Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 11.01.2005
LSG Berlin und Brandenburg: verschlechterung des gesundheitszustandes, innere medizin, adipositas, behinderung, fettleibigkeit, bluthochdruck, orthopädie, fremder, besuch, kennzeichen
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 11.01.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 40 SB 259/03
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 13 SB 54/04
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. März 2004 insoweit aufgehoben, als
der Beklagte verurteilt wurde, der Klägerin das Merkzeichen "RF" ab Dezember 2001 zuzuerkennen. Im Übrigen wird
die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Der Beklagte trägt drei Viertel der notwendigen außergerichtlichen
Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 80 sowie der Nachteilsausgleiche
"aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung), "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) und die Anerkennung
der Berechtigung zur Benutzung des Telebus-Fahrdienstes für behinderte Menschen im Land Berlin.
Die 1941 geborene Klägerin, der zuletzt durch Bescheid vom 10. September 1991 ein GdB von 30 zuerkannt worden
war, beantragte im Dezember 2001 die Neufeststellung ihres Grades der Behinderung. Der Beklagte holte
Befundberichte des behandelnden Arztes für Orthopädie T (erstellt am 15. Januar 2001), der Ärztin für Hals-Nasen-
Ohrenheilkunde Dipl.-Med. U (ohne Datum) sowie der Fachärztin für Innere Medizin S (vom 21. Januar 2002) ein.
Letzterem waren beigefügt Ergebnisse einer Ultraschalluntersuchung der Bein? und Beckenvenen links vom 14.
Dezember 2000, des Abdomens vom 17. April 2000 und der Schilddrüse vom 17. April 2001, das Ergebnis einer
Farbdoppler-Echokardiographie vom 29. Januar 2001, einer Duplexsonographie der extrakraniellen Gefäße vom 13.
Februar 2001, einer Stress-Echokardiographie vom 12. Februar 2001 sowie das Ergebnis eines Blutbildes vom 7.
Dezember 2001. Durch Bescheid vom 14. März 2002 stellte der Beklagte daraufhin einen GdB von 50 fest. Die
Funktionsbeeinträchtigungen bezeichnete der Beklagte wie folgt, wobei sich die verwaltungsintern festgesetzten
Einzel-GdB (hier und im Folgenden) aus den Zusätzen in Klammern ergeben: a) Degenerative Veränderungen der
Wirbelsäule und der Kniegelenke, Lymphrückflussstörung beider Beine bei Adipositas (50), b) Bluthochdruck,
Herzleistungsminderung (20), c) Hörbehinderung, Ohrgeräusche (10), d) Nabelbruch (10). Die gesundheitlichen
Voraussetzungen für die Eintragung des Merkzeichens "G" (erhebliche Gehbehinderung) lägen vor. Nicht erfüllt seien
die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung der Merkzeichen "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung
bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel), "aG", "RF" sowie das Merkzeichen "T" (die Berechtigung, den
besonderen Fahrdienst des Landes Berlin zu nutzen). Die Klägerin erhob hiergegen Widerspruch, mit dem sie u.a.
ausführte, die Merkzeichen "aG" und "T" zu benötigen, damit sie "überhaupt wieder am öffentlichen Leben
teilnehmen" könne. Beigefügt war ein Attest der Ärzte für Orthopädie T und Dr. M vom 28. März 2002, wonach die
Klägerin nur noch mit Hilfe von Nachbarn in die Praxis gefahren werden könne. Der Beklagte holte hierzu eine
gutachtliche Stellungnahme der Ärztin M vom 8. Mai 2002 sowie ein Gutachten durch Dr. M B ein. Letzterer führte in
seinem Gutachten vom 16. Januar 2003 aus, dass der Gesamt-GdB 50 betrage. Radiologisch seien bei den
vorgelegten Röntgenaufnahmen eine mediale Gonarthrose beidseits zu verifizieren, ansonsten keine, das Altersmaß
überschreitenden degenerativen Veränderungen. Die Einzel? und Gesamt-GdB-Bildung sei nicht zu beanstanden.
