Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 29.01.2009

LSG Berlin und Brandenburg: blindheit, vep, verordnung, beweislast, hauptsache, mensch, sozialversicherungsrecht, vertreter, form, herzinfarkt

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 29.01.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Potsdam S 5 SB 159/07
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 11 SB 284/08
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 17. Juni 2008 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Revision
wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" (Blindheit).
Der Kläger leidet seit einer Reanimation nach einem Herzhinterwandinfarkt an einem apallischen Syndrom. Auf einen
für ihn im Februar 2006 gestellten Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" zog der Beklagte den
Entlassungsbericht der Neurologischen Rehabilitationsklinik B vom 10. März 2006 über eine Behandlung des Klägers
vom 01. November 2005 bis 13. Februar 2006 bei, in dem als Diagnosen u. a. eine hypoxische Hirnschädigung und
ein apallisches Syndrom nach Herzstillstand mit erfolgreicher Wiederbelebung bei Hinterwandinfarkt am 03. Oktober
2005 genannt sind und erkannte nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme - auch unter Bearbeitung
eines bereits im November 2005 gestellten Antrages nach dem Schwerbehindertengesetz - durch Bescheid vom 10.
Mai 2006 einen Gesamtgrad der Behinderung (GdB) von 100 und das Vorliegen verschiedener anderer Merkzeichen
an. Die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" lehnte der Beklagte ab.
Im Widerspruchsverfahren wurde für den Kläger erneut auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 26.
Oktober 2004 (Aktenzeichen B 7 SF 2/03 R) verwiesen. Der Beklagte holte eine Stellungnahme der Neurologischen
Rehabilitationsklinik Bein, für die die Ärzte T/Prof. Dr. W am 23. August 2006 mitteilten, dass klinisch der Verdacht
auf eine Amaurosis (Blindheit) bestehe, weil der Kläger weder fixiert noch auf Drohgebärden reagiert habe. Eine
Untersuchung des Sehvermögens durch eine VEP (Visuell Edizierte Potentiale) Prüfung sei nicht möglich. Der
Beklagte holte daraufhin ferner ein Gutachten des Dr. M, A-Fachklinikum B, ein, der mit Datum vom 04. April 2007
ausführte, dass weiterhin die Diagnose eines apallischen Syndroms zu stellen sei. Es handele sich um eine
funktionale Entkoppelung der kortikalen Strukturen vom Stammhirn, der Betroffene sei nicht in der Lage, eine gezielte
Reizantwort zu geben. Sehen im Sinne eines bewussten Wahrnehmens sei an die Bewusstseinshelligkeit und an die
Funktionstüchtigkeit der Sehrinden gebunden. Da die Verbindung des optischen Apparates zur Sehrinde im
apallischen Syndrom unterbrochen sei, könne der Betroffene optische Reize nicht bewusst wahrnehmen. Bei
Nichtfunktionsfähigkeit der Sehrinde in beiden Hemisphären spreche man von einer so genannten "Seelenblindheit",
da trotz Intaktheit des optischen Apparates Bilder nicht wahrgenommen werden könnten. Diese sei mit Blindheit
gleichzusetzen. Mit Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 2007 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Potsdam durch Urteil vom 17. Juni 2008 abgewiesen, wobei es
zur Begründung insbesondere auf ein Urteil des BSG vom 20. Juli 2005 (Aktenzeichen 9 a BL 1/05 R, BSGE 95, 76)
verwiesen hat.
Gegen dieses am 26. Juni 2008 zugegangene Urteil richtet sich die am 28. Juli 2008 eingegangene Berufung des
Klägers, für den weiter ausgeführt wird, dass bei ihm ein anderes Krankheitsbild als in der zitierten BSG-Entscheidung
vom 20. Juli 2005, wo es um ein frühgeborenes Kind mit Hirnschädigung ging, vorliege. Vielmehr sei auf die BSG-
Entscheidung vom 26. Oktober 2004, Az. B 7 SF 2/03 R abzustellen, wo auch ein apallisches Syndrom nach einem
Herzinfarkt mit Kreislaufstillstand Gegenstand gewesen sei. Es lägen zwei Gutachten vor, die seine Blindheit
bestätigten, während die Gegenseite kein Gutachten vorlegen könne, welches bestätige, dass er nicht blind sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 17. Juni 2008 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 10. Mai
2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24. Mai 2007 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen,
ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "Bl" zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte verweist zur Begründung auf die Ausführungen der erstinstanzlichen Entscheidung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen
und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakten sowie den der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, jedoch unbegründet, weil der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens
"Bl" hat. Das Sozialgericht hat die hierauf gerichtete Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide des
Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs auf Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" war bis zum 31.
