Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 01.03.2005

LSG Berlin und Brandenburg: eidesstattliche erklärung, beweisgrad der wahrscheinlichkeit, anerkennung, versorgung, neurologie, rücknahme, trauma, widerspruchsverfahren, form, kopfschmerzen

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 01.03.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 41 V 35/03
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 13 V 3/04
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 7. Februar 2004 wird
zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Streitig sind die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen und die Gewährung einer Versorgung nach dem
Bundesversorgungsgesetz (BVG) im zweiten Überprüfungsverfahren.
Bei dem 1926 geborenen Kläger erkannte das Versorgungsamt Stuttgart mit Bescheid vom 5. April 1946 als
Wehrdienstbeschädigung "Splitterverletzung der linken Lunge, reizlose Narbe der linken Gesäßhälfte und an der
Hinterseite des rechten Oberschenkels, oberflächlich eiternde Wunden an den Zehen des rechten Fußes infolge
Durchblutungsstörungen nach Erfrierung” an und bewilligte für diese Körperschäden Heilfürsorge. Bei einer
versorgungsärztlichen Untersuchung am 10. Januar 1949 gab der Kläger an, bei seiner Verwundung im März 1945 sei
er durch einen Schlag bewusstlos geworden, seitdem habe seine Merkfähigkeit sehr nachgelassen. Als Befund wurde
u.a. am Hinterkopf eine ca. zweimarkstückgroße Eindellung, nicht druckempfindlich, nicht klopfempfindlich erhoben.
Insoweit erkannte die Landesversicherungsanstalt Württemberg mit Bescheid vom 19. Februar 1949 als
Leistungsgrund u.a. "Narbe am Hinterkopf” an.
Einen im September 1972 gestellten Antrag auf Leistungen nach dem BVG begründete der Kläger mit Schmerzen im
rechten Oberschenkel. In einem versorgungsärztlichen Gutachten vom 28. September 1972 führte der Facharzt für
Chirurgie Dr. S aus, die angegebene Schädelverwundung sei nachgeprüft worden, Verletzungsfolgen oder
Metallsplitter seien röntgenologisch nicht nachzuweisen.
Mit Bescheid vom 30. Januar 1973 erkannte das Versorgungsamt Bremen, das für den Kläger, der inzwischen die
kanadische Staatsangehörigkeit besaß, zuständig war, als Gesundheitsstörungen "Narben am Hinterkopf, Gesäß
links und am rechten Oberschenkel, Weichteilstecksplitter im Gesäß beiderseits und rechtem Oberschenkel” an.
Weitere Schädigungsfolgen lägen nicht vor. Die Gesundheitsstörungen bedingten keine Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE) von wenigstens 25 v.H. Die anerkannten Schädigungsfolgen seien durch Kriegseinwirkung
des Zweiten Weltkrieges verursacht.
Am 20. September 1991 beantragte der Kläger, der sich seit 1990 in B aufhält, eine Versorgung nach dem BVG
wegen "Beschädigung des Gehirns”. Als schädigendes Ereignis gab er an, bei Dunkelheit vor einem Cafe in A 1944
vermutlich von einem Terroristen mit einer Flasche auf den Hinterkopf geschlagen und bewusstlos ins Hospital V
gebracht worden zu sein. Seit dem Überfall habe er große Probleme, sich Zahlen, Daten und Gesichter zu merken,
dies bisher aber verschwiegen, um seinen Beruf nicht zu verlieren.