Unter Berücksichtigung des Körpergewichts der Klägerin von 203 kg bei einem Übergewicht von 135 kg sei bei
Nachweis einer medialen Gonarthrose beidseits das Kennzeichen "G" zu attestieren. Die Kennzeichen "aG" oder "T"
könnten aufgrund der erhobenen Untersuchungsbefunde jedoch ebenso wenig gewährt werden wie das gewünschte
Kennzeichen "RF". Hierfür fehlten die medizinischen Voraussetzungen. Zur Untersuchung sei die Klägerin mit der
Taxe in Begleitung ihres Ehemannes gekommen. Beim Verlassen der Praxis sei beobachtet worden, dass die
Klägerin alleine watschelnd und beidseits etwas hinkend eine Wegstrecke von der Praxistür bis zum Parkplatz von
ungefähr 100 m alleine unter Benutzung einer Gehstütze zurückgelegt habe. Somit sei sie einem Personenkreis, der
doppeloberschenkelamputiert sei, nicht funktionell gleichzusetzen. Der Beklagte wies daraufhin den Widerspruch
durch Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 2003 zurück.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der Ärzte T/Dr. M (Befundbericht vom 26. Mai 2003) und S (Eingang bei Gericht
am 3. Juni 2003) eingeholt. Das Sozialgericht hat ferner durch den Facharzt für Orthopädie Dr. M L ein
Sachverständigengutachten eingeholt, auf das Gutachten vom 4. Dezember 2003 wird Bezug genommen. Danach
bestehen bei der Klägerin degenerative Veränderungen der gesamten Wirbelsäule sowie der Kniegelenke bei
erheblicher Fettleibigkeit (mindestens 220 kg bei 1,70 m Körpergröße). Der Gesamtgrad der Behinderung auf
orthopädischem Fachgebiet betrage 50. Alle Behinderungen subsumierten sich unter die erhebliche Fettleibigkeit, die
auf orthopädisch-unfallchirurgischem Fachgebiet, gepaart mit den degenerativen Veränderungen des Achsenorganes
und der Kniegelenke sich gegenseitig verstärkten. Die Klägerin sei aufgrund der erheblichen Fettleibigkeit selbst bei
Inanspruchnahme einer Begleitperson nicht in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Sie sei maximal in
der Lage, noch eine Treppe mit ca. 10 Stufen ohne größte Schwierigkeiten und Mühen zu bewältigen. Sie könne sich
wegen der Schwere der Behinderung dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur unter großer Anstrengung außerhalb eines
Kraftfahrzeuges bewegen. Die Wegstrecke der Klägerin betrage nach eigenen Angaben und nach Angaben des
behandelnden Orthopäden maximal 50 m. Unter Berücksichtigung der Gesamtsituation, auch unter Berücksichtigung
der inneren Leiden wie z.B. Bluthochdruck und Herabsetzung der Leistungsfähigkeit des Herzens sei die Klägerin dem
Personenkreis der Querschnittsgelähmten bzw. Doppeloberschenkelamputierten zuzuordnen. Aufgrund der
erheblichen Herabsetzung der Mobilität sei auch die Möglichkeit zur Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen
massivst eingeschränkt. Selbst unter Verwendung technischer Hilfsmittel (z.B. Mammutrollstuhl mit einer
Belastbarkeit bis zu 250 kg) erscheine auch unter Zuhilfenahme von Begleitpersonen die Teilnahme an öffentlichen
Veranstaltungen zumindest erheblich eingeschränkt, da hier Gewichte von ca. 250 kg transportiert werden müssten.
Der Beklagte hat im Anschluss an eine Stellungnahme des Versorgungsarztes Dr. S durch Bescheid vom 15. Januar
2004 einen Gesamt-GdB von 70 ab Dezember 2001 festgestellt und seine früheren Entscheidungen insoweit
aufgehoben. Die zugrunde liegenden Funktionsbeeinträchtigungen bezeichnete er wie folgt: a) Degenerative
Funktionseinschränkungen der Kniegelenke, Lymphabflussstörungen beider Beine (40), b) Funktionseinschränkungen
der Wirbelsäule (30), c) Generalisierte Belastungsinsuffizienz bei Adipositas permagna (30), d) Bluthochdruck,
Herzleistungsminderung (20), e) Hörminderung, Ohrgeräusche (10), f) Nabelbruch (10).
Weitere Funktionsbeeinträchtigungen bzw. gesundheitliche Merkmale lägen nicht vor und könnten deshalb nicht
festgestellt werden.
Das Sozialgericht Berlin hat durch Urteil vom 29. März 2004 den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom
15. Januar 2004 verurteilt, der Klägerin einen Grad der Behinderung von 80 sowie die Merkzeichen "aG", "T" und "RF"
ab Dezember 2001 zuzuerkennen. Die Fortbewegungsfähigkeit der Klägerin sei insbesondere durch ihre massive
Fettleibigkeit sowie die erheblichen Lymphödeme an den unteren Extremitäten eingeschränkt. Der Gutachter Dr.
