Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 19.10.2010

LSG Berlin-Brandenburg: vollziehung, hauptsache, aussetzung, vorverfahren, widerspruchsverfahren, rückforderung, aufwand, quelle, einverständnis, gerichtsakte

1
2
3
4
5
Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 7.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 7 KA 87/09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 63 SGB 10, § 14 Abs 1 RVG, §
85 SGB 5
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren -
Rechtsanwaltsvergütung - Rahmengebühr - Überschreitung des
Mittelwerts - Einordnung der Schwierigkeit der anwaltlichen
Tätigkeit: keine Differenzierung nach Rechtsgebieten
Leitsatz
Bei der Einordnung, ob die rechtliche Schwierigkeit durchschnittlich bzw. über- oder
unterdurchschnittlich im Sinne von § 14 Abs. 1 RVG ist, ist es nicht angebracht, nach
einzelnen Rechtsgebieten bzw. Teilrechtsgebieten zu differenzieren; so führt etwa allein die
Eigenschaft als vertragsarztrechtliche Honorarstreitigkeit nicht dazu, gleichsam automatisch
überdurchschnittlichen Schwierigkeitsgrad (und damit eine Überschreitung der Mittelgebühr)
unterstellen zu können.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts
Berlin vom 28. Mai 2009 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Höhe erstattungsfähiger Anwaltskosten.
Der Kläger ist Vertragsarzt im Bezirk der Beklagten. Mit Bescheid vom 15. November
2006 änderte die Beklagte die Honorarbescheide des Klägers für die Quartale III/2005 bis
I/2006 und verfügte eine Honorarrückforderung in Höhe von 22.741,40 Euro. Bei der
Abrechnung der Leistungen des fahrenden ärztlichen Bereitschaftsdienstes (ÄBD) sei es
in den betreffenden Quartalen zu einem Fehler gekommen, der dazu geführt habe, dass
an die ÄBD-Ärzte insgesamt 3,4 Mio. Euro zuviel Honorar ausgezahlt worden sei.
Irrtümlich sei die Vergütung nach dem bis 30. Juni 2005 geltenden
Honorarverteilungsmaßstab und nicht nach dem seit 1. Juli 2005 geltenden bemessen
worden. Der zuviel geleistete Betrag müsse zurückfließen und dem haus- sowie dem
fachärztlichen Vergütungsanteil zugeführt werden.
Der hiergegen von den Prozessbevollmächtigten des Klägers eingelegte Widerspruch
machte geltend, der Rückforderung mangele es an einer Rechtsgrundlage, die
Honorarbescheide der fraglichen Quartale seien bestandskräftig geworden, sämtliche
ÄBD-Leistungen habe der Kläger ordnungsgemäß abgerechnet. Auf die Richtigkeit der
Honorarberechnung habe er sich verlassen dürfen; letztere sei so kompliziert, dass sie
von einem normalen Menschen gar nicht nachvollzogen werden könne. Zugleich
beantragte der Kläger die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Bescheides;
eine Rückforderung in so eklatanter Höhe werfe erhebliche Finanzierungsprobleme für
den laufenden Praxisbetrieb auf.
Mit Bescheid vom 28. Dezember 2006 lehnte die Beklagte die Aussetzung der
Vollziehung des angefochtenen Bescheides ab. Die Voraussetzungen aus § 86 a Abs. 3
SGG lägen nicht vor. Die Entstehung irreparabler Schäden für den Fall der sofortigen
Vollziehung des Bescheides habe der Kläger nicht näher substantiiert; der allgemeine
Hinweis auf Finanzierungsprobleme sei nicht ausreichend. Es müsse daher bei der
Entscheidung des Gesetzgebers in § 85 Abs. 4 Satz 9 SGB V bleiben.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 2007 hob die Widerspruchsstelle der
Beklagten den angefochtenen Bescheid vom 15. November 2006 auf. Der Kläger habe
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
Beklagten den angefochtenen Bescheid vom 15. November 2006 auf. Der Kläger habe
auf den Bestand der Honorarbescheide für die fraglichen Quartale vertrauen dürfen,
zumal der Abrechnungsfehler nicht ohne Weiteres erkennbar gewesen sei. Die
Aufwendungen des Klägers seien zu erstatten; die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten
für das Vorverfahren sei notwendig gewesen.
