Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 29.06.2004

LSG Berlin-Brandenburg: tante, hof, reiten, versicherungsschutz, unternehmen, fohlen, ehepaar, arbeitsunfall, krankenkasse, befragung

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 2.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 2 U 57/04
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 2 Abs 1 Nr 1 SGB 7, § 2 Abs 2
S 1 SGB 7
Abgrenzung zwischen eigen- und fremdwirtschaftlicher
Zweckbestimmung beim Arbeitsunfall
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. Juni
2004 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin am 29. Dezember 1998 einen Arbeitsunfall erlitten hat.
Die 1982 geborene Klägerin verbrachte im Jahr 1998 die Weihnachtsferien auf dem
landwirtschaftlichen Betrieb des damaligen Verlobten und jetzigen Ehemanns ihrer
Tante, den dieser zusammen mit ihrer Tante im Nebenerwerb betrieb. Dort
übernachtete sie häufig am Wochenende und in den Ferien. Eines der Pferde stand ihr
zum Reiten zur Verfügung. Am 29. Dezember 1998 führte die Klägerin gegen 8.00 Uhr
ein zweijähriges Fohlen zusammen mit dessen Mutter auf eine vom Stall entfernt
liegende Koppel. Dabei riss sich das Fohlen los, die Klägerin stürzte und wurde von dem
Fohlen getreten. Sie erlitt eine Atlasbogenfraktur, die stationär behandelt werden
musste und zu bleibenden Funktionseinschränkungen der oberen Halswirbelsäule führte.
Die Beklagte erfuhr erstmals im September 2000 von dem Unfall, als die Krankenkasse,
bei der die Klägerin familienversichert war, Ersatzansprüche anmeldete. Die Mutter der
Klägerin hatte eine Anfrage der Krankenkasse zur Art der Tätigkeit der Klägerin in einem
Schreiben vom 5.August 2000 dahingehend beantwortet, dass die Klägerin nicht als
Ersatzarbeitskraft eingesetzt werde. Ihre Tante eröffne ihr vielmehr die Möglichkeit, ihrer
Pferdeleidenschaft dadurch nachzugehen, dass sie in ständigem Kontakt zu den Pferden
stehe. Den Tagesablauf habe sie nach eigenem Gutdünken gestalten können.
Mit Bescheid vom 25. Oktober 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
26. Juni 2001 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus Anlass des
Geschehens vom 29. Dezember 1998 ab. Die unfallbringende Tätigkeit sei Teil der
Freizeitgestaltung und nicht von einer fremdwirtschaftlichen Zweckbestimmung geprägt
gewesen.
Mit der dagegen vor dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat die Klägerin geltend
gemacht, sowohl ihre Tante als auch deren Ehemann arbeiteten als Polizeibeamte im
Schichtdienst. Am 29. Dezember 1998 hätten beide vor 6.00 Uhr den Hof verlassen und
seien nicht vor 16.00 Uhr zurückgekommen. Da das Wetter es zugelassen habe, habe
sie um 8.00 Uhr damit begonnen, die vorhandenen 10 Pferde auf die Koppel zu führen.
Das Sozialgericht hat die Tante der Klägerin, M B P, und deren Ehemann, P, als Zeugen
vernommen und die Klägerin befragt. Beide Zeugen haben angegeben, es habe am 29.
Dezember 1998 keine Notwendigkeit bestanden, die Pferde auf die Koppel zu führen, die
Pferde hätten im Stall mit Laufbereich verbleiben können. Es „sei klar“ gewesen, dass
die Pferde nicht auf die Koppel gebracht werden sollten, wenn sie, die Zeugen, nicht
zugegen gewesen seien. Die Klägerin hat erklärt, alle Aufgaben verrichtet zu haben, die
bei der Versorgung der Pferde angefallen seien. Sie liebe die Tiere und habe die
Aufgaben gern verrichtet. Sie sei sehr froh gewesen, dass sie auf diese Art Gelegenheit
gehabt habe, zu reiten und mit den Tieren zusammen zu sein.
