Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 03.12.2009

LSG Berlin und Brandenburg: diabetes mellitus, recht auf arbeit, recht auf bildung, behinderung, adipositas, konvention, pause, fremder, krankenkasse, osteoporose

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 03.12.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 42 SB 871/04
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 13 SB 235/07
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. Juli 2007 geändert. Der Bescheid des
Beklagten vom 1. Dezember 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. März 2004 in der Fassung des
Bescheides vom 1. März 2007 wird geändert. Der Beklagte wird verpflichtet, für die Klägerin die gesundheitlichen
Merkmale der außergewöhnlichen Geh-behinderung (Merkzeichen aG) und für das Merkzeichen T mit Wirkung vom 3.
Dezember 2009 festzustellen. Der Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zu
drei Fünfteln zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale der außergewöhnlichen Gehbehinderung
(aG) und für das Merkzeichen T bei schwerer Hüftgelenksarthrose, weiteren psychischen, orthopädischen und
internistischen Leiden und einer Adipositas permagna.
Der 1942 geborenen Klägerin wurde 1997 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Dauer zuerkannt. Mit Bescheid
des Beklagten vom 5. März 1998 wurden der Grad der Behinderung der Klägerin mit einem Betrag von 70 und das
Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen einer erheblichen Gehbehinderung (Merkzeichen G) festgestellt. Die
Klägerin benutzt etwa seit Mitte 2000 einen Rollator. Sie beantragte im August 2003 die Neufeststellung wegen
Verschlimmerung bestehender Behinderungen und Hinzutretens neuer Behinderungen. Der Beklagte holte den
Befundbericht der behandelnden Orthopäden, der behandelnden Nervenärztin und des behandelnden Internisten sowie
eine gutachterliche Stellungnahme des praktischen Arztes B ein. Er lehnte mit Bescheid vom 1. Dezember 2003 eine
Neufeststellung ab. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen RF, aG und T seien nicht erfüllt.
Ihren Widerspruch begründete die Klägerin damit, dass sich ihr Gesundheitszustand seit März 1998 wesentlich
verschlimmert habe und, weil sie nicht mehr Treppen steigen könne, in eine andere Wohnung umgezogen sei. Sie
habe große Probleme, einen Parkplatz in der Nähe zum Hauseingang zu finden und warte teilweise stundenlang, bis
ein Parkplatz frei werde. Nach Verlassen des Autos auf dem Weg zum Hauseingang müsse sie sich auf den vor dem
Haus stehenden Betonklötzen zum Ausruhen setzen. Die Möglichkeit, den Telebus zu nutzen, habe sie als große
Erleichterung empfunden. Ärzte, die nur über Treppen zu erreichen gewesen seien, habe sie wechseln müssen. Zur
Begründung ihres Widerspruchs reichte die Klägerin das Attest ihrer behandelnden Orthopäden (Dr. T und Dr. Dr. Z)
vom 14. Dezember 2003 ein. Diese unterstützten den Widerspruch der Patienten bezüglich der Merkzeichen aG und
T.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. März 2004 zurück; aus Gründen der
Vollständigkeit und Klarheit wurden die Funktionsbeeinträchtigungen neu bezeichnet. Die Voraussetzungen, unter
denen die begehrten Merkzeichen aG und T festgestellt werden könnten, lägen bei der Klägerin nicht vor. Während
des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Berlin reichte die Klägerin verschiedene Atteste ihrer behandelnden Ärzte,
den Bescheid ihrer Krankenkasse vom 23. Juni 2004 über die Kostenübernahme für die Fahrtkosten zur ambulanten
Behandlung und die Kostenübernahme für einen Rollator vom 14. Januar 2005 ein. Das Sozialgericht holte
Befundberichte bei der behandelnden Nervenärztin Dr. P vom 1. März 2006, bei den behandelnden Orthopäden vom
24. Februar 2006, bei der behandelnden Urologin W vom 23. Februar 2006 und vom Hausarzt der Klägerin, dem
Facharzt für Allgemeinmedizin S, vom 3. Mai 2006 ein. Mit Bescheid der zuständigen Pflegekasse vom 21. Februar
2006 aufgrund der Begutachtung vom 14. Februar 2006 wurde der Klägerin Pflegegeld für die Pflegestufe I ab 1.