Mit Schreiben vom 7. März 2007 beantragte der Kläger durch seine
Prozessbevollmächtigten Kostenerstattung in Höhe von insgesamt 2.396,66 Euro. Als
Gegenstandwert wurde für die Hauptsache 22.741,40 Euro und für den
Aussetzungsantrag 4.548,28 Euro (ein Fünftel) angegeben.
Die Forderung setze sich wie folgt zusammen:
Die Gebühren des Aussetzungsverfahrens gehörten zu den erstattungsfähigen
Aufwendungen, weil dem Aussetzungsantrag hätte stattgegeben werden müssen. Die
Überschreitung der Mittelgebühr von 1,5 sei gerechtfertigt, da der Umfang und die
Schwierigkeit der Bearbeitung sowie die Bedeutung der Sache überdurchschnittlich
gewesen seien.
Mit Bescheid vom 24. April 2007, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 28. August
2007, setzte die Beklagte die erstattungsfähigen Kosten auf insgesamt 1.248,31 Euro
fest und legte dabei einen Gegenstandswert von 22.161,06 Euro zugrunde. Anzusetzen
seien:
Der Ansatz der vom Mittelwert abweichenden Geschäftsgebühr sei nicht gerechtfertigt,
da es sich um keinen Fall überdurchschnittlicher Schwierigkeit gehandelt habe. Eine
Geschäftsgebühr für das erfolglose Aussetzungsverfahren könne nicht gewährt werden,
da es sich um ein eigenständiges Verfahren handele, das erfolglos betrieben worden sei.
Mit der hiergegen erhobenen Klage verfolgt der Kläger das Ziel, die Festsetzung zu
erstattender Aufwendungen in Höhe von insgesamt 2.396,66 Euro und damit weiterer
1.148,35 Euro zu erreichen. Die Überschreitung der Mittelgebühr sei angesichts der
Schwierigkeit der Sache statthaft. Es handele sich um ein vergleichsweise abgelegenes
Rechtsgebiet, das erheblichen Rechercheaufwand mit sich bringe; der Zugang sei dem
Unkundigen nahezu vollständig verschlossen. Wegen des Erfolgs des Widerspruchs seien
auch die Kosten des Aussetzungsverfahrens zu erstatten.
Mit Gerichtsbescheid vom 28. Mai 2009 hat das Sozialgericht Berlin die Klage
abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Soweit der Kläger im
Klageverfahren beantragt habe, die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im
Vorverfahren für notwendig zu erklären, fehle es am Rechtsschutzbedürfnis, denn dieser
Ausspruch sei bereits im stattgebenden Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 2007
enthalten. Auch soweit der Kläger rüge, dass die Beklagte einen Gegenstandswert von
nur 22.161,06 Euro zugrunde gelegt habe, sei dies nicht zu beanstanden, denn
gegenüber dem Wert von 22.741,40 Euro ergebe sich kein Gebührensprung. Die von der
Beklagten vorgenommene Gebührenfestsetzung sei der Höhe nach zutreffend. Die
Mittelgebühr von 1,5 sei nicht zu überschreiten, da es sich um keinen Fall mit (deutlich)
überdurchschnittlicher Schwierigkeit gehandelt habe. Die Begründung des Widerspruchs
lasse keine besonders intensive Auseinandersetzung mit den
Honorarverteilungsregelungen erkennen. Sie umfasse nicht einmal drei Seiten. Damit
sei das Verfahren eher noch als unterdurchschnittlich anzusehen. Recherchearbeit
gehöre zudem zur typischen anwaltlichen Tätigkeit. Allein aus dem Erfolg des
Widerspruchs dürfe nicht auf überdurchschnittliche Schwierigkeit geschlossen werden.