Durch Urteil vom 29. Juni 2004 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, den Zustand
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Durch Urteil vom 29. Juni 2004 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, den Zustand
nach Atlasbogeninfraktion nach Pferdetritt als Folge des am 29. Dezember 1998
erlittenen Arbeitsunfalls anzuerkennen. Die Klägerin sei wie eine Beschäftigte tätig
geworden und nach § 2 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VII versichert gewesen. Als sie
die Pferde auf die Koppel geführt habe, sei sie nicht einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit
nachgegangen, sondern habe eine Tätigkeit verrichtet, die dazu bestimmt und geeignet
gewesen sei, den Zwecken des Reiterhofes zu dienen. Auch wenn die Arbeit der Klägerin
nicht aufgetragen worden sei, sondern sie sich diese als Pferdenärrin gesucht habe, sei
sie objektiv betriebsdienlich gewesen und habe den Rahmen einer Gefälligkeitsleistung
gesprengt. Die Klägerin sei auch dann wie eine Beschäftigte tätig geworden, wenn die
unfallbringende konkrete Handlung nicht dem Willen des Betreibers entsprochen und die
Klägerin dies gewusst habe. Ob der Klägerin gegenüber ein ausdrückliches Verbot
ausgesprochen worden sei, habe sich weder durch die Befragung der Zeugen noch
durch die Befragung der Klägerin feststellen lassen. Selbst wenn jedoch ein
ausdrückliches Verbot ausgesprochen worden sei, ließe dies den Versicherungsschutz
nicht entfallen, weil nach § 7 Abs. 2 SGB VII verbotwidriges Handeln den
Versicherungsfall nicht ausschließe.
Gegen das ihr am 30. August 2004 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der
Beklagten vom 9. September 2004. Sie macht geltend, Versicherungsschutz bestehe
nur, wenn die Handlungstendenz wesentlich auf die Belange des als unterstützt geltend
gemachten Unternehmens gerichtet gewesen sei. Dies sei nicht der Fall, da die Klägerin
persönliche Interessen verfolgt habe. Sie habe sich als Pferdeliebhaberin auf dem Hof
aufgehalten und mit den Tieren beschäftigt. Die konkrete Tätigkeit, die Pferde auf die
Koppel zu bringen, sei ohne Wissen und Zustimmung des Betriebsunternehmers erfolgt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. Juni 2004 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und macht geltend, es habe die
Notwendigkeit bestanden, die Pferde am 29. Dezember 1998 auf die Koppel zu führen,
weil sie am 28. Dezember 1998 witterungsbedingt nicht auf die Koppel gekonnt hätten.
Dies sei mit den Zeugen so besprochen worden. Es entspreche nicht der Wahrheit, dass
sie die Pferde noch nie herausgeführt habe, wenn die Zeugen nicht zugegen gewesen
seien. Hierüber sei auch in Gegenwart ihrer Freundin, der Zeugin A L, gesprochen
worden. Anhand der von ihr eingereichten Skizze werde deutlich, dass die von der
Zeugin geschilderte Koppel, auf die sie die Pferde habe bringen dürfen, in unmittelbarer
Nähe der so genannten Reitbahn gelegen habe, auf die sie die Pferde habe bringen
wollen.
Der Senat hat M P, P P, AL und die Schwester der Klägerin, K Sch, als Zeugen
vernommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die
Sitzungsniederschrift vom 7. Juni 2006 Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (einschließlich der
Akten des Sozialgerichts S 68 U 484/ 01) und den Inhalt der Verwaltungsakten der
Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten ist begründet.
Die Beklagte hat die Anerkennung des Ereignisses vom 29. Dezember 1998 als
Arbeitsunfall zu Recht abgelehnt.
Die Klägerin ist nicht im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses tätig geworden, da
sie – obwohl ihre Hilfe auf dem Hof eine Gegenleistung zu der ihr eingeräumten
Möglichkeit darstellte, ein Pferd unentgeltlich zu reiten-, jedenfalls im Allgemeinen nicht
weisungsgebunden gehandelt hat, sondern nach den übereinstimmenden Angaben aller
Zeugen lediglich in einem von ihr selbst bestimmten Umfang half.
