Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 09.06.2010

LSG Berlin und Brandenburg: verkündung, abschaffung, deckung, gesetzgebung, verfassungsrecht, geldleistung, subsumtion, rechtsirrtum, zugang, auflage

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 09.06.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 95 AS 10852/05
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 34 AS 2009/09 NZB
Die Beschwerde des beigeladenen Landes gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts
Berlin vom 15. September 2009 wird zurückgewiesen. Das beigeladene Land hat dem Kläger die Kosten des
Beschwerdeverfahrens zu erstatten. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten. Die Kostenentscheidung des
Sozialgerichts bleibt unberührt.
Gründe:
Die Beschwerde des beigeladenen Landes gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts
Berlin vom 15. September 2009, mit dem dieses das beigeladene Land verurteilt hat, an den Kläger einen (Hygiene-)
Mehrbedarf in Höhe von 20,45 EUR monatlich für den Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis 30. November 2005 zu
gewähren, ist gemäß § 145 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet. Die Berufung ist weder kraft
Gesetzes zulässig noch sind Zulassungsgründe nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 SGG gegeben.
Die fehlende Zulässigkeit der Berufung ergibt sich aus § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Danach bedarf die Berufung
der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts,
wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen
hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 EUR nicht übersteigt. So liegt es hier. Der Wert des
Beschwerdegegenstandes beträgt lediglich 224,95 EUR (11 x 20,45 EUR).
Die Berufung ist auch nicht deshalb zulässig, weil das Sozialgericht sie zugelassen hätte. Im Tenor ist die
Nichtzulassung der Berufung eindeutig ausgesprochen.
Die Berufung ist auch nicht gemäß § 144 Abs. 2 SGG zuzulassen. Hiernach ist die Berufung zuzulassen, wenn die
Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 1), das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des
Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des
Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr. 2) oder ein der Beurteilung des
Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung
beruhen kann (Nr. 3).
Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die vorliegende Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung mehr,
da zwischenzeitlich durch die Rechtsprechung des BVerfG und eine nachfolgende Gesetzesänderung eine
Rechtsgrundlage für einen unabweisbaren Mehrbedarf auch im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) geschaffen
worden ist. Grundsätzliche Bedeutung kommt einem Rechtsstreit nur zu, wenn von der Entscheidung der
Rechtssache erwartet werden kann, dass sie zur Erhaltung und Sicherung der Rechtseinheit und zur Fortbildung des
Rechts beitragen wird. Dies ist wiederum nur dann der Fall, wenn es in einem Rechtsstreit um eine klärungsbedürftige
und klärungsfähige Rechtsfrage geht, deren Entscheidung über den Einzelfall hinaus Bedeutung besitzt (vgl. Leitherer
in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 160 RdNr. 6 m. w. N. und Kummer, Der Zugang zur
Berufungsinstanz nach neuem Recht, NZS 1993, S. 337 ff. [341] m. w. N.). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung
des Vorliegens der grundsätzlichen Bedeutung ist der Zeitpunkt der Entscheidung durch das Landessozialgericht (vgl.
Leitherer, a.a.O., Rn. 7 b). Eine grundsätzliche Bedeutung ist in der Regel dann nicht (mehr) gegeben, wenn der
Rechtsstreit eine außer Kraft getretene Vorschrift betrifft (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – BSG
-, vgl. zuletzt Beschluss vom 26. März 2010, Az. B 11 AL 192/09 B, juris Rn. 10 n.w.N.) Die gleiche Situation liegt
vor, wenn eine zunächst klärungsbedürftige Rechtsfrage durch Rechtsprechung und nachfolgende Gesetzgebung
gelöst wird. Dies ist hier der Fall. Das BVerfG hatte in seinem Urteil vom 9. Februar 2010, Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL
3/09, 1 BvL 4/09, dokumentiert in juris = NJW 2010, 505, entschieden, dass ein Anspruch auf Deckung eines
unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs direkt aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art.
20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) folgt. Der Gesetzgeber hat mit dem "Gesetz zur Abschaffung des Finanzplanungsrates
und zur Übertragung der fortzuführenden Aufgaben auf den Stabilitätsrat sowie zur Änderung weiterer Gesetze" vom
27. Mai 2010, BGBl. Teil I Nr. 26, Seite 671, das SGB II geändert und mit § 21 Abs. 6 SGB II folgende Neureglung
beschlossen: "Erwerbsfähige Hilfebedürftige erhalten einen Mehrbedarf, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer,
laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere
nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Hilfebedürftigen
gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht". Gleichzeitig wurde § 3
Abs. 3 Satz 2 SGB II, wonach eine abweichende Festlegung der Bedarfe nach dem SGB II ausgeschlossen war,
aufgehoben. Damit ist auch die seit Inkrafttreten des SGB II umstrittene Frage, ob Bedarfe, die durch das SGB II
nicht abgedeckt waren, durch einen Anspruch nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) gedeckt werden
konnten, obsolet geworden. Diese Frage wäre es jedoch gewesen, die ohne die Rechtsprechung des BVerfG und die
Neuregelung durch den Gesetzgeber der Klärung bedürftig gewesen wäre.