Lhabe ein deutlich verkürztes und watschelndes Gangbild beobachten können, wobei ein wenig raumgreifender Gang
bestanden habe und eine deutliche Schwankung der Beckenachse zu beobachten gewesen sei. Dr. B habe ein
qualitativ etwa gleichwertiges Gangbild bei der Klägerin feststellen können. Die Klägerin müsse große Anstrengungen
aufbringen, um ihr Körpergewicht von etwa 230 kg überhaupt selbständig fortzubewegen. Aus der daraus folgenden
Bejahung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" ergebe sich bereits im Umkehrschluss, dass der vom
Gutachter Dr. L in Ansatz gebrachte orthopädische GdB von 50 zu niedrig sei. Die in der Verwaltungsvorschrift
explizit genannten Behinderungen bedingten nämlich nach den Anhaltspunkten 1996 (AHP 96) Nr. 26.18 S. 148
zumindest einen entsprechenden Einzel-GdB von 80. Entsprechendes müsse auch für Einschränkungen in der
Gehfähigkeit gelten, die mit diesen Behinderungen zu vergleichen seien. Wegen der erheblichen Beeinträchtigung der
Gebrauchsfähigkeit beider unterer Gliedmaßen durch Unterschenkelödeme und allgemeine Fettleibigkeit sei ein GdB
im Rahmen der Spanne von 50 bis 70 in Ansatz zu bringen. Die Bewertung der allgemeinen Belastungsinsuffizienz bei
Adipositas permagna mit einem GdB von 30 und der Behinderungen an den unteren Extremitäten mit einem GdB von
40 werde der Klägerin insgesamt nicht gerecht. Unter Berücksichtigung der degenerativen Veränderungen in den
Kniegelenken und der Wirbelsäule sowie der internistischen Erkrankungen und der allgemeinen Auswirkungen der
Adipositas permagna betrage der GdB insgesamt zumindest 80. Die Berechtigungskriterien für die Inanspruchnahme
des Nachteilsausgleiches "T" lägen vor, da ein mobilitätsbedingter Grad der Behinderung von 80 vom Hundert, das
Merkzeichen "aG" sowie Fähigkeitsstörungen beim Treppensteigen vorlägen. Die Voraussetzungen für die Vergabe
des Merkzeichens "RF" lägen vor, weil die Klägerin wegen der bei ihr bestehenden schweren Bewegungsstörungen
daran gehindert sei, in zumutbarer Weise an öffentlichen Veranstaltungen aller Art teilzunehmen. Selbst bei
Erreichbarkeit einzelner öffentlicher Veranstaltungen durch Benutzung des Telebusses wäre eine Teilnahmefähigkeit
der Klägerin nicht gegeben, da sie nicht in der Lage wäre, auf einem Sitz Platz zu nehmen, sondern mindestens zwei
Sitzplätze benötigte. Entsprechende Vorkehrungen seien bei öffentlichen Veranstaltungen regelmäßig nicht gegeben.
Gegen dieses ihm am 19. Mai 2004 zugestellte Urteil richtet sich die am 10. Juni 2004 eingegangene Berufung des
Beklagten. Der Beklagte trägt vor, dass der vom Sozialgericht angenommene mobilitätsbedingte GdB von 80 nicht
nachvollziehbar sei. Die im Gutachten des Herrn Dr. L angegebenen Befunde und Bewegungsausmaße bedingten
auch nach dessen Auffassung auf orthopädischem Fachgebiet lediglich einen GdB von 50. Die objektiven
Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "aG", "T" sowie "RF" lägen nicht vor.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. März 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin hat sich zur Berufung nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach? und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der
Beteiligten nebst Anlagen sowie den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und den der Verwaltungsakte des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, jedoch in der Sache nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet, im Übrigen
ist sie nicht begründet.
