Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 15.01.2007

LSG Berlin-Brandenburg: psychosyndrom, komplikationen, enzephalitis, behinderung, hepatitis, osteoporose, bluthochdruck, periarthritis, vorschlag, gesellschaft

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
13. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 13 SB 112/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 48 SGB 10, § 69 SGB 9
GdB - Anfechtung - Verpflichtungsklage - Klagenhäufung
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom
15. Januar 2007 geändert.
Der Bescheid des Beklagten vom 16. September 2004 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2004 wird hinsichtlich der darin
enthaltenen Absenkung des GdB aufgehoben.
Der Beklagte wird unter Änderung der vorgenannten Bescheide und des
Bescheides vom 9. November 2010 verpflichtet, bei dem Kläger ab April
2009 einen Grad der Behinderung von 100 festzustellen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des
gesamten Verfahrens in vollem Umfang zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei dem Kläger festzustellenden Grades der
Behinderung (GdB).
Der Beklagte hatte bei dem 1952 geborenen Kläger mit Bescheid vom 13. Dezember
2001 einen Gesamt-GdB von 90 festgestellt und sich die Nachprüfung des
Gesundheitszustandes für Dezember 2003 vorbehalten. Hierbei hatte er folgende
(verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB
bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde gelegt:
a) Myelodysplastisches Syndrom mit Knochenmarktransplantation 12/2000 (80),
b) Gleichgewichtsstörungen und Gangstörung nach toxischer Enzephalitis mit
hirnorganischem Psychosyndrom und multiplen infektiösen Komplikationen (40),
c) Arbeitsunfallfolgen (20),
d) wiederkehrende Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre, chronische Gastritis (10),
e) wiederkehrende Periarthritis beider Schultern (10),
f) Herzfehler, Vorhofseptumaneurysma (10).
Den Verschlimmerungsantrag von April 2002 lehnte er mit Bescheid vom 14. Oktober
2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2003 ab.
Auf den weiteren Verschlimmerungsantrag des Kläger vom 11. März 2004 setzte der
Beklagte nach dessen Anhörung auf der Grundlage der gutachterlichen Stellungnahmen
der Internisten Dr. S und Dr. T sowie des Dr. K mit Bescheid vom 16. September 2004 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2004 den Gesamt-GdB auf
80 herab, wobei er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde legte:
a) Arbeitsunfallfolgen (20),
b) wiederkehrende Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre, chronische Gastritis (10),
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c) wiederkehrende Periarthritis beider Schultern (10),
d) myelodysplastisches Syndrom mit Knochenmarktransplantation 12/2000 im
Stadium der kompletten Remission (20),
e) Gleichgewichtsstörungen und Gangstörung nach toxischer Enzephalitis mit
hirnorganischem Psychosyndrom und multiplen infektiösen Komplikationen (50),
f) chronische Leberentzündung – Hepatitis (30),
g) Herzfehler, Vorhofseptumaneurysma, Bluthochdruck (20).
Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Feststellung eines
Gesamt-GdB von 100 begehrt. Neben Befundberichten hat das Sozialgericht das
Gutachten des Allgemeinmediziners Dr. B vom 23. Juni 2006 eingeholt, der einen
Gesamt-GdB von 80 vorgeschlagen hat.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 15. Januar 2007 abgewiesen. Es ist hierbei
der Bewertung durch den Sachverständigen gefolgt.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er hat u.a. den Arztbericht der
V GmbH vom 3. Januar 2007 über die Ende 2006 durchgeführte ambulante
Rehabilitationsmaßnahme eingereicht. Der Senat hat diverse Befund- und
Entlassungsberichte der den Kläger behandelnden Ärzte eingeholt. Ferner hat der
Beklagte das externe Gutachten des Orthopäden Dr. V vom 2. April 2008 vorgelegt,
wonach trotz Aufnahme eines weiteren Einzel-GdB von 20 für Funktionsbehinderungen
der Wirbelsäule und Osteoporose der Gesamt-GdB weiterhin mit 80 zu bewerten sei.
Auf den Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat den
Orthopäden Dr. Th gehört, der sich im Gutachten vom 18. November 2009 im Hinblick
auf die wesentlichen Verschlechterungen auf orthopädischem Gebiet für einen Gesamt-
GdB von 90 ausgesprochen hat.
