Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 14.08.2008
LSG Berlin und Brandenburg: familie, wohnung, unterkunftskosten, betriebskosten, verfügung, wohnraum, pauschal, zugang, zahlungsaufschub, umzug
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 14.08.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 119 AS 19407/08 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 26 B 1588/08 AS ER
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 9. Juli 2008 wird
zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 9. Juli 2008 ist gemäß §§
172 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 und 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in der seit dem 1. April 2008 geltenden Fassung
statthaft und im Übrigen zulässig, insbesondere schriftlich und fristgerecht eingelegt (§ 173 SGG). Sie ist jedoch nicht
begründet.
Zu Recht hat das Sozialgericht es abgelehnt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu
verpflichten, der Antragstellerin ein Darlehen in Höhe von 3.586,87 EUR zur Begleichung von Mietschulden zu
gewähren.
Nach § 86b Abs. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint. Dies setzt voraus, dass nach materiellem Recht ein Anspruch auf die begehrte Leistung besteht
(Anordnungsanspruch) und die Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig ist
(Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz
4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Dies hat die Antragstellerin nicht getan.
Die Voraussetzungen der insoweit einzig als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden und vom Sozialgericht
zutreffend wiedergegebenen Regelung des § 22 Abs. 5 des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB II) liegen
nicht vor. Die Schuldenübernahme ist zur Abwendung von Wohnungslosigkeit weder gerechtfertigt noch notwendig.
Dies folgt bereits - wie das Sozialgericht zutreffend angenommen hat – aus der Unangemessenheit der
Unterkunftskosten der Antragstellerin, ihres Lebensgefährten A B und ihrer im Dezember 2007 geborenen Tochter,
wenngleich der Senat die vom Sozialgericht unter Bezugnahme auf den Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-
Brandenburg vom 8. Juni 2007 (L 10 B 591/07 AS ER -, zitiert nach juris, dort Rn. 9) zugrunde gelegte
Angemessenheitsgrenze von 541,80 EUR (Bruttowarmmiete) nicht für richtig hält. Die Berechnung basiert nicht auf
den aktuellen Daten. Nach diesen ist vielmehr – im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens – auf der
Grundlage des Mietspiegels 2007 von einer Nettokaltmiete in Höhe von maximal 4,66 EUR/m² auszugehen. Denn es
ist nicht ersichtlich, dass nach 1972 bezugsfertig gewordene bzw. im Ostteil der Stadt nach 1990 erbaute
Mietwohnungen dem näheren Wohnumfeld der Antragstellerin und ihrer Familie das Gepräge geben. Nach dem von
der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung gemeinsam mit der Investitionsbank Berlin herausgegebenen
Wohnungsmarktbericht 2006 liegen die durchschnittlichen Nettokaltmieten der Sozialwohnungen in dem hier
maßgeblichen Bezirk R – unabhängig von der Qualität der Wohnlage – sogar nur bei 4,23 EUR/m². Bzgl. der
Betriebskosten einschließlich der Heizkosten kommen der Ansatz von 2,26 EUR/m² (so Berliner
Betriebskostenübersicht 2005 der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung) oder – nach vorläufiger Prüfung - von 2,44
EUR/m² in Betracht. Letztgenannter Wert beruht auf dem vom Deutschen Mieterbund für die gesamte Bundesrepublik
Deutschland ermittelten Betriebskostenspiegel 2007 (www.mieterbund.de/presse/2007), wobei von dem dort zugrunde
gelegten Wert in Höhe von 2,82 EUR zum einen 0,22 EUR für die bereits in der Regelleistung enthaltene
Warmwasseraufbereitung, zum anderen 0,16 EUR Aufzugskosten in Abzug gebracht wurden. Denn jedenfalls im hier
maßgeblichen Teil des Bezirks R, in dem die von der Antragstellerin und ihrer Familie genutzte Wohnung liegt, ist für
Wohnungen im unteren Preissegment das Vorhandensein eines Fahrstuhls nicht typisch. Für eine für drei Personen
der Größe nach als angemessen erachtete höchstens 75 m² große Wohnung errechnet sich damit eine
Angemessenheitsgrenze für die Bruttowarmmiete von höchstens 532,50 EUR [75 m² x (4,66 EUR + 2,44 EUR)].