Die Klägerin hat zunächst einen Anspruch auf Feststellung eines Gesamt-GdB von 80. Für die Gesamt-GdB-Bildung
bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind nach § 69 Abs. 3 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch,
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX), die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer
Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei zu prüfen ist,
ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene
Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen
überschneiden oder gegenseitig verstärken. Bei Zugrundelegung dieses Bewertungssystems sind die bei der Klägerin
vorliegenden aus ihren Behinderungen folgenden Funktionsbeeinträchtigungen zu Recht vom Sozialgericht mit einem
Gesamt-GdB von 80 bewertet worden. Der Senat legt dabei ? da das durch Dr. L erstellte Gutachten insoweit
unergiebig ist ? die Einzel-Bewertungen des Versorgungsarztes Dr. S in seiner Stellungnahme vom 17. Dezember
2003 zugrunde, wonach degenerative Funktionseinschränkungen der Kniegelenke und Lymphabflussstörungen mit
einem Einzel-GdB von 40, Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule mit einem GdB von 30, eine generalisierte
Belastungsinsuffizienz bei Adipositas permagna mit einem Einzel-GdB von 30 und der bestehende Bluthochdruck und
die Herzleistungsminderung mit 20 bewertet wurden. Die Bildung eines Gesamt-GdB von 70 aus diesen Werten
berücksichtigt auch zur Überzeugung des Senates nicht hinreichend die besondere Verstärkung aller
Beeinträchtigungen aufgrund der erheblichen Adipositas permagna, durch welche die Klägerin in sämtlichen
Bewegungen aufs schwerste beeinträchtigt ist. Der Beklagte hat zwar zu Recht darauf hingewiesen, dass die AHP
1996 ebenso wie die nunmehr einschlägigen, insoweit gleichlautenden AHP 2004 für die Adipositas allein keinen GdB
vorsehen. Allerdings können nach den AHP 2004 Folge- und Begleitschäden sowie die besonderen funktionellen
Auswirkungen einer Adipositas permagna durchaus einen GdB-Grad begründen (AHP 2004 Nr. 26.15, S. 99).
Vorliegend wurden lediglich derartige funktionelle Auswirkungen, die bei der Klägerin in schwerstem Maße bestehen,
berücksichtigt. Da die Gebrauchsfähigkeit beider unteren Gliedmaßen der Klägerin durch Unterschenkelödeme und die
allgemeine Fettleibigkeit erheblich beeinträchtigt ist, ist für die zu a) und c) genannten Beeinträchtigungen ein GdB
von 60 in Ansatz zu bringen, so dass unter Berücksichtigung der Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule sowie
der internistischen Erkrankungen ein Gesamt-GdB von mindestens 80 besteht.
Die Klägerin hat auch Anspruch auf die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme
des Nachteilsausgleiches "aG". Nach Nr. 11 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung erlassenen allgemeinen
Verwaltungsvorschrift sind als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen
anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung
außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte,
Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig
Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprotese
tragen können oder zugleich unterschenkel? oder armamputiert sind sowie andere Schwerbehinderte, die nach
versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend aufgeführten Personenkreis
gleichzustellen sind. Diese Vorschrift ist ihrem Zweck entsprechend eng auszulegen. Nach den strengen Maßstäben
der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, SozR 3?3870 § 4 Nr. 22 und § 4 Nr. 23) müssen diejenigen
Schwerbehinderten, die in der Aufzählung nicht ausdrücklich genannt sind, dann gleichgestellt werden, wenn deren
Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und sie sich nur unter ebenso großen Anstrengungen
wie die in der Verwaltungsvorschrift ausdrücklich genannten Personen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen
können. Das BSG hat klargestellt, dass sich das Restgehvermögen begrifflich weder quantifizieren noch qualifizieren
lässt. Insbesondere taugt eine im Metern ausgedrückte Wegstrecke grundsätzlich nicht als Beurteilungsmaßstab, weil
die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften nicht darauf abstellen, über welche Wegstrecke ein
schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf,
unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist, nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit ebenso großen
körperlichen Anstrengungen wie die in der Verwaltungsvorschrift genannten Personen.
Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin vor, weil sie sich außerhalb eines Kraftfahrzeuges nur unter ebenso
großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann wie die in der Verwaltungsvorschrift genannten Personen. Dies
haben ausdrücklich sowohl der begutachtende Facharzt für Orthopädie Dr. L in seinem Gutachten vom 4. Dezember
2003 wie auch die behandelnden Ärzte T/Dr. M im Befundbericht vom 26. Mai 2003 ausdrücklich bejaht. Die vom
Beklagten hiergegen vorgebrachten Einwände, dass bei einer weiteren Abnahme von körperlichen Aktivitäten, die bei
Inanspruchnahme der vom Sozialgericht zuerkannten Merkzeichen zu erwarten sei, eine weitere Gewichtszunahme
und damit auch eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes drohe, sind nach den Vorgaben des Gesetzes und
der Anhaltspunkte nicht beachtlich und allein der Eigenverantwortung der Klägerin zuzuschreiben. Dr. O hat in seiner
versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 30. August 2004 insoweit zu Recht ausgeführt, dass zwar eine auf die
notwendige "große Anstrengung" abstellende Beurteilung aus ärztlicher Sicht nicht nachvollziehbar sei, aber
möglicherweise aufgrund des Urteils des BSG akzeptiert werden müsste.
