Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 16.08.2005

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
14. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 14 B 1157/05 AS ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 9 Abs 1 Nr 2 SGB 2, § 60 Abs 1
SGB 1, § 66 SGB 1
Grundsicherung für Arbeitsuchende - nicht ausreichende Zweifel
an der Hilfebedürftigkeit - Verkauf privater
Gebrauchsgegenstände in einem Internet-Auktionshaus -
Vorlage von Unterlagen und Nachweisen für die
Hilfebedürftigkeit
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom
16. August 2005 aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig
an den Antragsteller zu 1) sowie an die Antragstellerin zu 2) jeweils 3.915
(dreitausendneunhundertfünfzehn) € und ab März 2006 bis zu einer Entscheidung über
den Widerspruch gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 17. Januar 2006
monatlich jeweils 435 (vierhundertfünfunddreißig) € und
an den Antragsteller zu 3) 2.412 (zweitausendvierhundertzwölf) € und ab März 2006 bis
zu einer Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid der Antragsgegnerin
vom 17. Januar 2006 monatlich 268 €
zu zahlen.
Der Antragsgegnerin wird nachgelassen, diese Zahlungsverpflichtungen in Höhe von
jeweils 1.935 (eintausendneunhundertfünfunddreißig) € (insgesamt 5.805 €) und ab März
2006 in Höhe von monatlich jeweils 215 (zweihundertfünfzehn) € (insgesamt monatlich
645 €) durch Zahlung an den Vermieter (K. L. GmbH, Konto Nr. ... bei der B. Sparkasse
[BLZ …]) zu erfüllen.
Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern die ihnen entstandenen Kosten des
Verfahrens zu erstatten.
Gründe
Die in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Antragsteller haben mit einer für den Erlass
einer einstweiligen Anordnung ausreichenden Gewissheit glaubhaft gemacht (§ 920 Abs.
2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86 b Abs. 2 Satz 4 des Sozialgerichtsgesetzes
(SGG)), dass sie – was zwischen den Beteiligten zu Recht allein streitig ist – (auch)
hilfebedürftig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Dritten Buchs des Sozialgesetzbuches (SGB
III)) sind. Für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist es – anders als die
Antragsgegnerin anzunehmen scheint (Schriftsatz vom 15. November 2005) – nicht
erforderlich, dass diese Voraussetzung (im Sinne einer allen vernünftigen Zweifeln
Schweigen gebietenden Gewissheit) „nachgewiesen" wird. Im Übrigen dürfen die
Anforderungen an die Glaubhaftmachung im Eilverfahren nicht überspannt werden, wenn
die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des durch die Verfassung gewährleisteten
Existenzminimums in Frage steht (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR
569/05 –).
Der Annahme, dass die Antragsteller jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Antragstellung
hilfebedürftig waren und es weiterhin sind, steht die erschwindelte Aufnahme eine
Darlehens im Juli 2004 nicht entgegen, zumal das dadurch erlangte Geld, soweit es nicht
inzwischen zurückgezahlt worden ist, zumindest jetzt offenbar nicht mehr vorhanden ist.
Ebenso wenig ergeben sich durchgreifende Zweifel an der Hilfebedürftigkeit der
Antragsteller daraus, dass der Antragsteller zu 1) jedenfalls zu Beginn des Jahres 2005
und womöglich auch im Oktober 2005 Gegenstände über ein Internet-Auktionshaus
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und womöglich auch im Oktober 2005 Gegenstände über ein Internet-Auktionshaus
veräußert hat. Aus den ihm dafür in Rechnung gestellten Gebühren hat die
Antragsgegnerin vollkommen verfehlte Rückschlüsse auf die dadurch erzielten Erlöse
gezogen; sie hat schlichtweg nicht gesehen, dass nur ein geringer Teil dieser Gebühren
Provisionen für getätigte Verkäufe sind. Ohne Belang ist auch, ob diese Tätigkeit des
Antragstellers zu 1) als „gewerblich" anzusehen ist oder nicht. Der Betrieb eines
„Gewerbes" schließt Hilfebedürftigkeit nicht aus, wenn die dadurch erzielten Einnahmen
zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht ausreichen (§ 9 Abs. 1 des Zweiten Buchs des
Sozialgesetzbuchs (SGB II)), sondern mindert sie lediglich. Fraglich ist zudem, ob Erlöse
aus dem Verkauf privater Gebrauchsgegenstände (hier bspw. Notebook) als Einkommen
anzurechnen sind.