Der Senat hat schließlich Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des
Nervenarztes Dr. C vom 18. August 2010. Der Sachverständige hat vorgeschlagen, die
Gleichgewichtsstörungen und Gangstörungen nach mehrzeitig aufgetretenen ZNS-
Läsionen und das leichte hirnorganische Psychosyndrom ab 2009 mit einem GdB von 60
zu bewerten. Daraufhin hat der Beklagte mit Bescheid vom 9. November 2010 bei dem
Kläger einen Gesamt-GdB von 90 ab April 2009 festgestellt. Folgende Einzel-GdB legte
er hierbei zugrunde:
a) Gleichgewichtsstörungen und Gangstörungen nach toxischer Enzephalitis und
mehrfache Hirninfarkte mit hirnorganischem Psychosyndrom und multiplen infektiösen
Komplikationen (60),
b) myelodysplastisches Syndrom mit Knochenmarktransplantation 12/2000 nach
Ablauf der Heilungsbewährung (30),
c) chronische Hepatitis B (30),
d) Arbeitsunfallfolgen (20),
e) Herzfehler, Vorhofseptumaneurysma, Bluthochdruck (20),
f) wiederkehrende Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre, chronische Gastritis (20),
g) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Osteoporose (20),
h) chronische Bronchitis, Lungenfunktionseinschränkung (20).
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Januar 2007 aufzuheben sowie
1. den Bescheid des Beklagten vom 16. September 2004 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2004 hinsichtlich der darin
enthaltenen Absenkung des GdB aufzuheben,
2. den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 16. September 2004 in
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2. den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 16. September 2004 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2004 und in der
Fassung des Bescheides vom 9. November 2010, soweit diese eine
Anhebung des GdB ablehnen, zu verpflichten, bei ihm ab März 2004 einen
Grad der Behinderung von 100 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält an seinen Entscheidungen fest.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug
genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des
Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand
der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
Die Anfechtungsklage, die insoweit gegen den Bescheid vom 16. September 2004 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2004 gerichtet ist, als der
Beklagte den Gesamt-GdB auf 80 herabstufte, ist begründet. Denn in dem für die
Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides betrug
der Gesamt-GdB bei dem Kläger nicht lediglich 80, sondern unverändert 90.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die
Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach
Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30
Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind als antizipierte
Sachverständigengutachten die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale
Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP)
heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum in den
Fassungen von 2004, 2005 und – zuletzt – 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der
Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008
(BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ in Form einer
Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP – ohne dass hinsichtlich der medizinischen
Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre – abgelöst haben.
Bei dem myelodysplastischen Syndrom mit Knochenmarktransplantation im Dezember
2000 (das im Übrigen den zutreffenden Hinweisen des Gutachters Dr. B zufolge in den
Vorbescheiden nicht mit einem GdB von 80, sondern mit einem GdB von 100 hätte
bewertet werden müssen) ist nach drei Jahren, also im Dezember 2003,
Heilungsbewährung eingetreten. Nach Nr. 26.16 (S. 104) der AHP 2004 bzw. Teil B Nr.
16.8 (Bl. 79) der Anlage 2 zur VersMedV ist der GdB nicht niedriger als 30 zu bewerten.
Demgegenüber stellte der Beklagte insoweit fälschlicherweise nur einen GdB von 20 ein.
Der Senat sieht hingegen keinen Anlass, von der Bewertung der Gleichgewichts- und
Gangstörungen nach toxischer Enzephalitis mit hirnorganischem Psychosyndrom und
multiplen infektiösen Komplikationen durch Beklagten mit einem GdB von 50
abzuweichen. Dem Vorschlag des Sachverständigen Dr. B, diesen Komplex mit einem
GdB von 40 zu bewerten, wird nicht gefolgt, da die Befundlage, wie der Gutachter
einräumt, für den Zeitraum vor seiner Begutachtung lückenhaft ist. Aus den Einzel-GdB
für
a) Arbeitsunfallfolgen (20),
b) wiederkehrende Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre, chronische Gastritis (10),
c) wiederkehrende Periarthritis beider Schultern (10),
d) myelodysplastisches Syndrom mit Knochenmarktransplantation 12/2000 im
Stadium der kompletten Remission (30),
e) Gleichgewichtsstörungen und Gangstörung nach toxischer Enzephalitis mit
hirnorganischem Psychosyndrom und multiplen infektiösen Komplikationen (50),
f) chronische Leberentzündung – Hepatitis (30),
g) Herzfehler, Vorhofseptumaneurysma, Bluthochdruck (20)
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ist ein Gesamt-GdB von 90 zu bilden. Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen
am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den
Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer
wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Nr. 19 Abs. 3 der AHP bzw. Teil A Nr.