Dezember 2005 bewilligt. Der Beklagte veranlasste die sozialmedizinische Begutachtung durch Dr. W vom 30. Januar
2007. Daraufhin erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 1. März 2007 einen GdB von 90 ab August 2003 an und
stellte die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen B und G fest. Es wurden folgende
Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt (dabei folgte der Beklagte der sozialmedizinischen Gutachterin; die Beträge
in den Klammern geben die jeweiligen Einzel-GdB nach dem Gutachten an):
a) psychische Behinderung (50) b) Coxarthrose beiderseits, beginnender Kniegelenksverschleiß bds, Fußfehlform (60)
c) Fehlform der Wirbelsäule mit degenerativen Veränderungen und Reizerscheinungen, Osteoporose (30) d)
Polyarthrosen der Fingergelenke, Heberden-Bouchard-Arthrose (20) e) chronische Gastritis, Nierensteine (10) f)
Blasenschwäche (10) g) Diabetes mellitus (10) h) Funktionsbehinderung des Schultergelenkes (10).
Mit Urteil vom 31. Juli 2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Von den unstreitig bei der Klägerin
anerkannten Behinderungen würden sich auf die Gehfähigkeit letztlich nur die Behinderungen zu b) und c) auswirken.
Nach den Ausführungen der Gutachterin sei es der Klägerin möglich, mit Hilfsmitteln durchaus noch mehr Schritte zu
laufen und auch Treppenstufen zu steigen als das dem für die Berechtigung ausdrücklich genannten Personenkreis,
welchem die Klägerin gleichgestellt werden wolle, in der Regel objektiv und zumutbar möglich sei. Die von der
Klägerin empfundenen großen Schmerzen und Beschwerden bei der Fortbewegung seien in ganz erheblichem Umfang
nicht behinderungsbedingt, sondern auf das der starke Übergewicht der Klägerin zurückzuführen. Die
Voraussetzungen für das Merkzeichen aG seien deshalb nicht erfüllt. Weil der Klägerin das Merkzeichen aG nicht
zustehe und ein mobilitätsbedingter Grad der Behinderung von mindestens 80 nach den vorliegenden medizinischen
Unterlagen nicht erkennbar sei, seien auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen T nicht erfüllt. Die
Voraussetzungen für das Merkzeichen RF erfülle die Klägerin nur insoweit, als ihr ein GdB von mindestens 80
zustehe. Die Klägerin sei jedoch objektiv nicht ständig von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen
behinderungsbedingt ausgeschlossen. Die Kammer folge insoweit der engen Auslegung des BSG.
Die Klägerin verfolgt ihr Begehren mit ihrer Berufung weiter. Sie hat verschiedene Atteste ihrer behandelnden Ärzte
vorgelegt. Ihr wurde durch ihre Krankenkasse am 12. Oktober 2007 ein Faltrollstuhl bewilligt. Die Klägerin hat in der
mündlichen Verhandlung vorgetragen, sie könne inzwischen nur noch etwa drei bis fünf Meter gehen und brauche
dann eine Pause wegen der Anstrengung und der Schmerzen. Auch Stehen sei ihr nur noch für max 2,5 bis 3 Minuten
möglich. In ihrer Wohnung stehe deshalb im Flur ein Drehsessel, auf dem sie sich ausruhe, wenn sie sich in der
Wohnung bewege. Wenn sie stürze, könne sie sich nicht mehr allein aufrichten.
Die Beteiligten haben in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend den Rechtsstreit für die Zeiträume vor dem 3.
