Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 30.08.2007

LSG Berlin-Brandenburg: aufschiebende wirkung, überwiegendes interesse, lebertransplantation, anfechtungsklage, gutachter, hauptsache, vollziehung, verwaltungsakt, kinderbetreuung, arbeitsmarkt

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 3.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 3 R 1300/07 ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 86b Abs 1 Nr 2 SGG, § 48 SGB
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Einstweiliger Rechtsschutz gegen Entziehung einer
Erwerbsminderungsrente; wesentliche Änderung;
Lebertransplantation; Rentenentziehung mit Wirkung für die
Zukunft; aufschiebende Wirkung der Klage
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin
vom 30. August 2007 aufgehoben. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden
Wirkung der Klage wird abgelehnt.
Kosten des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin, der das
Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist zulässig und begründet (§§ 172, 173
Sozialgerichtsgesetz ).
Mit der Beschwerde begehrt die Antragsgegnerin die Aufhebung der mit Beschluss vom
30. August 2007 angeordneten aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid
vom 03. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05. Juli 2007. Mit den
im Hauptsacheverfahren (S 26 R 5345/07) im Wege der Anfechtungsklage
angefochtenen Bescheiden entzog die Antragsgegnerin die der Antragstellerin seit
August 1996 zunächst auf Zeit und ab Januar 1999 auf Dauer wegen einer primären
biliären Leberzirrhose gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mit Wirkung zum 30.
April 2007 wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse gemäß § 48 Zehntes
Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Grundlage der Entscheidung waren Gutachten der
Internistin Dr. C vom 15. Januar 2007 und des Neurologen und Psychiaters B vom 24.
März 2007, in denen die Gutachter zu dem abschließenden Ergebnis kamen, die
Antragstellerin sei nach einer Lebertransplantation im November 2005 wieder
vollschichtig einsatzfähig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Nach § 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG hat eine Anfechtungsklage bei Verwaltungsakten, die eine
laufende Leistung herabsetzen oder - wie hier - entziehen, keine aufschiebende Wirkung.
Nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann aber das Gericht der Hauptsache auf Antrag in diesen
Fällen die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Zu berücksichtigen ist
dabei, dass von dem gesetzlich angeordneten Regelfall der sofortigen Vollziehung im Fall
des § 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG abzuweichen nur Anlass besteht, wenn ein überwiegendes
Interesse des durch den Verwaltungsakt Belasteten feststellbar ist. Die Anordnung der
aufschiebenden Wirkung muss eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende
Ausnahme bleiben (so Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 8. A. 2005, § 86b
Rdnr. 12a). Das ist dann der Fall, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des die
laufende Leistung herabsetzenden oder entziehenden Verwaltungsaktes bestehen, wenn
also nach summarischer Prüfung mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des
angegriffenen Verwaltungsakts spricht. Sind die Erfolgsaussichten der Klage nicht sicher
abschätzbar, bleibt eine allgemeine Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen
Interesse an der sofortigen Vollziehung und dem Interesse des Antragstellers an der
Durchsetzung seiner Ansprüche.
Danach ist die aufschiebende Wirkung der Klage nicht anzuordnen, denn nach dem
Ergebnis der medizinischen Ermittlungen bestehen keine erheblichen Zweifel an der
Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 03. April 2007.
Nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist, soweit in den Verhältnissen, die bei dem Erlass eines
Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung
eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Die Anwendung
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eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Die Anwendung
dieser Vorschrift setzt also voraus, dass in den Verhältnissen, die im Oktober 1998 für
die Entscheidung der Antragsgegnerin, die der Antragstellerin bewilligte Zeitrente
nunmehr auf Dauer zu gewähren, maßgeblich waren, eine wesentliche Änderung
eingetreten ist. Hierfür ist die Antragsgegnerin, die mit ihrem Bescheid vom 03. Mai
2007 in die durch die Bestandskraft geschützte Rechtsposition der Antragstellerin
eingreift, beweispflichtig. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und
Rechtslage ist der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (vgl. Keller a. a. O., §
86b Rdnr. 18), da es sich in der Hauptsache um eine Anfechtungsklage handelt.