Es bestand auch kein Versicherungsschutz nach § 2 Abs.2 S. 1 SGB VII. Danach sind
Personen versichert, die wie nach Abs. 1 Nr. 1 SGB VII Versicherte tätig werden. Nach
der ständigen Rechtsprechung des BSG ( vgl. Urteil vom 27.6.2000-B 2 U 21/99 R- m. w.
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der ständigen Rechtsprechung des BSG ( vgl. Urteil vom 27.6.2000-B 2 U 21/99 R- m. w.
Nachw.) setzt dieser Versicherungsschutz voraus, dass - selbst wenn es sich nur um
eine vorübergehende Tätigkeit handelt - eine ernstliche, einem fremden Unternehmen
zu dienen bestimmte, arbeitnehmerähnliche Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert vorliegt,
die dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entspricht. Dabei
sind die gesamten Umstände des Einzelfalls zu würdigen und nicht nur auf die
unmittelbar zum Unfall führende Verrichtung abzustellen.
Der Annahme einer derartigen versicherten Tätigkeit steht nicht bereits entgegen, dass
diese als familienhafte Mitarbeit grundsätzlich unversichert wäre. Allerdings ist die
Klägerin mit dem Zeugen P, dem Unternehmer des bei der Beklagten versicherten
Betriebes, im dritten Grad in der Seitenlinie verschwägert. Bei der von ihr ausgeübten
Tätigkeit handelte es sich aber nicht um eine Leistung, die unter Verschwägerten üblich
und typisch ist, und dementsprechend ohne weiteres erwartet wird. Zwar hat der Zeuge
P bei seiner Aussage das Interesse verfolgt, den Umfang der im Allgemeinen von der
Klägerin verrichteten Tätigkeiten als gering darzustellen. Diese Angaben hielt der Senat
jedoch für unglaubhaft. So konnte der Senat weder nachvollziehen, dass der Zeuge
angab, nicht zu wissen, welchen zeitlichen Umfang die Grundversorgung eines Pferdes
einnimmt. Auch ergibt sich aus der Gesamtschau der anderen Zeugenaussagen eine
jedenfalls umfangreichere Tätigkeit der Klägerin auf dem Hof als von diesem Zeugen
angegeben. Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Angaben der
Schwester der Klägerin zu dem nach ihrer Schilderung ganz erheblichen Umfang der
Tätigkeit nicht nachvollziehbar waren, weil sich die Frage stellte, wie das Ehepaar P die
erforderlichen Arbeiten regelmäßig unter der Woche bewältigt haben sollte, bleiben doch
unter Würdigung der Aussage der Zeuginnen P und L Tätigkeiten in einem Umfang
erhalten, der nicht mehr in einer Familie üblich und typisch ist. So hat die Zeugin P
angegeben, dass die Klägerin nicht nur das von ihr gerittene Pferd versorgte, sondern
auch andere Pferde mit versorgt hat, indem sie diese geputzt und auf die so genannte
Reitbahn gebracht hatte. Entsprechende Tätigkeiten wie das Führen auf die Koppeln,
Stallausmisten und Putzen der Pferde hat auch die Zeugin L geschildert. Deren Aussage
hat den Senat am meisten überzeugt, weil sie nachvollziehbar angegeben hat, sich nicht
mehr an verschiedene Einzelheiten zu erinnern und ihre Schilderungen mit dem
„Erlebnishorizont“ einer damals etwa Fünfzehnjährigen im Einklang standen.
Die Tatsache, dass die Klägerin eine objektiv arbeitnehmerähnliche Tätigkeit ausgeübt
hat, reicht jedoch für das Vorliegen des Versicherungsschutzes allein nicht aus.
Erforderlich ist des Weiteren die Handlungstendenz, die darauf zielt, eine der
Pferdehaltung des Unternehmens zu dienen bestimmte Tätigkeit zu verrichten (vgl.
