Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 22.08.2008

LSG Berlin und Brandenburg: aussetzung, erwerbsfähigkeit, rente, bindungswirkung, auflage, begriff, aussetzen, vollziehung, beratung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 22.08.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Neuruppin S 16 AS 117/07
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 20 B 947/08 AS
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 14. April 2008 aufgehoben.
Gründe:
I.
Der Kläger wendet sich gegen die Aussetzung des erstinstanzlichen Verfahrens. In diesem begehrt er für den
Leistungszeitraum 1. August 2006 bis 31. Januar 2007 höhere Leistungen der Grundsicherung nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) unter Abänderung des Bewilligungsbescheides des Beklagten vom 31. August 2006
in der Fassung der Bescheide vom 12. Dezember 2006 und vom 26. März 2007 und in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 27. März 2007. Mit der am 18. Dezember 2006 erhobenen Klage hat der Kläger
zunächst u. a. geltend gemacht, dass er nicht erwerbsfähig sei und die Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf
die beim Sozialgericht Neuruppin zu dem Aktenzeichen S 7 R 568/05 anhängige Rentenklage anrege. Mit Urteil vom
7. September 2007 hat das Sozialgericht Neuruppin die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg (DRV BB)
verurteilt, dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Februar 2006 bis zum 31. Januar
2009 zu gewähren. Gegen das Urteil hat die DRV BB beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Berufung zu dem
Aktenzeichen L 22 R 1507/07 eingelegt und zu dem Aktenzeichen L 22 R 1402/08 ER die Aussetzung der Vollziehung
beantragt. Mit Schreiben vom 12. November 2007 und 13. Februar 2008 hat der Kläger hierauf die Fortführung des
vorliegenden Klageverfahrens beantragt.
Mit Beschluss vom 14. April 2008, dem Kläger zugestellt am 18. April 2008, hat das Sozialgericht Neuruppin das
Verfahren ausgesetzt und zur Begründung ausgeführt, da Leistungen nach dem SGB II nur Personen erhalten
könnten, die u. a. auch erwerbsfähig seien, sei das Verfahren bis zum Abschluss des beim Landessozialgericht
anhängigen Berufungsverfahrens auszusetzen. Hiergegen hat der Kläger spätestens mit Schreiben vom 17. Mai 2008
Beschwerde eingelegt.
Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten in dem Verfahren L 22 R 1402/08 ER vor dem Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg hat der Kläger erklärt, dass er gegenwärtig nicht beabsichtige, aus dem Urteil des Sozialgerichts
Neuruppin vom 7. September 2007 - S 7 R 568/05 - zu vollstrecken.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 14. April 2008 aufzuheben. Der Beklagte beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Streitakte, die Gerichtsakten des
Sozialgerichts Neuruppin S 16 AS 163/07, S 16 AS 170/07, S 16 AS 955/06 ER und S 16 AS 241/08 ER sowie die
Verwaltungsvorgängen des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind.
II.
Die nach § 172 Sozialgerichtsgesetz in der ab 1. April 2008 geltenden Fassung (SGG) zulässige Beschwerde ist
begründet. Das Sozialgericht hat den Rechtsstreit zu Unrecht ausgesetzt.
Grundlage der Aussetzung des Rechtsstreits kann hier allein § 114 Abs. 2 SGG sein, wonach das Gericht die
Verhandlung aussetzen kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreit ganz oder zum Teil vom Bestehen oder
Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, welches den Gegenstand eines anderen Rechtsstreits bildet oder
von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Feststellung, ob dem
Kläger für den hier streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. August 2006 bis 31. Januar 2007 ein Anspruch auf Rente
wegen voller Erwerbsminderung gemäß § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) zusteht bzw. ob der Kläger
in diesem Zeitraum voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 SGB VI war, ist für das vorliegende Verfahren nicht
vorgreiflich.
Die Feststellung einer vollen Erwerbsminderung im Rentenverfahren entfaltet zunächst keine Bindungswirkung
gegenüber der Agentur für Arbeit bei der von ihr nach § 44 a SGB II zu treffenden Feststellung, ob der
Arbeitssuchende gemäß § 8 Abs. 1 SGB II erwerbsfähig ist. Eine entsprechende Bindungswirkung sieht das Gesetz
nicht vor. Vielmehr hat die Agentur für Arbeit nach § 44 a SGB II eigenständig festzustellen, ob der Arbeitssuchende
erwerbsfähig und hilfebedürftig ist. Dabei ist der Begriff der Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II unter
Berücksichtigung der Struktur und der Besonderheiten des SGB II eigenständig zu interpretieren, auch wenn sich die
Definition der Erwerbsfähigkeit nach § 8 Abs. 1 SGB II an der Definition der vollen Erwerbsminderung nach § 43 SGB
VI anlehnt (vgl. Blüggel in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage, § 8 Rdnr. 6 f., 16 ff.).
Darüber hinaus ergibt sich aus der Regelung des § 44 a Abs. 1 Satz 3 SGB II, wonach die Agentur für Arbeit und der
kommunale Träger bis zur Entscheidung der Einigungsstelle weiterhin Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende zu erbringen haben, falls der kommunale Träger oder ein anderer Leistungsträger im Sinne des § 44
Abs. 1 Satz 2 SGB II einer Feststellung der fehlenden Erwerbsfähigkeit durch die Bundesagentur für Arbeit
widerspricht, dass die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende solange zur Leistung verpflichtet bleiben, bis die
Frage der Erwerbsfähigkeit geklärt ist.
Nach dem Vorstehenden hängt die Entscheidung des Sozialgerichts nicht vom Ausgang der rentenrechtlichen
Streitigkeit ab. Dabei kann dahinstehen, ob das Sozialgericht das Vorliegen der Erwerbsfähigkeit nach § 8 Abs. 1
SGB II eigenständig zu prüfen oder unter Berücksichtigung des § 44 a SGB II zu fingieren hat.
Da damit unter keinem Gesichtspunkt ein Tatbestand des § 114 SGG für eine Aussetzung des Rechtsstreits erfüllt
war, war für eine – hier vom Sozialgericht auch nicht erkennbar vorgenommene - Ausübung des Ermessens kein
Raum.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).