Eine derartige Änderung der Verhältnisse ist nach summarischer Prüfung dadurch
belegt, dass bei der Klägerin im November 2005 eine Lebertransplantation durchgeführt
worden ist. Der Halbjahrescheck in der Klinik für Allgemein-, Visceral- und
Transplantationschirurgie der C am 23. Juni 2006 ergab einen komplikationslosen Verlauf
bei gutem Allgemeinzustand der Antragstellerin und laborchemisch guter
Transplantatfunktion (Bericht vom 10. August 2006). Das von der Antragsgegnerin
veranlasste Gutachten der Internistin Dr. C bestätigt den recht guten Allgemeinzustand
der Antragstellerin. Durch die Lebertransplantation sei eine deutliche Besserung
gegeben, die es ihr ermögliche, wieder vollschichtig leichte körperliche Tätigkeiten auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt, auf den sie verweisbar ist, unter Beachtung qualitativer
Einschränkungen zu verrichten. Auch auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet ist der
Antragstellerin durch den Gutachter B in seinem Gutachten vom 24. März 2007 ein
vollschichtiges Leistungsvermögen attestiert worden. Der Gutachter B hat die Diagnose
einer mittelgradigen depressiven Episode durch den die Antragstellerin behandelnden
Arzt für Neurologie und Psychiatrie M in seinem Attest vom 20. Februar 2007 nicht
bestätigen können. Er hat allerdings ebenfalls den Befund einer Anpassungsstörung mit
ängstlich-hypochondrischen Zügen erhoben. Die Antragstellerin erscheine besorgt,
leicht moros, jedoch nicht depressiv im engeren Sinne. Die jahrelange Lebererkrankung
mit schließlich erfolgter Transplantation stecke ihr gewissermaßen in den Knochen, sie
will sich auf keinen Fall mehr irgendwie und irgendwo anstecken, sie halte sich möglichst
von Menschenansammlungen fern. Daraus resultiert aber kein quantitativ aufgehobenes
Leistungsvermögen. Den nachvollziehbaren Ängsten vor einer Ansteckung wird dadurch
Rechnung getragen, dass ihr Tätigkeiten mit Publikumsverkehr nicht zugemutet werden.
Allerdings ist auch zu beachten, dass die Antragstellerin nach ihren eigenen Angaben
gegenüber der Antragsgegnerin in ihrer Erklärung vom 19. Oktober 2006 in der
Kinderbetreuung im L H & Wellness Club in der J Chaussee in B für 10 Stunden in der
Woche gegen einen Stundenlohn von 5,- € arbeitet. Diese seit dem 03. Juni 2006
ausgeübte Tätigkeit wird von der H Steuerberatungsgesellschaft in der beigezogenen
Auskunft vom 02. August 2006 bestätigt. Der erneut geäußerten Auffassung des
Neurologen und Psychiaters M in dem weiteren Attest vom 24. April 2007, die
Antragstellerin sei weiterhin voll erwerbsgemindert, kann bereits unter Berücksichtigung
dieses Umstands nicht gefolgt werden. Vor diesem Hintergrund drängt sich dem Senat
die Notwendigkeit einer weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts nicht auf.
Soweit das Sozialgericht seine Entscheidung im Wesentlichen auf der Grundlage einer
Folgenabwägung unter Berücksichtigung der Entscheidung des
„Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2005“ getroffen hat, vermag der Senat dieser
Begründung nicht zu folgen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12.
Mai 2005 (abgedruckt in Breithaupt 2005, S. 927 ff.) ist hier nicht einschlägig. Sie bezieht
sich nämlich auf eine begehrte Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 und 3 SGG, mit
der der dortige Antragsteller sich gegen die Versagung von Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts sowohl nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) als
auch nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) wendete. Es ist außerdem
nicht ersichtlich, dass der Antragstellerin ohne die Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare
Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr
zu beseitigen wären. Die Antragstellerin bezieht nach ihren Angaben gegenüber dem
Gutacher B neben den - geringfügigen - Einkünften aus der Kinderbetreuung eine
betriebliche Zusatzrente in unbekannter Höhe von der Diakonie. Außerdem steht es ihr
jederzeit offen, Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII zu beantragen.
Nach alledem war der Beschluss des Sozialgerichts aufzuheben und der Antrag auf
Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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