Dezember 2008 § 69 Abs. 1, Abs. 4 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch (SGB IX) i. V. m. Nr. 23 der Anhaltspunkte für
die ärztliche Begutachtung im Schwerbehindertenrecht in ihrer jeweils geltenden Fassung (zuletzt Anhaltspunkte -
AHP - 2008, Nr. 23, S. 33). In der ab 1. Januar 2009 geltenden Fassung verweist § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX insoweit
auf die ebenfalls zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretene "Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30
Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV)" vom
10. Dezember 2008 (BGBl I 2008 S. 2412), in deren Anlage zu § 2 nunmehr die zuvor in den AHP enthaltenen
Grundsätze wiedergegeben sind. Hier ist in Nr. 6 a) (S. 14) unverändert die zuvor in den AHP enthaltene Regelung
übernommen worden, wonach blind der behinderte Mensch ist, dem das Augenlicht vollständig fehlt bzw. dessen
Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht beidäugig mehr als 0,02 (1/50) beträgt oder bei dem keine
Sehbeeinträchtigungen von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie dieser Beeinträchtigung gleichzustellen
wären.
Blindheit in diesem Sinne ist nicht gegeben, wenn nicht eine spezifische Störung des Sehvermögens, sondern - bei
vorhandener Sehfunktion - (nur) eine zentrale Verarbeitungsstörung vorliegt, wie sie vom BSG ausdrücklich bei einem
vollständigen apallischen Syndrom angenommen wird. Zur Begründung wird im Übrigen gemäß § 153 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil Bezug genommen, in denen diese
Rechtsprechung des BSG ausführlich dargestellt wird und auf die zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug
genommen wird.
Die seitens des Klägers erhobenen Einwände führten zu keinem anderen Ergebnis. Unerheblich war, dass in dem der
BSG-Entscheidung zugrunde liegenden Fall die Hirnschädigung auf einer anderen Ursache als bei ihm beruht. Denn
im gesamten Bereich des Schwerbehindertenrechts sind maßgebend nie die Erkrankungen als solche, sondern
vielmehr die aus ihnen resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen. Nicht entscheidungserheblich ist auch, dass der
Beklagte nicht nachweisen kann, dass keine Sehschädigung vorliegt. Nach dem im Sozialversicherungsrecht
geltenden Grundsatz der so genannten objektiven Beweislast trägt - wenn das Gericht bestimmte Tatsachen trotz
Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht feststellen kann - jeweils derjenige die Beweislast für die
Tatsachen, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen. Da vorliegend weitere Ermittlungsmöglichkeiten
im Hinblick darauf, ob neben dem apallischen Syndrom auch das Sehvermögen als solches beeinträchtigt ist, wegen
der nach Mitteilung der Neurologischen Rehabilitationsklinik Beelitz-Heilstätten vom 23. August 2006 nicht möglichen
VEP-Prüfung nicht bestehen, hat die Folgen der fehlenden Möglichkeit, die Voraussetzungen für das Merkzeichen
"Bl" festzustellen, der Kläger in Form der Klageabweisung und der Berufungszurückweisung zu tragen.
Überhaupt nicht nachvollziehbar ist, welche Schlüsse seitens des Klägers aus dem Urteil des BSG vom 26. Oktober
2004 gezogen werden. Das BSG hat hier keineswegs Blindheit bejaht, sondern vielmehr die Sache an das
Landessozialgericht zurückverwiesen. Grund für diese Zurückverweisung war, dass nicht geprüft worden war, ob
Blindheit vorlag, weil man die Klage zunächst nur mit der Begründung abgewiesen hatte, dass wegen der Art der
Erkrankung blindheitsbedingte Aufwendungen nicht anfallen würden, allein diese Argumentation hatte das BSG für
unrichtig gehalten. Da auch derjenige, der an einem apallischen Syndrom leidet, zusätzlich an einer Schädigung des
Sehorgans leiden kann, musste die Frage der Blindheit im dortigen Fall weiter aufgeklärt werden. Eine derartige
Aufklärung ist vorliegend im Falle des Klägers nicht möglich, die Folgen dieser Unaufklärbarkeit gehen nach
allgemeinen Beweisregeln zu seinen Lasten, wie bereits ausgeführt wurde. Entgegen der Auffassung der Vertreter des
Klägers ist aber in dem BSG-Urteil an keiner Stelle ausgeführt, dass beim apallischen Syndrom oder wegen dessen
Verursachung durch einen Herzstillstand Blindheit zu bejahen sei, sondern es wurde auch hier – genau wie im
späteren Urteil vom 20. Juli 2005 - ausdrücklich ausgeführt, dass eine zentrale Verarbeitungsstörung (wie sie später
für das apallische Syndrom bejaht wurde) von einer Störung des Sehorgans zu unterscheiden sei und für sich
genommen eben gerade nicht die Voraussetzungen der faktischen Blindheit erfülle.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie folgt dem Ergebnis in der
Hauptsache.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorlagen.