Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 25.03.2003

LSG Berlin und Brandenburg: ablauf des verfahrens, auflage, soziale sicherheit, protokollierung, anhörung, verantwortlichkeit, drucksache, protokollführung, begründungspflicht, kenntnisnahme

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 25.03.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 6 RA 120/02 RA
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. November 2002 aufgehoben
und dem Sozialgericht aufgegeben, über den Protokollberichtigungsantrag des Klägers neu zu entscheiden. Im
Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Gründe:
Die Beschwerde ist zulässig und zum Teil (im Sinne der Zurückverweisung) begründet.
Die Beschwerde ist statthaft, weil die (ablehnende) Entscheidung über einen Antrag auf Protokollberichtigung eine
Entscheidung des Sozialgerichts (SG) bzw. eine Entscheidung des Vorsitzenden im Sinne des § 172 Abs. 1 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist. Insoweit ist zunächst nicht von Bedeutung, dass der Urkundsbeamte der
Geschäftstelle im Berichtigungsverfahren zu beteiligen ist. Dessen ordnungsgemäße Mitwirkung ist als Erfordernis der
formellen Rechtmäßigkeit des Beschlusses zu prüfen, was die Statthaftigkeit der Beschwerde voraussetzt.
Die Statthaftigkeit der Beschwerde ist nicht durch Vorschriften des SGG ausgeschlossen (§ 172 Abs. 1 letzter
Halbsatz SGG), insbesondere stellt der die Protokollberichtigung ablehnende Beschluss keine allein den äußeren
Ablauf des Verfahrens betreffende prozessleitende Verfügung im Sinne des § 172 Abs. 2 SGG dar.
Gegen die Statthaftigkeit der Beschwerde kann auch nicht eingewandt werden, die Rechtsschutzmöglichkeit gegen
die Ablehnung eines Antrages auf Protokollberichtigung könne nicht weiter gehen, als dies bei einem Antrag auf
Tatbestandsberichtigung der Fall ist, dessen Bescheidung nach § 139 Abs. 2 Satz 2 SGG unanfechtbar ist (so aber
zur Parallelproblematik in der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - Ortloff in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner,
VwGO, Stand: Januar 2002, § 105 Rdnr. 32 und hierauf Bezug nehmend VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom
23. Juli 2002, 8 S 1500/02, veröffentlicht in der Juris Datenbank). Diese Auffassung übersieht, dass § 139 Abs. 2
SGG einschränkend auszulegen ist und auch ein auf einen Tatbestandsberichtigungsantrag ergehender Beschluss
dann als beschwerdefähig angesehen wird, wenn der Antrag als unzulässig abgelehnt wird oder wenn ein schwerer
Verfahrensfehler unterlaufen ist (Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl., § 139 Rdnr. 5 m.w.N.). Darüber hinaus betrifft die
Vorschrift des § 139 Abs. 2 Satz 2 SGG einen anderen Sachverhalt und ist als Ausnahmevorschrift nicht
analogiefähig (vgl. BayVGH, BayVBl. 1999, 86 zu § 119 Abs. 2 Satz 2 VwGO). In diesem Sinne steht auch der
Wortlaut des § 172 Abs. 1 SGG einer Analogie entgegen, der schon wegen des in Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz
verankerten Grundsatzes des Vorranges des Gesetzes nicht ohne zwingenden Grund einschränkend auszulegen ist
(vgl. BayVGH, a.a.O).
Die Beschwerde ist teilweise begründet. Der Beschluss des SG ist verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Er ist
deshalb aufzuheben und das SG hat über den Protokollberichtigungsantrag erneut zu entscheiden. Eine
Entscheidung, ob und ggf. wie die Sitzungsniederschrift zu berichtigen ist, kann hingegen im Beschwerdeverfahren
grundsätzlich nicht getroffen werden, da das Beschwerdegericht die Berichtungsentscheidung inhaltlich nicht
überprüft, das heißt, soweit der Beschwerdeführer zur Begründung seines Antrags geltend macht, Erklärungen in der
mündlichen Verhandlung vor dem SG am 22. Juli 2002 seien nicht so abgegeben worden, wie aus dem Protokoll
ersehbar (bzw. er Zusammenhänge herstellt, die das Protokoll nicht wiedergibt) trifft der Senat keine Entscheidung.
Im Einzelnen gilt folgendes:
Bezüglich inhaltlicher Einwände findet eine Nachprüfung durch den Senat nicht statt, weil die Verantwortlichkeit für
den Protokollinhalt nach §§ 163, 164 Zivilprozessordnung (ZPO), auf die in § 122 SGG Bezug genommen wird,
ausschließlich den dort bestimmten Teilnehmern der Sitzung übertragen ist, mithin dem Richter und ggfs. dem zur
Protokollierung hinzugezogenen Urkundsbeamten. Abgesehen von der mangelnden Praktikabilität einer Entscheidung
durch das Beschwerdegericht, das keinen eigenen unmittelbaren Eindruck vom Ablauf der protokollierten Verhandlung
hat, ist damit die Berichtigung als unvertretbare Verfahrenshandlung in alleiniger gesetzlicher Kompetenz der mit der
Protokollierung befassten Gerichtspersonen gekennzeichnet (Roth in: Stein/Jonas, ZPO, 21. Auflage, § 164 Rdnr. 16;
Peters in: Münch-Komm/ZPO, 2. Auflage, § 164 Rdnr. 11; Zöller/Stöber, ZPO, 22. Auflage, § 164 Rdnr. 11). Damit
werden die Rechtsschutzmöglichkeiten des Klägers auch nicht unzumutbar beeinträchtigt, denn ihm verbleibt die
Möglichkeit, in den von §§ 122 SGG, 165 Satz 2 ZPO gesetzten Grenzen eine Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit
des Protokolls in dem (Hauptsache-) Verfahren zu erreichen, in dem es auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift
ankommt (Roth in: Stein/Jonas, ZPO, 21. Aufl., § 164 Rdnr. 17; OLG Hamm OLGZ 1979, 376, 384).