Auch führe allein die streitige Summe nicht zur Überschreitung der Mittelgebühr, da eine
Existenzbedrohung des Klägers in keiner Weise dargetan worden sei. Aufgrund der
Eigenständigkeit des Aussetzungsverfahrens schließlich verbiete sich eine hierauf
bezogene Kostenerstattung. Der Erfolg des Hauptsacheverfahrens könne nicht zur
Erstattung der Kosten des erfolglosen Aussetzungsverfahrens führen.
Am 18. Juni 2009 hat der Kläger Berufung eingelegt. Er verfolgt sein Begehren weiter. Die
Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten werde (auch) in Bezug auf das
vorliegende Streitverfahren geltend gemacht. Die Erhöhung der Mittelgebühr sei nach
allen Regelkriterien des § 14 RVG gerechtfertigt. Abzustellen sei auf einen
„Normalanwalt“, nicht auf einen Fachanwalt. Für ersteren sei das vertragsärztliche
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
„Normalanwalt“, nicht auf einen Fachanwalt. Für ersteren sei das vertragsärztliche
Honorarrecht stets überdurchschnittlich schwierig und umfangreich. Anzusetzen seien
auch die Gebühren des Aussetzungsverfahrens, denn der stattgebende
Widerspruchsbescheid habe zur Erledigung der Vollziehungsangelegenheit geführt.
Der Klägerin beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 28. Mai 2009 aufzuheben,
den Bescheid der Beklagten vom 24. April 2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 28. August 2007 zu ändern und die Beklagten zu
verpflichten, die für das Widerspruchsverfahren zu erstattenden Aufwendungen auf
insgesamt 2.396,66 Euro festzusetzen.
Die Beklagte hält den mit der Berufung angegriffenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, der,
soweit wesentlich, Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der
Entscheidungsfindung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Im schriftlich erklärten Einverständnis der Beteiligten durfte der Berichterstatter ohne
mündliche Verhandlung und an Stelle des Senats entscheiden, § 124 Abs. 2 SGG i.V.m.
§ 153 Abs. 1 SGG sowie § 155 Abs. 3 und Abs. 4 SGG.
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage
abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf weiter gehende Kostenerstattung. Zur
Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat nach eigener Sachprüfung Bezug auf
die erstinstanzlichen Entscheidungsgründe (§ 153 Abs. 2 SGG). Sie würdigen die
aufgeworfenen Rechtsfragen hinlänglich und überzeugend. Hinzuzufügen bleibt in
Würdigung der Berufungsbegründung:
Die Überschreitung des Mittelwerts von 1,5 erscheint auch dem Senat angesichts der
verhältnismäßig lapidaren Widerspruchsbegründung nicht gerechtfertigt; sie wäre unbillig
zu Lasten der Beklagten (§ 14 Abs. 1 Satz 4 RVG). Mit keinem Wort wurden im
Schriftsatz etwa die Regelungen in den Berliner Honorarverteilungsmaßstäben
aufgegriffen, mit denen die Beklagte ihre Rückforderung rechtfertigte; Rechtsprechung
oder Literatur waren nicht eingearbeitet. Stattdessen wurde einzig mit dem Gedanken
des Vertrauensschutzes argumentiert. Akteneinsicht wurde weder beantragt noch
vorgenommen. Der zeitliche Aufwand, den der Prozessbevollmächtigte des Klägers auf
den (einzigen) im Widerspruchsverfahren gefertigten Schriftsatz verwendet hat,
erscheint zur Überzeugung auch des Senats bestenfalls durchschnittlich; für besonderen
Zeitaufwand etwa in Form besonders langer Besprechungen, besonders aufwändiger
Recherchearbeit, besonders umfangreichen Aktenstudiums, besonders umfangreicher
Anfertigung von Notizen oder komplexen Schriftverkehrs ist nichts von Substanz
vorgetragen, geschweige denn Beweis angetreten (vgl. hierzu Bundessozialgericht, Urteil
vom 1. Juli 2009, B 4 AS 21/09 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 29).
Zudem ist die Annahme, allein der Regelungszusammenhang des Vertragsarztrechts
bringe praktisch die besondere Schwierigkeit mit sich, nicht tragfähig; bei der
Einordnung, ob die rechtliche Schwierigkeit durchschnittlich bzw. über- oder
unterdurchschnittlich ist, ist es nicht angebracht, nach einzelnen Rechtsgebieten bzw.