Die Klägerin erfüllt auch die Voraussetzungen für die Berechtigung, den besonderen Fahrdienst des Landes Berlin zu
nutzen (Merkzeichen "T"). Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung über die Vorhaltung eines besonderen Fahrdienstes
des Landes Berlin vom 31. Juli 2001 sind hierfür das im Schwerbehindertenausweis eingetragene Merkzeichen "aG",
ein mobilitätsbedingter Grad der Behinderung von mindestens 80 vom Hundert und Fähigkeitsstörungen beim
Treppensteigen erforderlich. Diese Voraussetzungen liegen in der Person der Klägerin vor. Insoweit wird gemäß § 153
Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil verwiesen, denen der Senat nach
eigener Prüfung folgt.
Der Berufung war jedoch insoweit stattzugeben, als der Klägerin auch das Merkzeichen "RF" zugesprochen worden
war. Die Klägerin gehört nicht zu dem ? hier allein in Betracht kommenden ? Personenkreis des § 1 Abs. 1 Nr. 3 der
Verordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 2. Januar 1992 (GVBL
für Berlin S. 3). Danach sind Behinderte von der Rundfunkgebührenpflicht zu befreien, die nicht nur vorübergehend um
wenigstens 80 vom Hundert in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert sind und wegen ihres Leidens an öffentlichen
Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der der
erkennende Senat folgt, ist eine enge Auslegung von Gebührenbefreiungsvorschriften geboten. Dem Zweck der
Befreiung von der Gebührenpflicht für den Rundfunk? und Fernsehempfang wird dann genügt, wenn der
Schwerbehinderte wegen seiner Leiden ständig, das heißt allgemein und umfassend, vom Besuch von
Zusammenkünften politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender oder
wirtschaftlicher Art ausgeschlossen ist. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn er praktisch an das Haus gebunden
ist und allenfalls an einer nicht nennenswerten Zahl von Veranstaltungen teilnehmen kann (BSG, Urteil vom 12.
Februar 1997, SozR 3?3870 § 4 Nr. 17 m.w.N.). Selbst wenn einem behinderten Menschen der Besuch größerer
Veranstaltungen nicht mehr möglich ist, ist er nicht ständig von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen
ausgeschlossen, da es eine Vielzahl von Veranstaltungen gibt, die für Senioren und behinderte Menschen angeboten
werden und die eine längere Anwesenheit nicht erfordern; diese Veranstaltungen finden zur Geselligkeit, sowie auf
kulturellem, religiösem oder wissenschaftlichem Gebiet statt und sind mit keinem größeren Publikumsandrang
verbunden.
Vorliegend konnte nicht festgestellt werden, dass die Klägerin auch bei Inanspruchnahme von Hilfen praktisch an ihre
Wohnung gebunden ist. Die Klägerin hat die Zuerkennung der Nachteilsausgleiche "aG" und "T" im
Widerspruchsverfahren mit Schreiben vom 2. April 2002 deshalb begehrt, damit sie "überhaupt wieder am öffentlichen
Leben teilnehmen" könne. Die Klägerin selbst ging damit davon aus, dass ihr mit Zuerkennung der beantragten
Nachteilsausgleiche eine stärkere Teilnahme am öffentlichen Leben wieder ermöglicht wird. Auch generell ist darauf
hinzuweisen, dass gerade die Telebusberechtigung der Eingliederung von stark bewegungsbeeinträchtigten
Schwerbehinderten dient und bezweckt, ihnen die Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben zu
ermöglichen und die Isolation, das heißt eine Bindung an das Haus, zu überwinden. Dieser Zielsetzung würde die
Zuerkennung des Merkzeichens "RF" widersprechen. Unerheblich, weil nicht medizinisch begründet war in diesem
Zusammenhang, dass die Klägerin beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen zwei Sitzplätze benötigt. Die Gestaltung
von Sitzplätzen bei öffentlichen Veranstaltungen ist durchaus unterschiedlich. Jedenfalls bei Besuchen von in Kirchen
stattfindenden Veranstaltungen sowie in Senioreneinrichtungen sind nicht lediglich Bestuhlungen mit fixierten
Armlehnen, auf welche die Klägerin nicht passen dürfte, vorhanden. Da die Klägerin nicht rollstuhlpflichtig ist, sondern
sich durchaus noch selbst bewegen kann, ist auch nicht ersichtlich, weshalb, wie der Gutachter L meint, der
Teilnahmefähigkeit entgegenstehen sollte, dass eine Person hierbei 250 kg bewegen müsste.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, sie folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.