Die ausschließliche sachliche Verantwortlichkeit des Sozialgerichts für den Protokollinhalt schließt die Überprüfung
des Verfahrens, in dem das SG zu seiner (Nicht-) Berichtigungsentscheidung gelangt ist, nicht aus. Die gemäß § 172
Abs. 1 SGG eröffnete Beschwerde (s.o.) dient vielmehr nach dem aufgezeigten Zusammenhang (nur) der Kontrolle
des Verfahrens. Dies ist auf wesentliche Mängel zu überprüfen (so auch BayVGH NVwZ-RR 2000, 843, 844; Happ in:
Eyermann, VwGO, 11., überarbeitete Auflage, § 146 Rdnr. 8; vgl. auch BayVBl. 1999, 86, 87; LSG Bremen Soziale
Sicherheit 1987, 223; Kopp/Schenke, VwGO, 12. Auflage, § 105 Rdnr. 9; Roth, a.a.O., § 164 Rdnr. 18; Peters, a.a.O.,
Rdnr. 12; Zöller, a.a.O., Rdnr. 11; a.A: BVerwG DÖV 1981, 180; VGH Baden - Württemberg NVwZ-RR 1997, 671,
672; OLG Hamm, a.a.O., 376, 383; Geiger in: Eyermann, a.a.O., § 105 Rdnr. 29; wohl auch Meyer-Ladewig, a.a.O., §
122 Rdnr. 9).
Der angefochtene Beschluss leidet unter zwei wesentlichen Verfahrensmängeln.
Zum einen hat es der Kammervorsitzende versäumt, die Beklagte nach § 122 SGG in Verbindung mit § 164 Abs. 2
ZPO zum Berichtigungsantrag des Klägers zu hören. Die Anhörung bezweckt die Aufklärung des Sachverhalts und ist
daher in jedem Fall zwingend (Zeihe, SGG, 8. Auflage, Anhang 8, § 164 Rdnr. 5a und Reichold in: Thomas/Putzo,
ZPO, 23. neu bearbeitete Auflage,§ 164 Rdnr. 2). Das Erinnerungsbild der Beteiligten kann durchaus geeignet sein, in
Zweifelsfällen das des Richters oder des Urkundsbeamten aufzufrischen oder zu erschüttern (vgl. Begründung zum
Regierungsentwurf des Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren vom 20. Dezember
1974, BT-Drucksache 7/2729, 63).
Zum anderen hat der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle, der nach § 122 SGG in Verbindung mit § 159 Abs. 1 Satz 2
ZPO vom Kammervorsitzenden zur Protokollführung hinzugezogen worden ist, an dem angefochtenen Beschluss
nicht mitgewirkt; denn er hat weder den Beschluss unterschrieben noch ist der Gerichtsakte eine Mitwirkung an der
Entscheidung zu entnehmen. Eine solche Mitwirkung ist aber erforderlich, da die Protokollberichtigung in der Sache
nichts anderes darstellt als eine Fortsetzung der ursprünglichen Protokollierung, mithin müssen sich dieselben
Personen, die für die Richtigkeit des ursprünglichen Protokolls verantwortlich gezeichnet haben (§ 122 SGG in
Verbindung mit § 163 Abs. 1 Satz 1 ZPO) auch im Berichtigungsverfahren Klarheit darüber verschaffen, ob sie das
(ursprüngliche) Protokoll weiterhin als richtig ansehen. Eine Berichtigung der Sitzungsniederschrift bleibt aber auf den
Fall beschränkt, dass Richter und Urkundsbeamter Übereinstimmung über einen bestimmten, von dem protokollierten
abweichenden Sachverhalt erzielen (vgl. OLG Saarbrücken NJW 1972, 61, 62).
Als nicht verfahrensfehlerhaft sieht es der Senat an, wenn der ablehnende Beschluss - so wie hier - allein vom
Kammervorsitzenden unterzeichnet wird (Zöller/Stöber, a.a.O.; so auch Geiger, a.a.O., Rdnr. 28; wohl offen gelassen
von BayVGH BayVBl 1999, 86, 87; a.A.: BayVGH NVwZ-RR 2000, 843, 844; Roth, a.a.O., Rdnr. 18;
Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 59. Auflage, § 164 Rdnr. 12). Bezüglich der Beteiligung des
Urkundsbeamten ist - wie auch bezüglich der Anhörung der Beklagten - ausreichend, wenn sie aus der Verfahrensakte
ersichtlich ist. Sie wird zweckmäßigerweise in einem - nach Kenntnisnahme von der Anhörung - die Willensbildung
des Urkundsbeamten dokumentierenden Vermerk oder in einer dienstlichen Erklärung bestehen. Die
Begründungspflicht (§ 142 Abs. 1 SGG) bezieht sich nach dem bisher Gesagten auf die Voraussetzungen der
Berichtigung, das heißt auf die Frage, ob im Berichtigungsverfahren eine übereinstimmende Willensbildung für eine
bestimmte Änderung stattgefunden hat oder nicht.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).