Die Zahlungseingänge auf dem Konto der Antragsteller zu 1) und 2), für das sie die
Auszüge bis zum 27. Juni 2005 bereits am 30. Juni 2005 dem Sozialgericht im Original
vorgelegt haben, deuten gleichfalls nicht darauf hin, dass die Antragsteller laufende
Einnahmen hätten, die ihre Hilfebedürftigkeit ausschließen würden. Ebenso wenig
besteht ein Anhalt, dass Vermögen auf anderen Konten vorhanden wäre oder gar, dass
gezielt Vermögen ins Ausland verschafft worden wäre, um Hilfebedürftigkeit
herbeizuführen.
Auch steht der Annahme der anhaltenden Hilfebedürftigkeit der Antragsteller nicht
entgegen, dass ihnen Bekannte oder Freunde inzwischen Geld geliehen haben.
Schließlich weist auf die bestehende und fortwährende Hilfebedürftigkeit hin, dass den
Antragstellern zu 1) und 2) am 19. Mai 2005 das Mietverhältnis für ihre Wohnung fristlos
gekündigt worden ist, nachdem sie seit Januar 2005 keine Miete mehr bezahlt haben und
auch danach weder Mietrückstände getilgt noch die Mietzahlungen wieder
aufgenommen haben. „Es ist nicht anzunehmen, dass jemand solche Folgen eintreten
ließe, wenn er nicht mittellos wäre" (BVerfG, a.a.O.).
Aus der glaubhaft gemachten fortwährenden Hilfebedürftigkeit ergibt sich auch die
Notwendigkeit, zur Abwendung wesentlicher Nachteile für die Antragsteller eine
vorläufige Regelung zu treffen (Anordnungsgrund - § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG).
Bei der Entscheidung ist schließlich das grob verfahrensfehlerhafte Verhalten der
Antragsgegnerin zu berücksichtigen, die erst im Januar 2006 über die im November
2004 (!) und März 2005 gestellten Anträge entschieden hat. Wenn die Antragsgegnerin
meint, die Antragsteller kämen ihren Mitwirkungspflichten nach § 60 des Ersten Buchs
des Sozialgesetzbuches (SGB I) nicht oder nicht in ausreichendem Maße nach, hat sie
die beantragten Leistungen – nach Aufforderung zur Mitwirkung und schriftlichem
Hinweis auf die Folgen fehlender Mitwirkung (§ 66 Abs. 3 SGB I) – durch eine gerichtlicher
Überprüfung zugängliche Entscheidung zu versagen (§ 66 Abs. 1 SGB I); es ist nicht
angängig, einfach nicht zu entscheiden.
Im Übrigen erscheinen die in dieser Hinsicht von der Antragsgegnerin an die
Antragsteller gestellten Anforderungen in weiten Teilen sachlich nicht gerechtfertigt bzw.
überzogen: Unerfindlich ist, inwieweit die Vorlage von Kraftfahrzeugbriefen oder –
scheinen für die Ermittlung der Hilfedürftigkeit erforderlich sein könnte, da für jeden in
der Bedarfsgemeinschaft lebenden erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ein angemessenes
Kraftfahrzeug nicht als Vermögen zu berücksichtigen ist (§ 12 Abs. 3 Nr. 2 SGB II).