BSG, Urteil vom 30. Juni 1993 -2 RU 40/92=HV-INFO 1993, 2215 ff). Unter
Berücksichtigung sämtlicher Zeugenaussagen, der Angaben der Klägerin vor dem
Sozialgericht und der Erklärung im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 7. Juni 2006
konnte der Senat nicht zu der Überzeugung gelangen, dass die Tätigkeit der Klägerin
dazu bestimmt war, dem Unternehmen ihres Onkels zu dienen.
Im sozialgerichtlichen Verfahren hatte die Klägerin angegeben, froh gewesen zu sein,
durch die Arbeiten Gelegenheit zu haben, zu reiten und mit den Tieren zusammen zu
sein. Demnach verfolgte sie gerade ihre eigenen Interessen. Diese Interessenlage wird
von der Mutter bestätigt. Diese hatte in ihrem Schreiben vom 5. August 2000 darauf
verwiesen, dass der Charakter der Arbeiten „am ehesten dadurch zu beschreiben(sei),
dass sie dadurch ihre eigenen Bedürfnisse befriedigt“.
Etwas anderes hat die Zeugenvernehmung durch den Senat nicht erbracht. Die
damalige Motivlage hat die Zeugin L als einzige Zeugin, die an dem Ausgang des
Rechtsstreits kein eigenes Interesse hatte, dahingehend beschrieben, dass es sich um
eine Symbiose gehandelt habe. Sie habe Spaß an der Tätigkeit mit Pferden gehabt und
es sei für sie selbstverständlich gewesen, mitzuhelfen. Eine auf das Unternehmen des
Onkels gerichtete Handlungstendenz konnte der Senat auch nicht der Angaben der
Schwester der Klägerin entnehmen. Allerdings hat die Zeugin mit ihrer Schilderung den
Eindruck vermitteln wollen, nur durch das Herausholen der Pferde auf die Koppel sei eine
artgerechte Haltung gewährleistet gewesen, da die Tiere sonst starken Stress entwickelt
hätten. Dadurch ist jedoch noch keine Handlungstendenz dahingehend erwiesen, auch
dem Betrieb des Onkels dienen zu wollen. Denn einem Pferdeliebhaber liegt gerade das
Wohlergehen der Tiere am Herzen. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die
Klägerin der Vermutung ihrer Schwester zufolge tätig wurde, um Vorhaltungen ihres
Onkels zu vermeiden, dass sie faul sei. Dieses Motiv als wahr unterstellt, hätte die
Klägerin gerade im Wesentlichen ihre eigenen Angelegenheiten, nämlich die
Verbesserung ihres Ansehens bei ihrem Onkel verfolgt.
Auf der Grundlage der Angaben der Klägerin vor dem Senat kann ebenfalls nicht die
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Auf der Grundlage der Angaben der Klägerin vor dem Senat kann ebenfalls nicht die
Handlungstendenz festgestellt werden, dem Unternehmen des Onkels dienen zu wollen.
Eine ausdrückliche Weisung, die Pferde auf die Koppel zu bringen, hat die Klägerin nicht
behauptet. Eine entsprechende Aufforderung kann auch der nach längerer Diskussion in
der Verhandlung protokollierten und von der Klägerin genehmigten Aussage, das
Ehepaar Peters habe sinngemäß geäußert, „die Pferde werden sich freuen, auf die
Koppel zu kommen“, nicht entnommen werden. Denn es handelt sich um eine
Feststellung, die auf die Belange der Pferde gerichtet ist und nicht auf die Belange des
Unternehmens. Ist die Klägerin aufgrund dieser Äußerungen des Ehepaars tätig
geworden, so hat sie wie auch sonst im Wesentlichen ihre eigenen Interessen, nämlich
mit den Pferden zusammen zu sein und für ihr Wohlergehen zu sorgen, verfolgt.
Nach alledem war die Berufung der Beklagten erfolgreich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht
erfüllt.
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