Dezember 2009 sowie hinsichtlich des Merkzeichens RF für erledigt erklärt.
Die Klägerin beantragt nunmehr,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. Juli 2007 und den Bescheid des Beklagten vom 1. Dezember 2003 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. März 2004 in der Fassung des Bescheides vom 1. März 2007 zu
ändern, den Beklagte zu verpflichten, für die Klägerin die gesundheitlichen Merkmale der außergewöhnlichen
Gehbehinderung (Merkzeichen aG) und für das Merkzeichen T mit Wirkung vom 3. Dezember 2009 festzustellen.
Der Beklagte hält das Urteil für zutreffend und beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat den Befundbericht der behandelnden Orthopäden vom 19. August 2007 eingeholt.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen
Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die
Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsakten des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin für das nunmehr noch anhängige Klagebegehren hat Erfolg. Die Klägerin ist
außergewöhnlich gehbehindert und erfüllt die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Fahrdienstes nach der
Telebus-Verordnung.
Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG ist § 69 Abs 4 SGB
IX. Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die
Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen
Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung iS des § 6 Abs 1 Nr 14 StVG oder entsprechender
straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen
ist (§ 3 Abs 1 Nr 1 Schwerbehindertenausweisverordnung). Ausgangspunkt für die Feststellung der
außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO (neu bekannt gemacht am
26.01.2001, BAnz 2001, Nr 21, S 1419, zuletzt geändert am 2009-07-17, BAnz Nr. 110, S 2598) und D 3b Anlage zur
Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV). Hiernach ist außergewöhnlich gehbehindert iS des § 6 Abs 1 Nr 14
StVG, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung
außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte,
Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig
Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese
tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach
versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis
gleichzustellen sind (D 3b Anl-VersMedV).
Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er
sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten
oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG, Urteil vom 29.03.2007, B 9a SB 1/06 R, RdNr 17 f m w N).
Schwierigkeiten bereitet hierbei der Vergleichsmaßstab, weil die verschiedenen, im 1. Halbsatz aufgezählten Gruppen
in ihrer Wegefähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertreter dieser Gruppen - bei gutem gesundheitlichem
Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung - ausnahmsweise
nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen können (BSG ebd m w N). Auf die individuelle
prothetische Versorgung der aufgeführten Behindertengruppen kann es aber grundsätzlich nicht ankommen. Denn es
liegt auf der Hand, dass solche Besonderheiten angesichts des mit der Zuerkennung von aG bezweckten
Nachteilsausgleiches nicht als Maßstab für die Bestimmung der Gleichstellung herangezogen werden können.
Vielmehr muss sich dieser strikt an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz orientieren; dies ist § 6
Abs 1 Nr 14 StVG (BSG, Urteil vom 29.03.2007, B 9a SB 1/06 R, RdNr 17 m w N). Dabei ist zu berücksichtigen, dass
Parkraum für diejenigen Schwerbehinderten geschaffen werden sollte, denen es unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß
zurückzulegen (vgl BT-Drucks 8/3150, S 9 f in der Begründung zu § 6 StVG). Wegen der begrenzten städtebaulichen
Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind hohe Anforderungen zu stellen, um den Kreis der
Begünstigten klein zu halten (BSG aaO RdNr 17 m w N). Nach D 3c Anl-VersMedV erfolgt eine Gleichstellung
insbesondere dann, wenn ein Rollstuhl nicht nur verordnet wurde, sondern der Betroffen auch ständig auf ihn
angewiesen ist, weil er sich sonst nur mit fremder Hilfe oder unter großer Anstrengung fortbewegen kann.