Neben der Sache dürfte auch die Forderung liegen, die Gewerbeanmeldung für die vom
Antragsteller zu 1) augenscheinlich nicht als „gewerblich" angesehene Veräußerung von
Gegenständen über ein Internet-Auktionshaus vorzulegen. Schlicht abwegig ist
angesichts dessen, dass die Antragsteller seit Beginn des Jahres 2005 keine Miete mehr
bezahlt haben, das Ansinnen, „Mietquittungen der letzten Monate" (Vermerk der
Leistungsstelle vom 8. November 2005) vorzulegen. Die Kontoauszüge vom 1. Januar bis
27. Juni 2005 haben die Antragsteller zu 1) und 2) – wie erwähnt – am 30. Juni 2005 dem
Sozialgericht vorgelegt, für die nachfolgende Zeit sind Ablichtungen der Kontoauszüge
im Beschwerdeverfahren eingereicht worden. Schließlich ergeben sich auch keine
gesteigerten Mitwirkungspflichten daraus, dass die Antragsteller bis zum heutigen Tage
noch nicht verhungert sind, obwohl ihnen die Antragsgegnerin seit Beginn des Jahres
2005 keine Leistungen gewährt.
Auch ist der am 17. Januar 2006 erlassene Ablehnungsbescheid unzulänglich bzw.
unzutreffend begründet: Es ist jedenfalls nicht aktenkundig, dass der Antragsteller zu 1)
jemals angegeben hätte, er und die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden
Personen könnten ihren Lebensunterhalt ausreichend aus dem zu berücksichtigenden
Einkommen oder Vermögen sichern. Ebenso unzulänglich ist der Vermerk der
Antragsgegnerin vom 30. Dezember 2005: Andere Einkommensquellen sind gerade
nicht „nachgewiesen", es besteht – allerdings nicht ohne Grund – lediglich ein
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nicht „nachgewiesen", es besteht – allerdings nicht ohne Grund – lediglich ein
„Verdacht", dass (wodurch auch immer) zumindest der Antragsteller zu 1) Einkommen
erzielt. Diesem Verdacht hat die Antragsgegnerin nachzugehen; dazu könnte sie sich
bspw. in einem persönlichen Gespräch mit den Antragstellern bestimmte
Kontobewegungen bzw. deren Hintergründe (insbesondere die auch in dem Vermerk
vom 30. Dezember 2005 erwähnten Abbuchungen für Flugscheine, aber auch andere
Überweisungen) erläutern lassen sowie weitere ihr zur Verfügung stehende
Ermittlungsmöglichkeiten nutzen.
Die Antragsgegnerin hat danach den Antragstellern für die Zeit ab Stellung des Antrags
auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht (3. Juni 2005) vorläufig
Leistungen zu erbringen. Wegen der auch beim Senat durchaus noch bestehenden
„vernünftigen Zweifel" vor allem hinsichtlich des Umfangs der Hilfebedürftigkeit der
Antragsteller erscheint es angemessen, aber zur Sicherung ihres Lebensunterhalts auch
ausreichend, die Antragsgegnerin (in Anlehnung an § 30 Abs. 1 SGB II) nur zur
vorläufigen Zahlung einer um 30 vom Hundert geminderten Leistung an die
Antragsteller zu 1) und 2) zu verpflichten (220 € monatlich); daneben sind vorläufig die
Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in Höhe eines Drittels (215 €) für jeden
Antragsteller zu erbringen. Das Kindergeld in Höhe von 154 € monatlich ist als
Einkommen beim Antragsteller zu 3), das Erziehungsgeld in Höhe von 300 € monatlich
nicht als Einkommen zu berücksichtigen (§ 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II bzw. § 8 Abs. 1 Satz 1
des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG)). Angesichts des nur vorläufigen
Charakters dieser Anordnung sind die von der Antragstellerin zu zahlenden Beträge zu
runden; insbesondere sieht der Senat von einer anteiligen Berechnung für den Juni 2005
ab.
Der Senat räumt wegen des noch nicht vollständig geklärten und derzeit nicht
abschließend zu klärenden Sachverhalts der Antragsgegnerin die Befugnis ein, die seit
Juni 2005 zu zahlenden Kosten für Unterkunft und Heizung unmittelbar an den Vermieter
zu zahlen (§ 22 Abs. 4 SGB II).
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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