Es liegt auch nicht der Fall vor, dass noch eine Vielzahl weiterer, vergleichbarer Fälle anhängig sind, die nach
bisherigem Recht zu entscheiden sind. Bei einer solchen Konstellation könnte unter Umständen noch eine
Klärungsbedürftigkeit gegeben sein. Das BSG hat jedoch in seinem Urteil vom 18. Februar 2010, Az. B 4 AS 29/09 R,
juris Rn. 34, ausgeführt, dass der Prüfung des aus dem Verfassungsrecht herzuleitenden Anspruchs auf Mehrbedarf
nicht entgegensteht, dass die Beteiligten über Leistungen für einen Zeitraum vor dem Urteil des BVerfG streiten, weil
dass BVerfG zur Anwendung des Anspruchs im Tenor der Entscheidung angeordnet hat, "dass dieser Anspruch nach
Maßgabe der Urteilsgründe unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG zu Lasten des
Bundes geltend gemacht werden kann". In den Gründen hat das BVerfG hierzu ausgeführt, dass
Leistungsberechtigte, bei denen ein besonderer Bedarf vorliege, auch vor der Neuregelung die erforderliche Sach- und
Geldleistung erhalten müssten. Ansonsten läge eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG vor, die auch nicht
vorübergehend hingenommen werden könne. Vor diesem Hintergrund versteht das BSG die weiteren Ausführungen,
wonach die verfassungswidrige Lücke für die Zeit ab Verkündung des Urteils durch eine entsprechende Anordnung
des BVerfG zu schließen sei, dahin, dass in laufenden und noch nicht abgeschlossenen Verfahren eine
"Härteleistung" auf Grund von Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG zu gewähren sein kann. Hierfür spricht zudem,
dass das BVerfG im Übrigen eine "rückwirkende Neufestsetzung" von Leistungen ausschließen wollte. Dies bedeutet
für den vorliegenden Fall, dass bereits geklärt ist, wie noch nicht abgeschlossene Fälle, in denen ein Mehrbedarf für
die Zeit vor Verkündung des Urteils des BVerfG geltend gemacht wird, zu behandeln sind, nämlich dass der
Grundsicherungsträger des SGB II den Mehrbedarf zu gewähren hat. Auch diesbezüglich liegt eine
Klärungsbedürftigkeit damit nicht mehr vor. Dass das beigeladene Land danach zu Unrecht verurteilt worden ist, den
Mehrbedarf zu gewähren, weil der Beklagte ihn hätte leisten müssen, ist im Rahmen der Prüfung, ob die Berufung
zuzulassen ist, unbeachtlich.
Die Berufung ist auch nicht wegen der Abweichung von einer obergerichtlichen Rechtsprechung zuzulassen. Dieser
Zulassungsgrund setzt nach der Rechtsprechung des BSG voraus, dass einerseits ein abstrakter Rechtssatz der
angefochtenen Entscheidung und andererseits ein der Entscheidung eines Obergerichts zu entnehmender abstrakter
Rechtssatz nicht übereinstimmen. Dabei muss das abweichende Gericht den mit der obergerichtlichen
Rechtsprechung nicht übereinstimmenden Rechtssatz seiner Entscheidung zu Grunde gelegt, insoweit eine die
Entscheidung tragende Rechtsansicht entwickelt und damit der obergerichtlichen Rechtsprechung im Grundsätzlichen
widersprochen haben. Dagegen genügt nicht ein Rechtsirrtum im Einzelfall, also zum Beispiel eine fehlerhafte
Subsumtion des Sachverhalts, eine unzutreffende Beurteilung oder das Übersehen einer Rechtsfrage (Leitherer in
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 160 Rn 13, 14 m. w. N.).
Schließlich ist die Berufung auch nicht wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen, da ein solcher entgegen § 144
Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGG von der Beklagten nicht geltend gemacht worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Dieser Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten
werden. Nach § 145 Abs. 4 Satz 5 SGG wird das Urteil des Sozialgerichts mit der Ablehnung der Beschwerde durch
das Landessozialgericht rechtskräftig.