat das SG Potsdam den Antrag zurückgewiesen. Ein großer Teil der
Säuglingsausstattung sei bereits vorhanden. Hinsichtlich der Kostenübernahme für ein Laufgitter, ein Kopfkissen, eine
Badewanne einen Hochstuhl und einen Babykocher sei die Hilfebedürftigkeit nicht hinreichend glaubhaft gemacht
worden. S.D. habe einen familienrechtlichen Anspruch gegenüber dem Kindsvater auf Erstattung bzw. Finanzierung
der von ihr begehrten Gegenstände.
Gegen den am 5. Januar 2006 zugestellten Beschluss richtet sich die am 30. Januar 2006 erhobene Beschwerde. Der
Kindesvater halte sich nicht mehr in Deutschland auf. Da die Vaterschaft nicht anerkannt worden sei, laufe ein
entsprechendes Verfahren über das Jugendamt seit August 2005. Eine Klage sei im November 2005 eingereicht
worden.
Die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin lagen vor und waren Gegenstand der Entscheidung.
II.
Die zulässige Beschwerde hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg und ist im Übrigen zurückzuweisen.
Das Aktivrubrum war von Amts wegen zu berichtigen. Aktivlegitimiert für den hier geltend gemachten
Erstausstattungsbedarf bei Geburt ist zwar bis zur Geburt die Kindesmutter, da dem ungeborenen Kind noch kein
eigener Hilfeanspruch zusteht (für den Bereich der Sozialhilfe, vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 30. März 2000,
NJW 2001, 1514). Nach der Geburt steht dem Kind indes ein eigener Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt
zu, den es im eigenen Namen geltend macht. Die Kindesmutter macht keine eigenen Ansprüche, sondern als
gesetzliche Vertreterin ihres minderjährigen Kindes dessen Ansprüche geltend (vgl. LSG Hamburg, Beschluss vom 2.
August 2005, FEVS 2006, 62).
Das Passivrubrum war ebenfalls von Amts wegen zu berichtigen, da die auf der Grundlage der am 7. Dezember 2004
unterzeichneten Gründungsvereinbarung gebildete Arbeitsgemeinschaft der Stadt Potsdam und der Bundesagentur für
Arbeit , bezeichnet als Potsdamer Arbeitsgemeinschaft zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (PAGA), vertreten
durch den Geschäftsführer, nach Auffassung des Senats im Sinne des § 70 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
beteiligtenfähig ist (für die Arbeitsgemeinschaft des Landes Berlin und der Bundesagentur für Arbeit für den örtlichen
Bereich des Verwaltungsbezirks Lichtenberg- Hohenschönhausen, Beschluss des Senats vom 14. Juni 2005, als
vormals 10. Senat des Landessozialgerichts Berlin, L 10 B 44/05 AS ER).
Dem Antrag des Antragstellers war in Anwendung des § 86b Abs. 2 SGG teilweise stattzugeben, weil der Senat die
Tatsachenlage im einstweiligen Verfahren nicht vollständig durchdringen kann und eine Folgenabwägung (Leistung/
Nichtleistung) zu Gunsten des Antragstellers zu treffen ist.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht auf Antrag zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf
ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die danach zu treffende Entscheidung kann sowohl auf einer
Folgenabwägung (Folgen einer vorläufigen und möglicherweise teilweisen Zuerkennung gegenüber Folgen einer
aktuellen Versagung des Anspruchs) als auch auf eine Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt
werden, wobei in diesem Fall, wenn im Bereich grundgesetzlicher Gewährleistungen der erhobene Anspruch abgelehnt
werden soll, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen ist (vgl. im Einzelnen:
BVerfG 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05-).
Vorliegend besteht ein Anspruch des Antragstellers "dem Grunde nach", dem ein gleichgerichteter Anspruch gegen
den Kindsvater nur unter bestimmten, hier nicht positiv festgestellten Umständen (unter dem Gesichtspunkt des
Wegfalls der Hilfebedürftigkeit) entgegengehalten werden kann. Wegen der insoweit verbleibenden Unwägbarkeiten
und da Feststelllungen zum Umfang des Bedarfs nicht vollständig gesichert sind, war ein Betrag von 50,- Euro im
Wege der Folgeabwägung zuzusprechen.