Diesen Wert übersteigen die aktuellen Unterkunftskosten der Antragstellerin und ihrer Familie jedoch deutlich. Denn
zurzeit fallen diese monatlich in Höhe von insgesamt 616,45 EUR [447,15 EUR (Grundmiete) + 101,50 EUR
(Betriebskosten) + 83,00 EUR (Abschlagszahlungen an die GASAG für die Gasetagenheizung) abzgl. 15,20 EUR
(Warmwasserpauschale, 2 x 6,33 EUR + 3,80 EUR)] an. So wie sich aber aus § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II ergibt, dass
ein langfristiger Erhalt unangemessen teurer Wohnungen nicht erwünscht ist, gilt gleichermaßen für die Übernahme
von Mietschulden, dass die Hilfegewährung zur Sicherung der Unterkunft auf den längerfristigen Erhalt einer
angemessenen Unterkunft ausgerichtet sein muss (vgl. z.B. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom
22.03.2007 – L 28 B 269/07 AS ER - dokumentiert unter sozialgerichtsbarkeit.de). Nur wenn aufgrund des örtlichen
Wohnungsmarktes tatsächlich keine Möglichkeit besteht, die regelmäßig anfallenden Unterkunftskosten durch einen
Umzug zu senken, sind die laufenden Aufwendungen dauerhaft und in Konsequenz dazu auch die Mietschulden zu
übernehmen. Vom Vorliegen einer derartigen besonderen Situation kann jedoch nach dem bisherigen Sachstand nicht
ausgegangen werden. Bereits mit Blick auf das vom Sozialgericht ermittelte umfangreiche Wohnraumangebot im
fraglichen Segment liegen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass es der Antragstellerin und ihrer Familie
nicht in überschaubarer Zeit möglich sein sollte, sich Wohnraum zu suchen, der innerhalb der
Angemessenheitsgrenzen liegt.
Gegen einen Erhalt der Wohnung spricht hier ferner, dass diese dauerhaft für die inzwischen dreiköpfige Familie nicht
geeignet, vielmehr irgendwann ein Kinderzimmer erforderlich sein dürfte. Dementsprechend strebt die Antragstellerin
schon jetzt wegen der vermeintlich zu geringen Größe bzw. Raumzahl der Wohnung deren Erhalt auch überhaupt nicht
an. Im Gegenteil hat sie in ihrer Beschwerdebegründung klargestellt, dass es ihr im Wesentlichen darum geht, nach
Begleichung der Mietschulden eine Bescheinigung über die Mietschuldenfreiheit ihrer Vermieterin zu erhalten und
sodann eine neue Wohnung anzumieten. Dieses Bestreben vermag jedoch nicht die Voraussetzungen der Übernahme
der Mietschulden zu stützen. Wie die Ausführungen des Sozialgerichts zeigen, steht objektiv ausreichend Mietraum
zur Verfügung. Dass die Antragstellerin pauschal behauptet, zu diesem Mietmarkt aufgrund der bestehenden
Mietschulden keinen Zugang zu haben, rechtfertigt keine andere Entscheidung, ist insbesondere auch nicht
ansatzweise glaubhaft gemacht.
Auch ist insoweit zu beachten, dass die Antragstellerin und ihre Familie im Hinblick auf den A B eingeräumten
Beschäftigtenfreibetrag und das ihnen gewährte Elterngeld seit Dezember 2007 monatlich über etwa 500,00 EUR mehr
verfügen, als ihnen bei "reinem" Bezug von Leistungen nach dem SGB II zustünde. Dass es ihnen gleichwohl nicht
möglich sein soll, sich selbst um die ratenweise Begleichung ihrer Schulden zu kümmern, ist nicht nachvollziehbar.
Sie haben es vielmehr selbst in der Hand, binnen eines überschaubaren zeitlichen Rahmens ihre Schulden
abzuzahlen, sodass sie dann auch die begehrte Bescheinigung über die Mietschuldenfreiheit erhalten können. Dass
ihnen ihre Vermieterin hierzu keine Gelegenheit geben sollte, erscheint nicht glaubhaft. Diese hat das Mietverhältnis
zwar fristlos gekündigt, der Antragstellerin und deren Lebensgefährten jedoch nach deren Bekunden immer wieder
Zahlungsaufschub gewährt, ohne dass diese irgendwelche Raten zur Schuldentilgung geleistet hätten, und hat bisher
insbesondere keine Räumungsklage erhoben. Es liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass sie im Falle der
Aufnahme der Schuldentilgung durch Zahlung von Raten nunmehr zu Lasten der Antragstellerin und ihrer Familie
anders verfahren sollte.
Schließlich ist es vorliegend mangels Anspruchs auf Übernahme von Mietschulden irrelevant, dass allein die
Antragstellerin den Anspruch auf (darlehensweise) Übernahme der Mietschulden gerichtlich geltend gemacht hat,
obwohl ihr Lebensgefährte A B den zivilrechtlichen Ansprüchen der Vermieterin gleichermaßen ausgesetzt ist. Auch
musste im Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht geklärt werden, ob der Anspruch auf
Übernahme der Mietschulden sämtlichen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft zu gleichen Anteilen oder –
abweichend vom Regelungskonzept des SGB II im Übrigen – nur demjenigen/denjenigen zusteht, der/die den
zivilrechtlichen Ansprüchen ausgesetzt ist/sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).