Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 30.12.2007

LSG Berlin-Brandenburg: aufschiebende wirkung, hauptsache, öffentliches interesse, gemeinnützige arbeit, rechtsschutz, dringlichkeit, erlass, vollziehung, sanktion, link

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
28. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 28 B 266/08 AS ER,
L 28 B 482/08 AS PKH
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 86b Abs 1 SGG, § 86b Abs 2
SGG, § 31 SGB 2
Einstweilige Anordnung; aufschiebende Wirkung; Leistungen für
die Vergangenheit
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin
vom 30. Dezember 2007 wird zurückgewiesen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für dieses Beschwerdeverfahren wird
abgelehnt.
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin
vom 30. Dezember 2007, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (§ 174
Sozialgerichtsgesetz ), ist gemäß § 172 Abs. 1 und § 173 SGG zulässig, aber
unbegründet.
Der Antragsgegner war nicht im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu
verpflichten, dem Antragsteller über die ihm mit Bescheid vom 28. August 2007, nach
Ablauf des vorangegangenen Bewilligungsabschnitts am 31. August 2007 (Bescheid vom
19. Juni 2006), vom 1. September 2007 bis zum 31. Oktober 2007 gewährten Leistungen
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von 506,82 € monatlich und
für November 2007 über die ihm mit Änderungsbescheid vom 1. November 2007 für
diese Monat gewährten 637,00 Euro hinaus weitere Leistungen in Höhe 94,00 €
monatlich zu gewähren. In Höhe dieses Betrages hat der Antragsgegner den Anspruch
des Antragstellers auf Arbeitslosengeld II wegen seiner Nichtteilnahme an einer ihm
angebotenen Mehraufwandentschädigungsmaßnahme (MAE) in der Zeit vom 1.
September 2007 bis zum 30. November 2007 nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II um 30 v.
H. der für den Antragsteller nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung abgesenkt.
Der Erlass einer solchen Regelungsanordnung setzt voraus, dass nach materiellem
Recht ein Anspruch auf die begehrten Leistungen besteht (Anordnungsanspruch) und
dass die Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig ist
(Anordnungsgrund). Dabei sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund
jeweils glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2
Zivilprozessordnung ). Im vorliegenden Fall ist bereits kein Anordnungsgrund
gegeben. Es besteht keine besondere Dringlichkeit, die den Erlass einer einstweiligen
Anordnung erforderlich machen würde.
In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen
eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag
entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der
Beschwerdeentscheidung (Schoch in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner,
Verwaltungsgerichtsordnung , 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123
Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur Parallelproblematik in § 123
VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein
spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für
die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer - einen zurückliegenden
Zeitraum betreffenden - besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann
jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn
die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund
des Artikels 19 Absatz 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven
Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im - grundsätzlich
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Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im - grundsätzlich
vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und
unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher
Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre
(Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - NJW
2003, S. 1236 und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Breithaupt 2005, S. 803). Dies
bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und
dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet,
soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen
hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das
Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden
Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.
Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes
nach Artikel 19 Absatz 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme
eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so
insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren
nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache
Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch
eine Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig
machen lassen.
Im Hinblick hierauf kann mit dem Gesuch nach einstweiligem Rechtsschutz durch eine
Entscheidung des Senats lediglich eine (vorläufige) Nachzahlung von Leistungen für
einen im Zeitpunkt der Zustellung dieses Beschlusses gänzlich abgelaufenen, also in der
Vergangenheit liegenden Bewilligungszeitraum erreicht werden. Insoweit ist indes nicht
vorgetragen worden, dass zu befürchten ist, dass der Antragsteller durch ein Zuwarten
auf eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile entstünden, die durch eine
Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren nicht oder nicht hinreichend rückgängig
gemacht werden könnten. Entsprechende Anhaltspunkte sind auch nach Aktenlage nicht
ersichtlich. Effektiver Rechtsschutz kann daher in einem Hauptsacheverfahren erlangt
werden. Dem Antragsteller ist ein Zuwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache
zumutbar.
Der Antragsteller hat im Übrigen, soweit er weitere Leistungen für den vorgenannten
Zeitraum begehrt, auch einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Dabei
kann der Senat offen lassen, ob der Antragsteller in der Zeit vom 2. bis 4. Juli 2007
unentschuldigt an der MAE nicht teilgenommen hat. Der Antragsgegner hat den
Anspruch des Antragstellers auf Arbeitslosengeld II abgesenkt, weil er „ die MAE nicht
begonnen“ habe und „seit dem 2. Juli 2007 unentschuldigt“ fehle. Nach den
vorliegenden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen war der Antragsteller letztmalig am
24. August 2007 arbeitsunfähig erkrankt. Gleichwohl hat er nach dem derzeitigen Sach-
und Streitstand in der Folgezeit nicht an der MAE, bei der es sich nicht um eine
Bildungsmaßnahme handelt, bei der möglicherweise ein späterer Einstieg nicht möglich
ist, sondern um eine Maßnahme, in der der Antragsteller gemeinnützige Arbeit
(manuelles Zusammentragen von Kleinabfällen, Säuberungsarbeiten auf Wegen und
Parkanlagen u. ä.) zu verrichten gehabt hätte, teilgenommen.
