Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 12.05.2006

LSG Berlin und Brandenburg: aufschiebende wirkung, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, agent, wichtiger grund, berufliche tätigkeit, vollziehung, firma, anfechtungsklage, verwaltungsakt

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 12.05.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 100 AS 1359/06 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 10 B 191/06 AS ER
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 24. Februar 2006
aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 13. Februar 2006 gegen den Bescheid vom 05. Oktober 2005
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06. Februar 2006 (W 467/06) sowie die Aufhebung der Vollziehung
des zuvor genannten Bescheides werden angeordnet. Die Antragsgegnerin hat die dem Antragsteller entstandenen
Kosten des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I.
Streitig ist die Absenkung der nach § 20 des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB II) maßgebenden
Regelleistung um 30 v. H. für die Zeit von November 2005 bis Januar 2006 gem. § 31 Abs. 1 und 6 SGB II.
Der 1973 geborene Antragsteller (Ast), der seit Januar 2005 von der Antragsgegnerin (Ageg) Arbeitslosengeld II
bezieht, lebt mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen im Jahr 2004 geborenen Sohn in einer Wohnung. Die
Ageg veranlasste zur Feststellung der Leistungsfähigkeit des Ast eine ärztlichen Begutachtung durch den
Allgemeinmediziner Dr. T, der nach Untersuchung des Ast in seinem Gutachten vom 23. Mai 2005 diesen als
vollschichtig leistungsfähig für ständig leichte und überwiegend mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder
Arbeitshaltung (zeitweise stehend, gehend und sitzend) unter Beachtung weiterer Einschränkungen beurteilte. Am 24.
Mai 2005 unterbreitete die Ageg dem Ast vier Arbeitsangebote als Call-Center-Agent bei den Firmen B W, RC M(), E
M – B und M C M B. Jedes dieser Arbeitsangebote wurden vom Ast mit der Begründung abgelehnt, er sei laut
ärztlicher Bescheinigung für eine Tätigkeit, die mit dauerndem Sitzen verbunden sei, gesundheitlich nicht geeignet;
außerdem habe er die Arbeitsstelle auch aus familiären Gründen – Erkrankung der Lebensgefährtin bzw.
Betreuungsbedürftigkeit des gemeinsamen Kindes – nicht antreten können. Nach Einholung einer ergänzenden
Stellungnahme des Arztes der Agentur für Arbeit Berlin Süd, Herrn L-K vom 2. August 2005, die nach Aktenlage
erfolgte, (Einsetzbarkeit für Büro- als auch Call-Center-Tätigkeiten sei gegeben) und Begutachtung der
Lebensgefährtin (Gutachten nach Untersuchung durch Herrn Dr. H vom 17. Juli 2005: vollschichtige Einsatzfähigkeit
für mittelschwere Arbeiten in allen Haltungsarten für Tätigkeiten ohne Zeitdruck und Verantwortung) erließ die Ageg in
der Folge mehrere Absenkungsbescheide nach § 31 Abs. 1 Nr. 1 c und Abs. 6 SGB II. Zunächst wurde die
Regelleistung mit Bescheid vom 11. August 2005 für die Zeit von September bis November 2005 um 30 v. H. mit der
Begründung gekürzt, der Ast habe die ihm angebotene Tätigkeit als Call-Center-Agent bei der Firma B W nicht
angetreten. Sodann wurde in dem hier streitbefangenen Bescheid vom 5. Oktober 2005 die Regelleistung um weitere
30 v. H. für die Zeit von November 2005 bis Januar 2006 mit der Begründung gekürzt, der Ast habe die angebotene
Tätigkeit als Call-Center-Agent bei Firma M C B nicht angetreten. Mit weiteren Bescheid vom 21. November 2005
wurde dann die Regelleistung nochmals um 30 v. H. für die Zeit vom Dezember 2005 bis Februar 2006 mit der
Begründung gekürzt, der Ast habe die ihm angebotene Tätigkeit als Call-Center-Agent bei der Firma nicht angetreten.
Ob auch bzgl. der Ablehnung der Tätigkeit als Call-Center-Agent bei der Firma E M – B letztlich ein
Absenkungsbescheid (Bescheid vom 10. August 2005 ?) nach § 31 SGB II ergangen ist, kann den insoweit
unvollständigen Verwaltungsakten nicht entnommen werden (Anhörung hierzu auf Blatt 170/171 VA). Die jeweils
gegen die Absenkungsbescheide erhobenen Widersprüche wies die Ageg zurück.