Für die Gleichstellung ist bei dem Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Wie der 9. BSG-Senat bereits in
seinem Urteil vom 10. Dezember 2002 (B 9 SB 7/01 R) ausgeführt hat, lässt sich ein anspruchsausschließendes
Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren. Weder der gesteigerte Energieaufwand noch eine in
Metern ausgedrückte Wegstrecke taugen grundsätzlich dazu. Denn die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen
Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines
Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch
möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung (BSG, Urteil vom 29.03.2007, B 9a SB
1/06 R, RdNr 18). Wer diese Voraussetzung praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an
erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese
Weise längere Wegstrecken zurücklegt. Auch soweit die o g großen körperlichen Anstrengungen festzustellen sind,
kann nicht allein auf eine gegriffene Größe wie die schmerzfrei zurückgelegte Wegstrecke abgestellt werden (BSG
ebd RdNr 19). Unabhängig von der Schwierigkeit, eine solche Wegstrecke objektiv, fehlerfrei und verwertbar
festzustellen, ist die Tatsache, dass ein Betroffener nach einer bestimmten Strecke eine Pause machen muss,
lediglich Indiz für eine Erschöpfung. Für die Zuerkennung des Merkzeichens aG reichen jedoch nicht irgendwelche
Erschöpfungszustände aus. Sie müssen in ihrer Intensität vielmehr gleichwertig mit den Erschöpfungszuständen sein,
die Schwerbehinderte der in D 3b Anl-VersMedV einzeln aufgeführten Gruppen erleiden. Gradmesser hierfür kann die
Intensität des Schmerzes bzw der Luftnot nach dem Zurücklegen einer bestimmten Wegstrecke sein (BSG ebd RdNr
19). Ein solches Erschöpfungsbild lässt sich u a aus der Dauer der erforderlichen Pause sowie den Umständen
herleiten, unter denen der Schwerbehinderte nach der Pause seinen Weg fortsetzt. Nur kurzes Pausieren - auch auf
Großparkplätzen - mit anschließendem Fortsetzen des Weges ohne zusätzliche Probleme ist im Hinblick auf den von
den Vergleichsgruppen gebildeten Maßstab zumutbar (BSG ebd).
Ein an einer bestimmten Wegstrecke und einem Zeitmaß orientierter Maßstab liegt auch nicht wegen der Methode
nahe, mit der die medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens G festgestellt werden. Denn für das
Merkzeichen aG gelten gegenüber G nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen (BSG aaO RdNr 21).
Ebenso wenig lässt sich ein allein maßgebliches Wegstrecken-Zeit-Kriterium aus dem straßenverkehrsrechtlichen
Zweck des Merkzeichens aG herleiten (BSG ebd RdNr 22). Abgesehen davon, dass es keine empirischen
Untersuchungen zur durchschnittlichen Entfernung zwischen gesondert ausgewiesenen Behindertenparkplätzen und
den Eingängen zu Einrichtungen des sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gibt, greift die alleinige
Ausrichtung auf Behindertenparkplätze (Zusatzzeichen 1020-11, 1044-10, 1044-11 StVO) zu kurz. Denn daneben
werden nach Abschnitt I Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO weitere umfangreiche Parkerleichterungen, wie zB die
Ausnahme vom eingeschränkten Halteverbot, gewährt (BSG aaO RdNr 22). Das BSG hat allerdings geklärt, dass in
ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkte schwerbehinderte Menschen sich beim Gehen
regelmäßig körperlich besonders anstrengen müssen und dass die für aG geforderte große körperliche Anstrengung
dann gegeben sein dürfte, wenn die festgestellte Wegstreckenlimitierung auf 30 m darauf beruht, dass der Betroffene
bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft ist und er neue Kräfte sammeln muss, bevor er weitergehen kann
(BSG, Urteil vom 29.03.2007, B 9a SB 1/06 R, RdNr 24 m w N). Das BSG geht für den Fall, dass der Betroffene sich
nur langsam und selbst mit Hilfe des Rollators nur über maximal 30 m am Stück fortbewegen kann und danach eine
Pause einlegen muss, wobei er sich auf den Rollator setzt, und wenn darüber hinaus beim Gehen Schmerzen und
Unsicherheiten auftreten, davon aus, dass der Betroffene in seiner Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß
eingeschränkt ist (BSG, Urteil vom 29.03.2007, B 9a SB 1/06 R, RdNr 24). Dass die Einschätzung der Gehfähigkeit
überwiegend auf den subjektiven Angaben des Betroffenen beruht, braucht keinen Verfahrensfehler darzustellen.