Der auf Veranlassung des Beklagten mit einem nervenärztlichen Gutachten beauftragte Dr. P (Oberarzt der Abteilung
Neurologie der SKlinik - Chefarzt Prof. Dr. H) berichtete, der Kläger habe ihm gegenüber angegeben, nach dem
Überfall erst am nächsten Tag im Krankenhaus mit Kopfschmerzen aufgewacht und nach zwei Tagen quasi
beschwerdefrei entlassen worden zu sein. Einige Monate später seien erstmals Störungen des Zahlen- und
Personengedächtnisses aufgetreten. Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, hinsichtlich des angegebenen Verlaufs der
Störung bestünden einige Zweifel. Für ein Schädelhirntrauma sei der typische Verlauf neurologischer oder
neuropsychologischer Ausfälle der, dass sie unmittelbar nach dem Trauma aufträten und sich danach allmählich
besserten. Zwar könnten Hirnatrophien erst zu einem späteren Zeitpunkt - nach Monaten - auftreten, was auf eine
diffuse Hirnschädigung schließen lasse, das erstmalige Auftreten neuropsychologischer Störungen in einem Abstand
von zwei bis drei Monaten nach dem angeblich schädigenden Ereignis mit einer dann folgenden Zunahme der
Störungen sei jedoch höchst ungewöhnlich. Eine organische Genese der angegebenen Gedächtnisstörungen sei nicht
zu belegen. Aus neurologischer Sicht sei ein Zusammenhang zwischen den geklagten Gedächtnisstörungen und
einem kriegsbedingten schädigenden Ereignis nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit anzunehmen (Gutachten
vom 15. Oktober 1993).
Durch Bescheid vom 6. Februar 1995 lehnte der Beklagte den Anspruch auf Versorgung nach dem BVG ab. Im
anschließenden Widerspruchsverfahren erhielt der Beklagte Kenntnis des ablehnenden Bescheides des
Versorgungsamtes Bremen vom 30. Januar 1973 und hob mit Bescheid vom 6. Juli 1995 den Bescheid vom 6.
Februar 1995 auf, da mit Bescheid vom 30. Januar 1973 über den Antrag entschieden worden sei.
Mit seinem Widerspruch hiergegen machte der Kläger geltend, das Versorgungsamt Bremen habe über die Verletzung
im Jahre 1945 entschieden, nicht aber über die erste, nunmehr geltend gemachte Verletzung.
Durch Widerspruchsbescheid vom 21. August 1995 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Das Versorgungsamt
I Berlin habe zutreffend dargelegt, dass über den Antrag auf Anerkennung von Schädigungsfolgen bereits bindend mit
Bescheid des Versorgungsamtes Bremen entschieden worden sei. Nach dem Ergebnis der nervenärztlichen
Begutachtung vom 8. September 1993 lägen keine fundierten Hinweise für die Anerkennung weiterer
Schädigungsfolgen im Sinne des § 1 BVG oder der Höherbewertung des Grades der MdE für die gemäß Bescheid des
Versorgungsamtes Bremen vom 30. Januar 1973 anerkannten Schädigungsfolgen vor.
Die hiergegen erhobene Klage blieb erfolglos (Gerichtsbescheid vom 20. Februar 1998). Im anschließenden
Berufungsverfahren wurde auf Antrag des Klägers ein Gutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vom Arzt für
Neurologie und Psychiatrie S eingeholt. In seinem Gutachten vom 17. April 2001 hat der Sachverständige dargelegt,
die am 5. März 2001 gefertigte Magnet-Resonanz-Tomographie des Kopfes habe keinerlei traumatisch bedingte
Schädigungen erkennen lassen, die beschriebenen Veränderungen seien vielmehr im Zusammenhang mit
altersbedingten arteriosklerotischen Gefäßveränderungen zu erklären. Es habe sich eine allenfalls diskrete erschwerte
Erinnerung an länger zurückliegende Ereignisse sowie eine leichte depressive Grundstimmung ergeben.
Durch Urteil vom 7. Mai 2002 hat der Senat die Berufung zurückgewiesen. Die dagegen eingelegte
Nichtzulassungsbeschwerde vor dem Bundessozialgericht (BSG) hat der Kläger in der Folgezeit zurückgenommen
und zugleich einen Überprüfungsantrag gegenüber dem Beklagten gestellt. Er machte geltend, es sei bislang nicht
genau zwischen den Kriegsverletzungen unterschieden worden und kein Gedächtnistest durchgeführt worden.