Im Einzelnen gilt folgendes: Der anlässlich einer Geburt entstehende Bedarf eines Säuglings, soweit es sich nicht um
Bekleidungsbedarf i.S.d. § 23 Abs. 3 Nr. 2 SGB II handelt, begründet einen außergewöhnlichen Bedarf; für das
neugeborene Kind sind daher Leistungen für die Erstausstattung der Wohnung zu prüfen (so auch Landessozialgericht
Rheinland Pfalz, Beschluss vom 12. Juli 2005, L 3 ER 45/05 AS). Dieser Bedarf ist als Erstausstattung für die
Wohnung i.S.d. § 23 Abs. 3 Nr. 1 SGB II anzusehen, da mit der Geburt eines Kindes für dieses ein "neuer Bedarf
aufgrund außergewöhnlicher Umstände" (Münder, SGB II, § 23 Rn. 23) entsteht. Von dieser grundsätzlichen
Einschätzung des durch Regelleistung nicht gedeckten Bedarfes eines Kindes anlässlich seiner Geburt geht nun auch
die Antragsgegnerin aus. So sieht die seit 15. September 2005 geltende Ziffer 5.2.4. der Arbeitsanweisung Nr. 1/2005
für den Fachbereich Soziales, Wohnung und Senioren und der Antragsgegnerin vom 23. August 2005 nunmehr vor,
dass für die Babyerstausstattung mit größeren Gebrauchsgegenständen nach der Geburt eine einmalige Pauschale
dass für die Babyerstausstattung mit größeren Gebrauchsgegenständen nach der Geburt eine einmalige Pauschale
i.H.v. 175,- Euro zu gewähren ist. Bei der Frage, ob ein über die Regelleistung hinausgehender Bedarf besteht, kann
entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht auf die zeitliche Geltung von Arbeitsanweisungen abgestellt
werden. Maßgeblich ist allein die Frage, ob sich aus der gesetzlichen Vorschrift des § 23 Abs. 3 SGB II Ansprüche
des Antragstellers auf Deckung seines Bedarfes ergeben. Der oben festgestellte grundsätzliche Bedarf des Kindes,
der weder von der Kindesmutter, noch von dem Kind aus den Regelleistungen gedeckt werden kann und soll, umfasst
neben Kinderbett und Kinderwagen mit Zubehör nach der Rechtsprechung der Gerichte etwa auch eine
Wickelkommode (SG Hannover, Beschluss vom 13. April 2005, S 46 AS 62/05), einen Kinderhochstuhl (Sozialgericht
Speyer, Beschluss vom 14. Juni 2005, S 16 ER 100/05 AS) und einen Laufstall (VG Kassel info also 1984, 63).
Dem Anspruch des Antragstellers kann nach der bislang im Verwaltungsverfahren geleisteten Sachverhaltsaufklärung
ein möglicher zivilrechtlicher Unterhaltsanspruch des Kindes gegenüber seinem Vater auf Erstausstattung nicht
entgegengehalten werden. Da es für die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auf die
tatsächliche Lage und für die Behebung der Notlage auf "bereite Mittel" ankommt, muss der Anspruch zumindest dem
Grunde nach feststehen, fällig sein und in angemessener Zeit realisiert werden. Feststellungen hierzu sind dem
Verwaltungvorgang nicht zu entnehmen. Das Vorbringen im Beschwerdeverfahren legt vielmehr nahe, dass
realisierbare Unterhaltsansprüche derzeit nicht festzustellen sind.
Bei der Bemessung der Höhe des an den Antragsteller im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zuzuerkennenden
noch zu deckenden Sonderbedarfs war zu berücksichtigen, dass der anlässlich der Geburt eines Säuglings
entstehende Sonderbedarf (Bekleidungsbedarf eingeschlossen) sich in einer Größenordnung von rund 500,- Euro
bewegen dürfte. So sehen etwa die im Land Berlin geltenden Vorschriften für die Babyerstausstattung (Bekleidungs-
und Hygienebedarf und Bettenausstattung) einen Betrag von 310,74 Euro vor. Zusätzlich sind weitere Bedarfe zu
decken: 100,- Euro für einen Kinderwagen (gebraucht) mit Matratze (neu), 100,- Euro für ein Kinderbett (gebraucht) mit
Matratze (neu) und 15,- Euro für einen Hochstuhl (vgl. Rundschreiben I Nr. 38/2004 der Senatsverwaltung für
Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz). In der Hansestadt Hamburg beträgt die Babypauschale 500,- Euro und
deckt dort sämtliche geburtsbedingte Bedarfe ab (vgl.http:/fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/behoerden/soziales-
familie/infoline/dienstvorschriften).
Davon ausgehend ergibt sich der einstweilig zu befriedigende Bedarf mit 50,- Euro. Der Senat hat berücksichtigt, dass
bislang nur eine Bekleidungspauschale geleistet worden ist und die großen und teueren Gegenstände wie Bett,
Schrank und Kinderwagen bereits vorhanden sind. Für die danach verbleibenden Anschaffungen (insbesondere
Kinderhochstuhl, Laufgitter), welche angesichts des derzeitigen Lebensalters des Antragstellers nunmehr dringend
benötigt werden – dies ist auch der für den Senat wesentliche Abwägungsgesichtspunkt - ist der bestimmte Betrag
erforderlich, aber auch ausreichend. Soweit weitergehende Ansprüche erhoben sind, war der Antrag zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren folgt aus entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).