Allerdings ist sodann weiter zu klären, ob der Betroffene sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen
fortbewegen kann wie die in D 3b Anl-VersMedV genannten Personen.
Das BSG hat überdies inzwischen geklärt, dass ein erhebliches Übergewicht nicht zu den Faktoren gehört, die keinen
Bezug zu einer Behinderung haben und daher bei der Beurteilung des Gehvermögens unberücksichtigt bleiben (BSG,
Urteil vom 24.04.2008, B 9/9a SB 7/06 R, RdNr 14) Die funktionellen Auswirkungen einer Adipositas permagna sind
nicht nur bei Einschätzung eines aus anderen Gesundheitsstörungen folgenden GdB (erhöhend) zu berücksichtigen,
sondern auch insoweit, als sie zu einer Einbuße der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen (BSG ebd m w N).
Dieser zum Merkzeichen G ergangenen Rechtsprechung ist auch für das besondere gesundheitliche Merkmal der
außergewöhnlichen Gehbehinderung zu folgen. Dies folgt aus dem funktionenorientierten Charakter der Anerkennung
der Behinderungen und der Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche, d h die Feststellungen haben sich nicht an den
Ursachen sondern an den Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu orientieren (vgl zum GdB:
BSG, Urteil vom 30. September 2009, B 9 SB 4/08 R RdNr 30, sog "finale" Betrachtung).
Insofern ist durch das Inkrafttreten des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Konvention-RMBeh – BGBl II 2008 Nr 35, S 1419 ff) am 26. März 2009
(BGBl II vom 23.07.2009, Nr 25, S 812) keine Änderung eingetreten. Danach zählen zu den Menschen mit
Behinderungen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben,
welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe
an der Gesellschaft hindern können (Art 1 Satz 2 UN-Konvention-RMBeh). Auch danach kommt es auf die Ursachen
der Beeinträchtigungen nicht an. Vielmehr ist die Behinderung von der ausdrücklichen Zielstellung der Konvention her
zu bestimmen, der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft aller Menschen unter
Gewährleistung eines würdevollen Lebens, ohne dass hierbei eine langfristige gesundheitliche Beeinträchtigung einen
Unterschied machen darf. Welche Bereiche als besonders teilhaberelevant anzusehen sind, gibt die UN-Konvention-
RMBeh selbst vor. Dazu gehören ua die Zugänglichkeit (Art 9), das Recht auf körperliche und seelische
Unversehrtheit (Art 17) und auf Gesundheit (Art 25), Recht auf Bildung (Art 24), Freizügigkeit (Art 18), die unabhängige
Lebensführung (Art 19), die persönliche Mobilität (Art 20), die Meinungsäußerung und der Zugang zu Informationen
(Art 21) und das Recht auf Arbeit und Beschäftigung (Art 27). Als jüngeres unmittelbar geltendes Bundesrecht zwingt
die UN-Konvention-RMBeh mit ihrem Normprogramm ihre Maßstäbe der Auslegung von §§ 2 und 69 SGB IX auf. Weil
nicht vom gesundheitlichen Defizit sondern von der Teilhabeförderung her zu denken ist, können die Folgen einer
Adipositas für die Teilhabe nicht dazu führen, dass ein behinderungsrechtlicher Status versagt bleibt. Gerade bei
erheblichen Mobilitätseinbußen (Art 20 UN-Konvention-RMBeh) infolge einer Adipositas permagna können sowohl der
Behindertenstatus wie auch behinderungsrechtlich vorgesehene Nachteilsausgleiche nicht damit abgelehnt werden,
die Teilhabebeeinträchtigung resultiere aus einer Fettleibigkeit. Eine unterschiedliche Behandlung allein nach der
Ursache einer Teilhabebeeinträchtigung wird durch die Konvention ausgeschlossen (Diskriminierungsverbot Art 5 Abs
1, 2). Damit wird indes der bisherige Ansatz der Rechtsprechung und des Verordnungsgebers rechtlich untermauert,
dass die Folgen einer Adipositas permagna behinderungsrechtlich von Bedeutung sind (vgl auch B 15.3 Anl-
VersMedV). Auch die UN-Konvention-RMBeh erwartet das Leistungen zur gesundheitlichen Förderung (Art 25) und
Rehabilitation (Art 26) frühest möglich einsetzen. Dies soll allerdings vorhandene Nachteilsausgleiche bei
bestehenden Behinderungen nicht ausschließen.