3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der
Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im
Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit
hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Der Einzel-GdB von 50 für die
Gleichgewichtsstörungen und Gangstörung nach toxischer Enzephalitis mit
hirnorganischem Psychosyndrom und multiplen infektiösen Komplikationen ist im
Hinblick auf die mit jeweils einem Einzel-GdB von 30 zu bewertenden chronische
Hepatitis und das myelodysplastische Syndrom mit Knochenmarktransplantation
12/2000 im Stadium der kompletten Remission auf einen Gesamt-GdB von 90
heraufzusetzen. Die weiteren Funktionsbehinderungen sind nicht geeignet, den Gesamt-
GdB zu erhöhen, soweit sie jeweils nur mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sind.
Denn nach Nr. 19 Abs. 4 der AHP bzw. Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV führen
zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu
einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Auch bei den leichten
Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es hier nicht gerechtfertigt, auf
eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.
Die von dem Kläger erhobene Verpflichtungsklage, mit welcher er ab Stellung seines
Verschlimmerungsantrags im März 2004 die Heraufsetzung seines Gesamt-GdB auf 100
begehrt, ist nur zum Teil begründet. Bis zum Zeitpunkt des Erlasses des
Widerspruchsbescheides bestehen für die Annahme eines Gesamt-GdB von 100
keinerlei Anhaltspunkte.
Auch die von Dr. B festgestellten Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule und die
Osteoporose führen zu keiner Anhebung des Gesamt-GdB auf 100. Der Orthopäde Dr. V,
der diesen Komplex in seinem Gutachten vom 2. April 2008 mit einem Einzel-GdB von
20 bewertet hat, hat überzeugend dargelegt, dass diese Leiden sich nicht wesentlich
verschlimmernd, insbesondere hinsichtlich der Mobilität, auswirken. Ein eigenständiges
Schmerzsyndrom hat er nicht feststellen können; Paresen sind nicht nachweisbar
gewesen.
Der Gesamt-GdB von 90 ist auch nicht im Hinblick auf die Ausführungen des Orthopäden
Dr. Th in dem nach § 109 SGG eingeholten Gutachten vom 18. November 2009
anzuheben. Dessen Vorschlag, die Funktionseinschränkungen der oberen und unteren
Sprunggelenke sowie der Zehengelenke mit einem GdB von 25 zu bewerten, ist nicht
nachvollziehbar. Angesichts der Bewegungsmaße des linken oberen Sprunggelenks von
5-0-20° liegt – entgegen der Ansicht der Chirurgin H in der versorgungsärztlichen
Stellungnahme vom 23. Februar 2010 – bereits eine Bewegungseinschränkung stärkeren
Grades vor, die nach Nr. 26.18 der AHP bzw. Teil B Nr. 18.14 (Bl. 101) der Anlage zu § 2
VersMedV mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten ist. Zutreffend ist dagegen der
Hinweis der Versorgungsärztin, dass eine nur um ein Viertel eingeschränkte
Beweglichkeit im linken unteren Sprunggelenk keinen GdB von 10 nach sich zieht. Eine
Erhöhung des Gesamt-GdB ist damit – entsprechend der Regel in Nr. 19 Abs. 4 der AHP
bzw. Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV – nicht verbunden.
Im Hinblick auf die überzeugenden Ausführungen des Nervenarztes Dr. C im Gutachten
vom 18. August 2010, wonach die Gleichgewichtsstörungen und Gangstörungen nach
mehrzeitig aufgetretenen ZNS-Läsionen und das leichte hirnorganische Psychosyndrom
ab 2009 mit einem GdB von 60 zu bewerten sind, ist der Gesamt-GdB auf 100
anzuheben. Maßgeblich ist auf den Zeitpunkt abzustellen, an dem der Kläger den
Mediainfarkt mit Hemiparese rechts und Gangstörung mit erforderlicher Gehhilfe erlitten
hatte, also auf den 7. April 2009.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dem Beklagten waren die gesamten
Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen, da der Kläger nur zu einem geringen Teil
unterlegen ist.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht
erfüllt.
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