Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 09.01.2006

LSG Berlin und Brandenburg: wirtschaftliches interesse, ermessen, entziehen, beitragsforderung, unfallversicherung, erlass, zukunft, anfechtungsklage, öffentlich, beitragspflicht

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 09.01.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 67 U 448/01
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 3 B 7/05 U
Die Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 12. Oktober 2004 wird
zurückgewiesen.
Gründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet. Die Entscheidung des
Sozialgerichts, den Gegenstandswert auf 185.654,63 EUR festzusetzen, ist nicht zum Nachteil der Beklagten
ermessensfehlerhaft.
Für die Festsetzung des Gegenstandswerts ist die ab 2. Januar 2002 geltende Regelung des § 197 a
Sozialgerichtsgesetz (SGG) noch nicht anwendbar, denn der Rechtsstreit ist bereits vor diesem Zeitpunkt
rechtshängig gewesen (Art. 17 Abs. 1 S. 2 6. SGG-Änderungsgesetz).
Rechtsgrundlage der Entscheidung ist vielmehr § 116 Abs. 2 Nr. 3 Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO),
deren Vorschriften gemäß § 61 Abs. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) auf den vorliegenden Fall weiterhin
Anwendung finden. Danach werden in Verfahren aufgrund öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern
und einer Berufsgenossenschaft die Gebühren der Rechtsanwälte nach dem Gegenstandswert berechnet.
Eine solche Streitigkeit war hier anhängig, denn die Beklagte hatte ihre Zuständigkeit für die Klägerin ab dem 1. Juli
2000 sowie die Beitragspflicht ab diesem Zeitpunkt zu ihr festgestellt, obwohl die Klägerin formell einem anderen
Unfallversicherungsträger als Mitglied angehörte. Das Sozialgericht hat antragsgemäß den sog.
Zuständigkeitsbescheid der Beklagten aufgehoben. Die Berufung und anschließende Nichtzulassungsbeschwerde
blieben erfolglos.
Im Anwendungsbereich des § 116 Abs. 2 BRAGO ist der Gegenstandswert mangels einschlägiger Wertvorschriften
nach billigem Ermessen zu bestimmen (§ 8 Abs. 2 S. 2 BRAGO). In Anlehnung an § 13 des Gerichtskostengesetzes
(GKG) ist dabei auf die sich aus dem Antrag des Beschwerdeführers (§ 14 Abs. 1 S. 1 GKG) für ihn ergebende
Bedeutung der Sache, in der Regel also auf sein wirtschaftliches Interesse an der erstrebten Entscheidung und deren
Auswirkungen, abzustellen (vgl. dazu BSG SozR 1930 § 8 Nr. 2 und 5; BSG vom 8. Oktober 2002, Az.: B 3 KR 63/01
R).
Die Anfechtungsklage im hiesigen Verfahren diente dem Ziel, Beitragsforderungen der Beklagten die Grundlage zu
entziehen. Die Klägerin wollte sich damit aber nicht vollständig der Beitragszahlung zur gesetzlichen
Unfallversicherung entziehen. Vielmehr war das Interesse der Klägerin auf die Weiterzahlung von –deutlich
günstigeren- Beiträgen an den Unfallversicherungsträger, dessen Mitglied die Klägerin bereits vor Erlass des
Zuständigkeitsbescheides der Beklagten war, gerichtet. Dazu bedurfte es der Aufhebung des entgegenstehenden
Bescheides der Beklagten. Danach beurteilt sich die Bedeutung der Sache, die der Festsetzung des
Gegenstandswerts nach billigem Ermessen zugrunde zu legen ist. Die Höhe der Beiträge, die die Beklagte ab 1. Juli
2000 von der Klägerin gefordert hat, bietet einen Anhalt für die Schätzung des Gegenstandswerts. Dabei hat das
Sozialgericht sachgerecht den Differenzbetrag zwischen dem von der Beklagten für die 2. Hälfte des Jahres 2000
geforderten Beitrag und dem von dem nunmehr weiterhin zuständigen Unfallversicherungsträger für denselben
Zeitraum geforderten Beitrag seiner Schätzung zugrundegelegt. Dabei handelt es sich um einen Betrag von 18.565,46
EUR.
Darin erschöpft sich allerdings weder die Bedeutung der Sache noch das wirtschaftliche Interesse der Klägerin. Denn
die Aufhebung des Zuständigkeitsbescheides der Beklagten entfaltet auch Wirkung für die Zukunft und zwar über den
Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung am 22. März 2002 und damit erst recht über den Zeitraum der
Beitragsforderung für das Jahr 2001 hinaus. Denn allein aufgrund eines bindenden Zuständigkeitsbescheides hätte die
Beklagte zukünftig Beiträge von der Klägerin erheben können. Nur der Zuständigkeitsbescheid kann Grundlage für
zukünftige Beitragserhebungen sein. Seine Wirksamkeit erschöpft sich deshalb nicht auf das zweite Halbjahr 2000.
Die Auffassung der Beklagten, die Klägerin habe lediglich ein "rückwärts gewandtes" Interesse an der Aufhebung des
Bescheides gehabt, so dass nur die Festsetzung eines Gegenstandswertes von 18.565,46 EUR gerechtfertigt sei, ist
unverständlich und verkennt die Wirkung des erlassenen Zuständigkeitsbescheides.
Rechtsstreitigkeiten wegen der Zuständigkeit eines Unfallversicherungsträgers rechtfertigen nach einer Entscheidung
des BSG in einem ähnlich gelagerten Fall (BSG SozR 1930 § 8 Nr. 5) sogar, ein Achtfaches des Jahresbetrages der
Beitragsleistungen anzunehmen, wobei das BSG außerdem davon ausgegangen ist, dass das seiner Entscheidung
zugrundeliegende Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz keine zeitlich unbegrenzten Auswirkungen hatte.
Die Schätzung des Gegenstandswerts entsprechend einem achtfachen durchschnittlichen Jahresbetrag der
Beitragsleistungen entspreche jedenfalls dem wirtschaftlichen Interesse des Klägers.
Angesichts dessen ist die Beklagte durch die Entscheidung des Sozialgerichts, einen fünffachen Jahresbetrag aus
der Differenz ihrer Beitragsforderung und des eigentlich zuständigen Unfallversicherungsträgers als Gegenstandswert
anzunehmen, nicht in ihren Rechten verletzt worden.
Die Beschwerde war deshalb zurückzuweisen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).