Die Klägerin ist aufgrund der Schwere ihrer Leiden in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt.
Bei ihr bestehen eine schwere beidseitige Hüftgelenksarthrose (links stärker) bei beginnendem Kniegelenksverschleiß
bds und Fußfehlform, Fehlform der Wirbelsäule mit degenerativen Veränderungen und Reizerscheinungen und
Osteoporose, eine Funktionsbehinderung der Schultergelenke (links mehr als rechts) und eine Adipositas permagna.
Die psychische Behinderung der Klägerin ist wesentlich für die Fettleibigkeit. Daneben bestehen Polyarthrosen der
Fingergelenke, Heberden-Bouchard-Arthrose, chronische Gastritis und Nierensteine, Blasenschwäche und ein
Diabetes melittus. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten von Dr. W vom 30. Januar 2007. Die sozialmedizinische
Gutachterin der Beklagten hält die Beschwerden der Klägerin für nachvollziehbar. Die von ihr festgestellten
Bewegungseinschränkungen der Hüftgelenke entsprächen den von den behandelnden Orthopäden vermerkten und
zeigten eine gegenüber der Vorbegutachtung von 1998 deutlich stärkere Einschränkung. Dies gelte ebenso für die
Kniegelenke. Die Beschwerden lägen vorrangig in den haltenden Bänder-Muskeln, die fettdurchsetzt seien. Die Kraft
der Muskeln reiche daher nicht, die Körperlast – insbesondere beim Treppensteigen – anzuheben, zumal die
arthrotisch veränderten Gelenke schmerzen würden. Diese Schwäche gelte auch für die Haltemuskulatur der
Wirbelsäule. Diese Feststellungen der Gutachterin sind unstreitig. Die Gutachterin bestätigt in der Sache sowohl die
ärztliche Bewertung durch die behandelnden Orthopäden, wie auch die Angaben der Klägerin selbst.
Allerdings hat die Gutachterin die Bedeutung der Adipositas permagna für die Behinderung und den daraufhin
vorzunehmenden Nachteilsausgleichen verkannt. Das Zusammenwirken der sonstigen orthopädischen Behinderungen
und der schweren Adipositas, welche wesentlich durch die psychische Erkrankung der Klägerin bedingt ist, müssen
bei der Feststellung der Behinderung und dem dadurch veranlassten Nachteilsausgleich berücksichtigt werden. Auch
die Gutachterin des Beklagten hält die von der Klägerin geschilderten Beschwerden für nachvollziehbar. Sie stellt im
Übrigen auch die über die bloße Gewichtsbelastung der Adipositas permagna bei der Fortbewegung hinausgehenden
Auswirkungen auch auf das Gewebe des Halte- und Muskelapparates dar. Der Senat geht deshalb mit den
behandelnden und von der Gutachterin letztlich bestätigten behandelnden Orthopäden davon aus, dass die Klägerin
nur unter Zuhilfenahme von Hilfsmitteln lediglich sehr kurze Strecken kleinschrittig zurücklegen kann (max 20 m -
Attest vom 17.05.2005 und Befundbericht vom 24.02.2006). Die Hausärztin bestätigt mit ihrem Attest vom 19.
