Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 27.12.2007

LSG Berlin-Brandenburg: dringlichkeit, hauptsache, beurlaubung, rechtsschutz, sachprüfung, link, sammlung, quelle, unterliegen, erlass

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
25. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 25 B 146/08 AS ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 7 Abs 5 S 1 SGB 2
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss bei
Ausbildungsförderung - keine abstrakte Förderungsfähigkeit
eines Studenten im Urlaubssemester
Leitsatz
Auf einen Studenten im Urlaubssemester ist § 7 Abs. 5 SGB II nicht anwendbar
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom
27. Dezember 2007 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen
Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für die Zeit vom 05. Februar bis zum
31. März 2008 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende zur Sicherung des
Lebensunterhalts zu gewähren.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen notwendige außergerichtliche Kosten
des gesamten Verfahrens zu zwei Fünfteln zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde mit dem sinngemäßen Antrag,
den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. Dezember 2007 aufzuheben und
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem
Antragsteller ab dem 08. November 2007 vorläufig Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts zu gewähren,
ist zulässig gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und in dem aus dem Tenor
ersichtlichen Umfang auch begründet.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ergehen, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierzu hat der
betreffende Antragsteller das Bestehen des zu sichernden materiellen Anspruches
(Anordnungsanspruch) sowie die besondere Dringlichkeit des Erlasses der begehrten
einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz
4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung).
1. Hiervon ausgehend sind nur für die Zeit ab der Beschwerdeentscheidung des Senats
(05. Februar 2008) bis zum 31. März 2008 sowohl der Anordnungsgrund als auch der
Anordnungsanspruch zu bejahen:
Der Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass der Antragsteller glaubhaft gemacht hat,
dass er ohne sonstige Einkünfte oder sonstiges Vermögen ausgestattet ist und einer
sofortigen gerichtlichen Entscheidung zur Erlangung effektiven Rechtsschutzes bedarf.
Der Anordnungsanspruch ist gleichfalls glaubhaft gemacht worden. Die
Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II) sind
zwischen den Beteiligten nicht im Streit. Der Antragsgegner kann sich aber auch nicht
auf die den Anspruch ausschließende Vorschrift des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II berufen.
Denn die Ausbildung des Antragstellers ist nicht im Rahmen des
Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig.
An der Grundvoraussetzung für eine Förderung nach dem BAföG, nämlich dem Besuch
einer Ausbildungsstätte, fehlt es, wenn und solange der Auszubildende von der
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einer Ausbildungsstätte, fehlt es, wenn und solange der Auszubildende von der
Ausbildungsstätte beurlaubt ist (Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 25. 08.
1999, 5 B 153/99, zitiert nach juris). Deshalb steht § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II einem
Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit einer
Beurlaubung nicht entgegen. Dies entsprach für die Anwendung des früheren § 26
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) gefestigter Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Beschluss vom 25. 08. 1999, 5 B 153/99, zitiert nach
juris). Der Senat sieht keine Veranlassung, die Vorschrift des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II,
die nahezu wortlautgleich mit § 26 Abs. 1 Satz 1 BSHG ist, nunmehr verändert
auszulegen.
Der Antragsteller hat auch die Beurlaubungsvoraussetzungen glaubhaft gemacht. Er hat
durch Vorlage von Urkunden belegt, dass er bis zum 31. März 2008 vom Studium
beurlaubt ist. Darüber hinaus hat er auch durch Vorlage von ärztlichen Attesten
glaubhaft machen können, dass die Beurlaubung wegen einer psychischen Erkrankung
erfolgte und insoweit eine Missbrauchsbefürchtung des Antragsgegners nicht
gerechtfertigt ist.
2. Im Übrigen jedoch war die Beschwerde zurückzuweisen. Für die Zeit nach dem 31.
März 2008 fehlt es derzeit an einem Anordnungsanspruch, weil der Antragsteller insoweit
keine Beurlaubung von seinem Studium glaubhaft gemacht hat. Für die Zeit vor der
Beschwerdeentscheidung des Senats (05. Februar 2008) fehlt es hingegen an einem
Anordnungsgrund:
Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschlüsse vom 23. Januar 2008, Az: L
25 B 43/08 AS ER, und vom 16. Januar 2008, Az: L 25 B 2274/07 AS ER) beurteilt sich in
einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung das Vorliegen eines
Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag
entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der
Beschwerdeentscheidung (Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner,
Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO], § 123 Randnummern 165, 166 mit weiteren
Nachweisen zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem
Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten
ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann.
Die rückwirkende Feststellung einer – einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden –
besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht
mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion
des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4
Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten,
in denen eine Entscheidung im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der Hauptsache
zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare
Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der
Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom
22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 – und vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05). Dies
bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und
dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet,
soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen
hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das
Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden
Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.
Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes
nach Artikel 19 Absatz 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme
eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so
insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren
nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache
Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch
eine – stattgebende – Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht
hinreichend rückgängig machen lassen.
Dies zugrunde gelegt, drohen dem Antragsteller keine schweren und unzumutbaren
Nachteile, wenn seinem Begehren auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen für
vergangene Zeiträume nicht sofort entsprochen wird. Weder aufgrund des Vortrags des
Antragstellers noch sonst sind schwerwiegende Nachteile ersichtlich, die ausnahmsweise
in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine Sachprüfung eines Anspruchs
auch für vergangene Zeiträume rechtfertigen könnten.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das wechselseitige
Unterliegen der Beteiligten.
15 Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das
Bundessozialgericht anfechtbar.
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