Mit seinem am 13. Februar 2006 beim Sozialgericht Berlin (SG) eingegangenen Schriftsatz vom 8. Februar 2006 hat
der Ast Klage erhoben und die Aufhebung des Bescheides vom 05. Oktober 2005 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 06. Februar 2006 begehrt sowie beantragt, im Wege des einstweiligen Rechtschutzes
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Absenkungsbescheid wiederherzustellen und unverzüglich die
"Leistungskürzungen zurückzunehmen". Er habe die Tätigkeiten im Call-Center aus wichtigem Grund abgelehnt, da er
wegen seiner Wirbelsäulenbeschwerden keine Tätigkeit mit ständigem Sitzen ausführen könne. Zu dem könne er nur
vier Stunden am Tag arbeiten, da er auf Grund der Schlafwandelkrankheit seiner Lebensgefährtin deren Nachtschlaf
und den des gemeinsamen Kindes überwachen müsse. Wenn er nicht für die Sicherheit des Kindes garantieren
könne, werde das Jugendamt ihnen das Kind wegnehmen. Die Ageg habe die Leistungskürzung in dem
angefochtenen Bescheid wie auch bzgl. der anderen Bescheide ausgeführt, so dass ihm kaum noch Geld für seine
Ernährung zur Verfügung stehe.
Durch Beschluss vom 24. Februar 2006 hat das SG den einstweiligen Rechtsschutzantrag mit der Begründung
abgelehnt, nach summarischer Prüfung erweise sich der angegriffene Verwaltungsakt nicht als rechtswidrig.
Hiergegen wendet sich der Ast mit seiner Beschwerde, der das SG nicht abgeholfen, sondern diese dem Senat zur
Entscheidung vorgelegt hat.
Der Ageg ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Bei Entscheidungsfindung haben Band I und Band II
der Verwaltungsakten (in Kopie) der Ageg sowie die Verfahrensakten S 53 AS 1305/06 ER bzw. L 10 B 302/06 AS ER
und S 100 as 1360/06 ER bzw. L 18 B 257/06 AS ER vorgelegen. II.
Das Passivrubrum war von Amts wegen zu berichtigen, da die Arbeitsgemeinschaft des Landes Berlin und der
Bundesagentur für Arbeit für den örtlichen Bereich des Verwaltungsbezirks Treptow-Köpenick, bezeichnet als
JobCenter Treptow-Köpenick, vertreten durch den Geschäftsführer, nach Auffassung des Senats i. S. d. § 70 Nr. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG) beteiligtenfähig ist (für die Arbeitsgemeinschaft für den örtlichen Bereich des
Verwaltungsbezirks Lichtenberg-Hohenschönhausen, Beschluss des Senats vom 14. Juni 2005, als vormals 10.
Senat des Landessozialgerichts Berlin, L 10 B 44/05 AS ER).
Die frist- und formgerecht eingelegte Beschwerde des Ast ist zulässig und begründet.
Der vom SG im angefochtenen Beschluss abgelehnte Antrag des Ast war, wie seinem Schriftsatz vom 08. Februar
2006 zu entnehmen ist (vgl. § 123 Sozialgerichtsgesetz – SGG -), zum einen auf die Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung der – gleichzeitig – erhobenen Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) gegen den
Absenkungsbescheid vom 05. Oktober 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06. Februar 2006 nach
§ 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG als auch auf die Aufhebung der Vollziehung des zuvor genannten Bescheides für den
betroffenen Leistungszeitraum vom 01. November 2005 bis zum 31. Januar 2006 nach § 86 b Abs. 1 Satz 2 SGG
gerichtet. Nach diesen Bestimmungen kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder
Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen;
sofern der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden ist, kann das Gericht
die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Diese Sachlage ist hier gegeben, denn nach § 39 Nr. 1 SGB II, der eine
Regelung im Sinne von § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG trifft, haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen
Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende
Wirkung.
Ob die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anzuordnen ist oder nicht, entscheidet das Gericht nach
pflichtgemäßem Ermessen auf der Grundlage einer Abwägung, wobei das private Interesse des Bescheidadressaten
an der Aufschiebung der Vollziehung gegen das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des
Verwaltungsaktes abzuwägen ist. Um eine Entscheidung zugunsten des Bescheidadressaten zu treffen, ist
zumindest erforderlich, dass bei summarischer Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitigen
Bescheides bestehen (vgl. zum Meinungsstand: Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2005, Rdnr. 197 ff.). Ist
in diesem Sinne eine Erfolgsaussicht des Hauptsacheverfahrens zu bejahen, ist weiterhin Voraussetzung, dass dem
Betroffenen das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden kann, also ein gewisses Maß
an Eilbedürftigkeit besteht.
Bei der gebotenen summarischen Prüfung bestehen ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der von der Ageg im
Bescheid vom 05. Oktober 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06. Februar 2006 getroffenen
Regelung über die Absenkung der Regelleistung um (weitere) 30 v.H. für den Zeitraum vom 01. November 2005 bis
zum 31. Januar 2006. So ist schon im Hinblick auf das von der Ageg vor Übersendung der Arbeitsangebote vom 24.