Soweit der Antragsteller weitere Leistungen für die Zeit vom 1. Dezember 2007 bis zum
29. Februar 2008 begehrt ist das einstweilige Rechtsschutzgesuch nach § 86 b Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 SGG zu beurteilen. Denn mit Bescheid vom 28. August 2007 hat der
Antragsgegner dem Antragsteller u. a. jedenfalls für den vorgenannten
Bewilligungszeitraum Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in
Höhe von monatlich 600,82 Euro gewährt. Wenn der Antragsgegner meint, diese
Bewilligungsentscheidung sei rechtswidrig, so bedarf sie der Aufhebung. Dieser
Bescheid, der hier unter dem 3. Dezember 2007 ergangen ist, weil der Beklagte den
Anspruch des Antragstellers auf Arbeitslosengeld II erneut, wegen einer weiteren
Pflichtverletzung (§ 31 Abs. 3 Satz 1 SGB II), diesmal wegen nicht nachgewiesener
Eigenbemühungen, um 60 v. H. der für den Antragsteller maßgebenden Regelleistung,
also mithin um 187,00 Euro, abgesenkt hat, stellt einen belastenden Verwaltungsakt
dar. Einstweiliger Rechtsschutz ist - anders als bei der Ablehnung von Leistungen von
vorne herein - nach § 86 b Abs. 1 SGG zu gewähren.
Hiernach kann das Gericht auf Antrag in den Fällen wie dem Vorliegenden, in dem der
Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 3. Dezember 2007 nach § 39
Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung hat, die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs ganz oder teilweise anordnen. Ob die aufschiebende Wirkung ganz oder
teilweise anzuordnen ist oder nicht, entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem
Ermessen auf der Grundlage einer Abwägung, bei der das private Interesse des
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Ermessen auf der Grundlage einer Abwägung, bei der das private Interesse des
Bescheidadressaten an der Aufschiebung der Vollziehung gegen das öffentliche
Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes abzuwägen ist. Dabei gilt
der Grundsatz, dass je größer die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens sind,
umso geringer die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers zu
stellen sind. Denn an der Vollziehung eines offenbar rechtswidrigen Verwaltungsaktes
besteht kein öffentliches Interesse. Andererseits ist die aufschiebende Wirkung bei einer
aussichtslosen Klage nicht anzuordnen.
Um eine Entscheidung zugunsten des Bescheidadressaten zu treffen, ist deshalb
jedenfalls zunächst erforderlich, dass bei summarischer Prüfung ernstliche Zweifel an
der Rechtmäßigkeit des streitigen Bescheides bestehen (vgl. Krodel, Das
sozialgerichtliche Eilverfahren, 2005, RdNr. 197 ff.) und dass ein Aussetzungsinteresse,
mithin zumindest ein gewisses Maß an Eilbedürftigkeit besteht, dem Betroffenen also
das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden kann,
(Beschlüsse des Senats vom - 6. März 2007 - L 28 B 290/07 AS ER -, 2. Mai 2007 - L 28
B 517/07 AS ER - und vom 12. November 2007 - L 28 B 1830/07 AS ER - sowie
Beschlüsse des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 12. Mai 2006 - L 10 B
191/06 AS ER -, 15. Mai 2007 - L 26 B 521/07 AS ER - und vom 10. Oktober 2007 - L 26 B
1688/07 AS ER - jeweils abrufbar unter: www.sozialgerichtsbarkeit.de).
An diesen Grundsätzen gemessen war die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des
Antragstellers gegen die Entscheidung des Antragsgegners nicht anzuordnen. Denn
nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand ist auch hinsichtlich dieser Sanktion eine
Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs des Antragstellers im vorgenannten Sinne gegen die
angefochtene Entscheidung nicht gegeben. Das Vorbringen des Antragstellers erschöpft
sich insoweit in der Infragestellung der Rechtmäßigkeit der mit Bescheid vom 28. August
2007 verfügten Sanktion. Insoweit ist aber, wie der Senat bereits ausgeführt hat, nach
dem derzeitigen Sach- und Streitstand keine Erfolgsaussicht gegeben. Dem Vorwurf der
erneuten Pflichtverletzung hat der Antragsteller hingegen nicht substantiiert
widersprochen.
Es ist im Übrigen auch hier nicht erkennbar, dass dem Antragsteller ein Abwarten einer
Entscheidung in der Hauptsache nicht zumutbar ist. Im vorliegenden Fall kann der
Antragsteller mit seinem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner
Klage ausschließlich noch erreichen, dass ihm die begehrten Leistungen für den noch
streitbefangenen Sanktionszeitraum vom 1. Dezember 2007 bis zum 29. Februar 2008,
also für einen gänzlich in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, nachgezahlt werden.
Dass ihm insoweit ein Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache nicht zumutbar
ist, ist nach Aktenlage weder ersichtlich noch hat er Entsprechendes vorgetragen.
Die Beschwerde hinsichtlich der Ablehnung von Prozesskostenhilfe für das
erstinstanzliche einstweilige Rechtsschutzverfahren war daher ebenso wie der Antrag auf
Gewährung von Prozesskostenhilfe für dieses Beschwerdeverfahren mangels
hinreichender Erfolgsaussicht abzulehnen (§ 73 a SGG in Verbindung mit § 114 Satz 1
ZPO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog und § 73 a SGG in Verbindung mit §
127 Abs. 4 ZPO).
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden (§ 177 SGG).
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