November 2007 den Befund und verweist auch im Hinblick auf die diabetische Polyneuropathie und massive
Lymphödeme auf den unsicheren und schleppenden Gang sowie auf die Sturzgefahr. Die Schwere des Leidens der
Klägerin ist angesichts dieser weitgehend übereinstimmenden Befunde belegt. Auch die aktuellen Angaben der
Klägerin erscheinen vor dem Hintergrund ihrer früheren, gutachterlich und ärztlich bestätigten Angaben glaubhaft.
Weitere Ermittlungen waren nicht veranlasst.
Die Klägerin muss sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen, weil ihr das Gehen selbst sehr
schwer fällt und sie bereits nach einer sehr kurzen Wegstrecke von wenigen (jedenfalls max 20 m) erschöpft ist und
neue Kräfte sammeln muss, bevor sie weitergehen kann. Die beim Gehen schon nach wenigen Schritten eintretende
Erschöpfung ist gleichwertig mit den Erschöpfungszuständen, die Schwerbehinderte der in D 3b Anl-VersMedV
einzeln aufgeführten Gruppen erleiden. Dies folgt aus der besonderen physischen Belastung ebenso wie aus den
besonderen, arthrotisch bedingten Schmerzen der für das Gehen wesentlichen Hüft- und Kniegelenke. Wegen der
Schulterbeschwerden kann die Klägerin dies nicht hinreichend durch die Verwendung von Unterarmstützen
kompensieren, schon das Stehen fällt ihr schwer. Dieser Zustand besteht bei der Klägerin schon seit längerem (vgl
Bewilligung der Fahrkosten zur ambulanten Behandlung durch die Krankenkasse).
Bei der Klägerin sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichnes T erfüllt. Voraussetzung für das
Merkzeichen T ist nach § 1 Abs 1 Satz 2 der Verordnung über die Vorhaltung eines besonderen Fahrdienstes
(BerlFahrdienstVO), dass das Merkzeichen aG, ein mobilitätsbedingter Grad der Behinderung von mindestens 80 und
Fähigkeitsstörungen beim Treppensteigen gegenüber dem Versorgungsamt nachgewiesen werden. Berechtigt nach
Maßgabe des § 3 (befristete Berechtigung bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens) sind außerdem Personen,
die erstmalig beim Versorgungsamt das Merkzeichen T beantragen und dem Antrag eine Bescheinigung beifügen, aus
der hervorgeht, dass eine Krankenkasse oder ein anderer Leistungsträger aufgrund einer ärztlichen Verordnung die
Kosten für einen Rollstuhl oder für einen Rollator übernommen hat (§ 1 Abs 2 BerlFahrdienstVO). Aus dem Vorliegen
der Voraussetzungen der außergewöhnlichen Gehbehinderung folgt auch das Vorliegen der ersten der drei
Voraussetzungen des Merkzeichens "T". Unter Berücksichtigung der schweren beidseitigen Hüftgelenksarthrose bei
beginnendem Kniegelenksverschleiß bds und Fußfehlform (Einzel-GdB 60), Fehlform der Wirbelsäule mit
degenerativen Veränderungen und Reizerscheinungen und Osteoporose (Einzel-GdB 30), der Funktionsbehinderung
der Schultergelenke (links mehr als rechts), des Diabetes mellitus mit Sensibilitätsstörungen in den unteren
Extremitäten und der Adipositas permagna ergibt sich ein mobilitätsbedingter GdB von 80. Es besteht auch eine
Fähigkeitsstörung beim Treppensteigen, wie die Gutachterin der Beklagten gezeigt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den anteiligen Erfolg der Rechtsverfolgung. Der
Senat hat für die erledigten Streitgegenstände die ursprünglichen Erfolgsaussichten berücksichtigt.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs 2 SGG).