Mai 2005 eingeholte ärztliche Gutachten von Dr. Theiler zweifelhaft, ob die angebotene – nahezu ausschließlich im
Sitzen zu verrichtende - Tätigkeit als Call-Center-Agent bei der Fa. Marketing Center Burgstaller dem Ast
gesundheitlich zumutbar war. Denn Dr. Theiler hatte eine Leistungsfähigkeit des Ast nur für Tätigkeiten in
wechselnder Arbeitshaltung bejaht. Ob diese Einschätzung durch die nachträglich Anfang August 2005 eingeholte –
insoweit wenig ergiebige – Stellungnahme nach Aktenlage des Arztes der Agentur für Arbeit Berlin Süd, Herrn
Lehmann-Köhn, belastbar widerlegt worden ist, lässt sich nur nach weiteren Ermittlungen im Hauptsacheverfahren
klären. Sollte sich danach rückschauend ergeben, dass der Ast über das für eine Call-Center-Tätigkeit erforderliche
körperliche Leistungsvermögen verfügt, wäre zu prüfen, ob für ihn zumindest im Zeitpunkt der Ablehnung der Tätigkeit
auf Grund des Gutachtens von Dr. T ein wichtiger Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II bestanden hatte.
Des Weiteren erscheint es äußerst fraglich, ob es sich bei der Ablehnung aller dem Ast am gleichen Tag (24. Mai
2005) unterbreiteter Arbeitsangebote als Call-Center-Agent um wiederholte Pflichtverletzungen im Sinne von § 31 Abs.
3 Satz 1 SGB II gehandelt hat, mit der Folge, dass nach Erlass des ersten Absenkungsbescheides (hier vom 10. oder
11. August 2005) weitere Minderungen auszusprechen waren. Der vorliegende Sachverhalt spricht vielmehr dafür,
dass die gleichzeitige Übermittlung mehrerer – alternativer – Arbeitsangebote für eine bestimmte berufliche Tätigkeit
(Call-Center-Agent) als Einheit zu betrachten ist, und damit nur eine Pflichtverletzung auslösen kann, insbesondere
wenn – wie hier – die Ablehnung der Angebote aus den gleichen Gründen erfolgte (vgl. Rixen in Spellbrink/Eicher,
SGB II Grundsicherung für Arbeitsuchende, 2005, Rz. 49 zu § 31; zur gleichgelagerten Problematik im Rahmen der
Sperrzeit nach § 144 Drittes Buch des Sozialgesetzbuches (SGB III): Voelzke in Spellbrink/Eicher, Kasseler
Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, Rz. 311 zu § 12). Zudem entspricht die Vorgehensweise der Ageg, bei einem
Sachverhalt wie dem vorliegenden für jedes einzelne abgelehnte Arbeitsangebot aufeinander folgende
Absenkungsbescheide zu erlassen, nicht Sinn und Zweck der Regelung des § 31 SGB II (vgl. SG Berlin Beschluss
09. März 2006 – S 53 AS 1305/06 ER-). Die in § 31 SGB II vorgesehenen wiederholbaren Sanktionen sollen
erzieherisch auf den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen einwirken, der sich beharrlich weigert, seine Arbeitskraft zur
Selbsthilfe (Beseitigung bzw. Minimierung der Hilfebedürftigkeit) einzusetzen (vgl. Berlit in LPK-SGB II, 2004, Rz. 75,
76 zu § 31). Von einer beharrlichen Weigerung kann in der Regel nur bei zeitlich aufeinander folgenden
Pflichtverletzungen gesprochen werden, bei denen erneut vom Hilfebedürftigen die Weigerung zum Ausdruck gebracht
wird, seine Arbeitskraft zur Sicherung des Lebensunterhaltes einzusetzen.
Im Hinblick auf die mehrfachen Kürzungen der Regelleistung des Ast und die besondere Bedeutung dieser Leistung
zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz (vgl. Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 12. Mai 2005 - BvR
569/05 -) kann dem Ast das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden, daher war auch
die Aufhebung der bereits erfolgten Vollziehung des angefochtenen Bescheides anzuordnen. Bei Ausführung der
angeordneten Vollziehungsaufhebung wird die Ageg evtl. erbrachte Sachleistungen (z.B. dem Ast ausgestellte und
von diesem eingelöste Lebensmittelgutscheine) anzurechnen haben, sofern diese noch nicht auf andere Teile des
Arbeitslosengeld II-Anspruches angerechnet worden sind.
Die Kostenregelung beruht auf § 193 SGG analog.
Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar, § 177 SGG.