Durch Bescheid vom 26. November 2002 lehnte der Beklagte die Rücknahme des Bescheides des Versorgungsamtes
Bremen vom 30. Januar 1973 ab. Über einen entsprechenden Antrag sei bereits durch Widerspruchsbescheid des
Landesversorgungsamtes Berlin vom 21. August 1995 entschieden worden. Der Bescheid sei nach Rücknahme der
Nichtzulassungsbeschwerde bindend. Eine erneute Entscheidung über Schädigungsfolgen komme daher nur im
Rahmen des § 44 SGB X in Betracht. Die geforderte neurologisch-psychiatrische Begutachtung sei bereits am 17.
April 2001 durchgeführt worden. Deshalb werde an der Bindungswirkung des Bescheides vom 30. Januar 1973
festgehalten.
Im anschließenden Widerspruchsverfahren reichte der Kläger eine eidesstattliche Erklärung vom 5. Februar 2003 ein,
nach der er nach dem Schlag drei Tage im Krankenhaus geblieben sei und starke Kopfschmerzen gehabt habe. Er
habe sich nach dem Schlag und auch noch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sehr schlecht und dauernd
ganz benommen gefühlt. Die Auswirkungen des Schlages hätten sein ganzes Leben verändert. Sein gutes
Gedächtnis, auf das er sehr stolz gewesen sei, sei plötzlich verschwunden gewesen. Er habe sich dieser Mängel
geschämt und das ganze Ausmaß verdrängt. Er erinnere sich, dass er nach einer weiteren Kriegsverwundung in
Holland und einem Lazarettaufenthalt eine Ausbildung an einer Flugzeugführerschule gemacht habe, dort sei er
mehrmals sehr erschrocken, da er sehr vertraute Leute einfach nicht mehr wiedererkannt habe. Während seiner
anschließenden Tätigkeit hätten sich seine Gedächtnisstörungen gehäuft.
Durch Widerspruchsbescheid vom 9. Mai 2003 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Tatsachen, die einen
Rücknahmebescheid nach § 44 SGB X rechtfertigen könnten, lägen nicht vor. Die traumatisch bedingte
Hirnschädigung und deren gesundheitlichen Folgen seien medizinisch nicht nachgewiesen.
Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid vom 7. Februar 2004 abgewiesen. Die
Voraussetzungen des § 44 SGB X seien nicht erfüllt, da die eidesstattliche Erklärung des Klägers weder darlege,
dass seinerzeit im Jahre 1973 das Recht unrichtig angewandt worden sei, noch stelle sich der Sachverhalt anders dar
als bei der früheren Entscheidung. Es lägen keine medizinischen Befunde vor, aus denen sich der vom Kläger
behauptete Hirnschaden ergebe.
Gegen den ihm am 18. Februar 2004 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung des Klägers vom 26.
Februar 2004. Er macht geltend, die Hirnschädigung stamme vom Schlag und nicht von der Splitterverletzung und sei
schwerer festzustellen. Die Auswirkungen seien aber völlig unbestritten, da er bis heute große Probleme habe, sich
Namen, Gesichter und Zahlen zu merken. Diese Auswirkungen seien schon 1949 festgestellt worden. Die Ursache
hierfür sei in Form einer Narbe körperlich nachweisbar, so dass die überwiegende Wahrscheinlichkeit des
Kausalzusammenhangs belegt sei.
Der Kläger beantragt,
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 7. Februar 2004 sowie den Bescheid des Beklagten vom 26.
November 2002 in der Fassung des Wi- derspruchsbescheides vom 9. Mai 2003 aufzuheben und den Beklagten zu
ver- urteilen, unter Änderung des Bescheides des Versorgungsamtes Bremen vom 30. Januar 1973 bei ihm einen
Hirnschaden als Versorgungsleiden anzuerken- nen und ihm Beschädigtenrente nach einer MdE von wenigstens 30
v.H. zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Es lägen keine Tatsachen vor, die einen Rücknahmebescheid nach § 44 SGB X rechtfertigen könnten.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der Versorgungsakte des
Beklagten, die vorlagen und die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist unbegründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 30. Januar 1973. Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1
SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit
zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von
einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu
Unrecht nicht erbracht worden sind.