Teilrechtsgebieten zu differenzieren. Abzustellen ist vielmehr in jedem Rechtsgebiet auf
den konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände (vgl.
Bundessozialgericht, Urteil vom 5. Mai 2010, B 11 AL 14/09 R, zitiert nach juris, dort
Rdnr. 19). Diese Umstände ergeben hier kein anderes Bild als das einer bestenfalls
durchschnittlichen Vergütungsstreitigkeit, in der der tatsächliche anwaltliche Aufwand
noch verhältnismäßig gering war.
Ein Gutachten des Vorstands der Rechtsanwaltskammer nach § 14 Abs. 2 RVG hatte das
Gericht im hier gegebenen Streit zwischen Rechtsanwalt und erstattungspflichtigem
Dritten nicht einzuholen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 1. Juli 2009, B 4 AS 21/09
R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 13 sowie Mayer in Gerold/Schmidt, RVG, 18. Aufl. 2008,
Rdnr. 35 zu § 14).
Die Eigenständigkeit des hier erfolglos durchgeführten Aussetzungsverfahrens nach § 86
a Abs. 3 SGG sieht der Kläger selbst; dem liegt § 17 Nr. 1 RVG zugrunde. Die insoweit
entstehenden Gebühren sind unabhängig vom Hauptsacheverfahren. Fehl geht der
Kläger aber in der Annahme, das erfolgreich durchgeführte Widerspruchsverfahren habe
26
27
Kläger aber in der Annahme, das erfolgreich durchgeführte Widerspruchsverfahren habe
zur Erledigung des Aussetzungsantrages geführt. Erledigt war der Aussetzungsantrag
mit seiner Bescheidung vom 28. Dezember 2006. Insoweit hätte dem Kläger dann das
gerichtliche Eilverfahren nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG offen gestanden. Diesen Weg
parallel zum Hauptsacheverfahren hat der Kläger indessen nicht beschritten. Er kann
nun nicht verlangen, gleichsam über den Umweg des erfolgreichen
Hauptsacheverfahrens die Kostenlast des Aussetzungsverfahrens abzuwälzen. Auch im
gerichtlichen Verfahren ist ein unterschiedlicher Ausgang von parallel geführten Eil- und
Hauptsacheverfahren denkbar. Keinesfalls führt aber ein Erfolg im Hauptsacheverfahren
dazu, die Kostenfolge eines zuvor gegebenenfalls ohne Erfolg betriebenen Eilverfahrens
zu ändern. Das hat angesichts der unterschiedlichen Prüfungsmaßstäbe auch seinen
guten Grund (vgl. zum Prüfungsmaßstab im Eilverfahren in Zusammenhang mit § 85
Abs. 4 Satz 9 SGB V: Beschluss des Senats vom 6. Februar 2008, L 7 B 170/07 KA ER,
zitiert nach juris, dort Rdnr. 49). Ohne dass es hier darauf ankommt, sieht der Senat sich
zu der Anmerkung veranlasst, dass das Vorbringen des Klägers zur Begründung seines
Aussetzungsantrages im Schreiben vom 20. November 2006 außerordentlich
oberflächlich war und von daher fast zwingend dazu führen musste, dass die Beklagte
zunächst die gesetzgeberische Grundentscheidung in § 85 Abs. 4 Satz 9 SGB V
beachtete und an der sofortigen Vollziehung festhielt. Der Erfolg im
Hauptsacheverfahren, der sich zwei Monate später in der vor der Widerspruchsstelle
getroffenen Entscheidung zeigte, stand auf einem anderen Blatt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 2 VwGO und
folgt dem Ergebnis in der Hauptsache. Angesichts der Erfolglosigkeit von Klage- und
Berufungsverfahren und der damit einhergehenden Kostenlast erübrigt sich ein
Ausspruch zur Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren
nach § 63 Abs. 2 SGB X.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil hierfür kein Grund nach § 160 Abs. 2 SGG vorlag.
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum