Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 19.11.2007

LSG Berlin und Brandenburg: leistungsausschluss, erwerbstätigkeit, arbeitskraft, erwerbsfähigkeit, abrede, leistungsfähigkeit, volkswirtschaft, entstehungsgeschichte, studierender, kündigung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 19.11.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Potsdam S 24 AS 398/07 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 14 B 1224/07 AS ER
Der Tenor des Beschlusses des Sozialgerichts Potsdam vom 27. März 2007 wird dahingehend berichtigt, dass das
Aktenzeichen S 24 AS 1026/07 ER durch das Aktenzeichen S 24 AS 1026/07 ersetzt wird. Die Beschwerde der
Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 27. März 2007 wird zurückgewiesen. Die
Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe:
1. Der Tenor des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin war zunächst nach § 138 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)
dahingehend zu berichtigen, dass die Antragsgegnerin verpflichtet wird, vorläufige Leistungen bis längstens zu einer
Entscheidung des Gerichts im Verfahren zum Aktenzeichen S 24 AS 1026/07 (und nicht wie im Tenor genannt: S 24
AS 1026/07 ER) zu gewähren. Es handelt sich hierbei um einen offenkundigen Schreibfehler, da ein Verfahren zum
Aktenzeichen S 24 AS 1026/07 ER überhaupt nicht existiert und es in der Sache auch um vorläufige Leistungen bis
zu einer gerichtlichen Entscheidung im Hauptsacheverfahren geht, die zum Aktenzeichen S 24 AS 1026/07 anhängig
ist. Die Berichtigung konnte von Amts wegen durch das Rechtsmittelgericht vorgenommen werden
(Bundessozialgericht, Urteil vom 14. Februar 1978 – 7/12 RAr 73/76 -, SozR 1500 § 138 Nr. 3).
2. Die statthafte und zulässige Beschwerde (§§ 172, 173 SGG) der Antragsgegnerin ist unbegründet.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines
vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur
Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Auch nach Auffassung des Senats hat der Beschwerdeführer
sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
a) Leistungen nach §§ 20, 22 des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) erhalten gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1
SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (Nr. 1), die
erwerbsfähig (Nr. 2) und hilfebedürftig (Nr. 3) sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik
Deutschland haben (Nr. 4). Diese Voraussetzungen erfüllt der Antragsteller allesamt. Insbesondere ist er nach
Aktenlage erwerbsfähig im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB II, denn nach dem Gutachten des ärztlichen Dienstes der
Agentur für Arbeit Potsdam vom 26. Januar 2006 – zu dem gegenteilige medizinische Äußerungen nicht vorliegen –
ist er auch unter Berücksichtigung seiner unfallbedingten Folgeerkrankungen in der Lage, drei bis sechs Stunden
täglich, also mindestens drei Stunden täglich, erwerbstätig zu sein. Bei dem Kriterium der Erwerbsfähigkeit kommt es
– entgegen der Auffassung des Sozialgerichts – allein auf eine medizinische Betrachtung des abstrakten
Leistungsvermögens an. Unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund der zeitlichen Bindungen durch sein
(Teilzeit)Studium in der Lage ist, neben dem Studium mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein, denn im
Rahmen von § 8 Abs. 1 SGB II besteht ein Leistungsausschluss nur für Personen, die aus medizinischen Gründen
(wegen Krankheit oder Behinderung) auf absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des
allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Demgemäß werden auch Schüler,
die keine nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) förderungsfähige Erstausbildung zurücklegen (etwa
weil sie zu Hause leben), grundsätzlich nach dem SGB II gefördert, selbst wenn diese Ausbildung ihre Arbeitskraft
voll in Anspruch nimmt. Ob der Antragsteller gegebenenfalls sein Studium abbrechen muss, um so in der Lage zu
sein, einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit nachzugehen, ist keine Frage seiner Erwerbsfähigkeit nach § 8 Abs. 1
SGB II, sondern richtet sich nach der Zumutbarkeit der Aufnahme einer Arbeit im Sinne von § 10 SGB II. Da der
Antragsteller bereits ein abgeschlossenes Studium zum Ökonomie-Manager in R zurückgelegt hat und es sich
demzufolge bei seinem am 1. Oktober 2006 aufgenommenen Studium um eine weitere Ausbildung auch im Sinne von
§ 7 Abs. 2 BAföG handeln dürfte (vgl. Bescheid des Studentenwerks Berlin vom 23. Oktober 2006 im Verfahren auf
Gewährung von Leistungen nach dem BAföG), dürfte diese Ausbildung als Zweitstudium keinen wichtigen Grund für
die Unzumutbarkeit einer Arbeit darstellen. Leistungen nach dem SGB II können unter diesem Gesichtspunkt jedoch
nur unter den Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe c SGB II abgesenkt werden bzw. ganz wegfallen.
Dass der Antragsteller gegenwärtig neben seinem Studium keine existenzsichernde Arbeit verrichtet und
möglicherweise aus gesundheitlichen Gründen auch nicht verrichten kann, steht jedoch nicht generell einem
Leistungsanspruch entgegen. Eine Einstellung von Leistungen nach dem aus dem Recht des Dritten Buchs des
Sozialgesetzbuchs (SGB III) entnommenen Gesichtspunkt der "fehlenden Verfügbarkeit" ist im SGB II nicht
vorgesehen.
b) Von dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II wird der Antragsteller nicht erfasst. Danach haben
Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des BAföG oder der §§ 60 bis 62 SGB III dem Grunde nach
förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Das Teilzeitstudium
Betriebswirtschaft (Nebenfach Volkswirtschaft) mit dem angestrebten Abschluss Bachelor of Science, das der
Antragsteller durchläuft, ist dem Grunde nach aber nicht förderungsfähig nach dem
Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG). Vollständig in Teilzeitform durchgeführte Ausbildungen unterfallen dem
Leistungsausschluss nach § 2 Abs. 5 Satz 1 BAföG. Nach dieser Vorschrift kann nur eine solche Ausbildung durch
Leistungen nach dem BAföG gefördert werden, für die die Auszubildenden im Allgemeinen ihre Arbeitszeit ganz
einsetzen müssen. Das vom Antragsteller durchgeführte Teilzeitstudium mit einem Arbeitsaufwand von jedenfalls
weniger als 18 Zeitstunden in der Woche (vgl. Widerspruchsbescheid des Studentenwerks Berlin im Verfahren auf
Gewährung von Leistungen nach dem BAföG) entspricht diesen Anforderungen nicht. Dabei kommt es nicht darauf
an, dass die Leistungsfähigkeit des Antragstellers aus behinderungsbedingten Gründen möglicherweise mit einem
Teilzeitstudium weitgehend oder voll ausgelastet ist und er individuell zu einem Vollzeitstudium gar nicht in der Lage
wäre. Denn der Leistungsausschluss nach § 2 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 BAföG betrifft nicht die Förderung im konkreten
Falle, sondern die abstrakte Förderungsfähigkeit, wie das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 14. Dezember 1994 –
11 C 28/93 - Buchholz 436.36 § 7 BAföG Nr. 112) ausführlich unter Bezugnahme auf Wortlaut,
Regelungszusammenhang, Entstehungsgeschichte und Zweck dieser Vorschrift ausgeführt hat. Es kommt danach
nicht darauf an, ob der einzelne Auszubildende nach seinen persönlichen Verhältnissen noch in der Lage ist, neben
der Ausbildung seine Arbeitskraft für eine andere Tätigkeit einzusetzen, sondern allein darauf, ob die Ausbildung als
solche in Vollzeitform durchgeführt wird. Insofern sieht das Gesetz eine objektive Betrachtung vor, zu der auch die
Antragsgegnerin im Widerspruchsbescheid einräumt, dass der Antragsteller sich in einer dem Grunde nach nicht
förderungsfähigen Ausbildung befindet. Im Rahmen von § 7 Abs. 5 SGB II unerheblich ist, dass der Antragsteller
neben den objektiven auch die subjektiven Voraussetzungen für eine Förderung nach dem BAföG nicht erfüllen dürfte,
weil es sich um ein Zweitstudium handelt, denn der Leistungsausschluss nach dem SGB II bezieht sich nur auf Fälle
einer dem Grunde nach nach dem BAföG förderungsfähigen Ausbildung. Demgemäß stellt die Antragsgegnerin auch
nicht in Abrede, dass sie Leistungen nach dem SGB II gewähren würde, wenn ein Studierender ein berufsbegleitendes
(Zweit-)Studium ausübt und nur vorübergehend nicht in der Lage wäre, seinen Lebensunterhalt aus eigener
Erwerbstätigkeit zu bestreiten.
c) Damit spricht viel dafür, dass der Bescheid vom 28. November 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
19. Februar 2007 rechtswidrig ist. Da es um die Deckung des existenzsichernden Bedarfs des Antragstellers geht,
dem kein Einkommen oder Vermögen zur Verfügung steht und der Vermieter bereits wegen der Zahlungsrückstände
mit der fristlosen Kündigung gedroht hat, liegt jedenfalls im Rahmen einer Folgenabwägung auch ein Anordnungsgrund
vor, wie das Sozialgericht zutreffend und ausführlich dargelegt hat ( vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom
12.05.2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005, 927-929).
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).