Nach § 1 Abs. 1 BVG erhält derjenige, der durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch
einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst
eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und
wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung.
Voraussetzungen für einen Ausgleichsanspruch ist die Feststellung einer Kausalkette zwischen einem schädigenden
Ereignis, hier dem geltend gemachten Schlag auf dem Hinterkopf, der eine gesundheitliche Schädigung hervorgerufen
haben muss. Auch diese gesundheitliche Schädigung ist im Bescheid des Versorgungsamtes Bremen in der
Feststellung "Narben am Hinterkopf” festgestellt worden. Aufgrund dieser Schädigung muss es zu einer mit einem
MdE-Grad zu bewertenden Schädigungsfolge gekommen sein. Als Schädigungsfolge hat der Kläger eine
Beeinträchtigung seiner Merkfähigkeit geltend gemacht. Für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs zwischen
Schädigung und Schädigungsfolge genügt der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit, d.h. es muss mehr für als gegen
die Kausalbeziehung sprechen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im ersten Überprüfungsverfahren spricht
jedoch nicht mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang zwischen dem behaupteten Schlag auf dem Hinterkopf
und der verminderten Merkfähigkeit. Dr. P hat unter Zugrundelegung der Angaben des Klägers in seinem Gutachten
festgestellt, dass es sich um ein Schädelhirntrauma II. Grades mit mehrstündiger Bewusstlosigkeit gehandelt habe.
Derartige Schädelhirntraumen könnten mit und ohne Hirnbeschädigung einhergehen. Typischerweise sei ein
Schädelhirntrauma mit neurologischen oder neuropsychologischen Ausfällen dahingehend verbunden, dass sie
unmittelbar nach dem Trauma aufträten und sich dann allmählich besserten. Zwar könnten Hirnatrophien erst zu
einem späteren Zeitpunkt - nach Monaten - auftreten, was auf eine diffuse Hirnschädigung schließen lasse. Das
erstmalige Auftreten neuropsychologischer Störungen in einem Abstand von zwei bis drei Monaten nach dem
angeblich schädigenden Ereignis mit einer dann folgenden Zunahme der Störungen sei jedoch höchst ungewöhnlich.
Eine kriegsbedingte Hirnschädigung als Voraussetzung für die Anerkennung eines ursächlichen Zusammenhangs
zwischen den geklagten Beschwerden und dem hierfür als ursächlich angenommenen schädigenden Ereignis könne
nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Zu demselben Ergebnis ist auch der Arzt für
Neurologie und Psychiatrie S im damaligen Berufungsverfahren L 13 V 27/98 in seinem Gutachten vom 17. April 2001
gelangt. Danach ergebe sich aus nervenärztlicher Sicht eine allenfalls leichte mnestische Störung in Form einer
erschwerten Erinnerung an länger zurückliegende Geschehnisse; weitere neurologische Defizite hätten sich nicht
gefunden. Eine organische Hirnbeschädigung habe durch die MRT-Untersuchung nicht belegt werden können. Bei der
bestehenden Befundkonstellation könne von einem Schädelhirntrauma ohne Hirnbeschädigung ausgegangen werden.
Dieses verlaufe typischerweise dergestalt, dass neuropsychologische oder vegetative Symptome unmittelbar nach
dem Trauma aufträten und sich in der Folgezeit allmählich besserten. Auf der Grundlage dieser Feststellungen ist ein
Ursachenzusammenhang zwischen Schädigung und den geltend gemachten Gedächtnisstörungen nicht
wahrscheinlich. Da den Gutachtern die Narbe am Hinterkopf des Klägers bekannt war, gibt es auch keinen Hinweis
dafür, dass sie die sichtbare äußere Schädigungsfolge bei der Bewertung des Kausalzusammenhangs außer Acht
gelassen haben.
Konnte schon eine traumatisch bedingte Hirnschädigung als Schädigungsfolge nicht festgestellt werden, scheidet
auch ein Anspruch auf Neufeststellung des Grades der MdE weiterhin aus.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.