Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 08.07.2008

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Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 08.07.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 34 AS 20903/07 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 34 B 1331/08 AS ER
Die Beschwerden des Antragstellers vom 17. April 2008 gegen die Beschlüsse des Sozialgerichts Berlin vom 7. März
2008 werden zurückgewiesen. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts für das
Beschwerdeverfahren wird abgelehnt. Die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers sind nicht zu erstatten.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde des Antragstellers vom 17. April 2008 gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom
7. März 2008, mit dem der sinngemäße Antrag,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller ab dem 1. Juli 2007
Leistungen für Unterkunft und Heizung unter Anerkennung der tatsächlichen Aufwendungen zu gewähren,
zurückgewiesen worden ist, hat keinen Erfolg.
Der sechsundvierzig Jahre alte Antragsteller, der für seine 77,66 Quadratmeter große Wohnung monatlich 486,26 EUR
an den Vermieter sowie 111,- EUR an den Gasversorger, insgesamt also 597,26 EUR, entrichten muss, hat einen
Anordnungsanspruch mit der für eine Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit nicht
glaubhaft gemacht (§§ 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG], 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]).
Er kann einen Anordnungsanspruch nicht aus den §§ 7 Abs. 1 Satz 1, 19 Satz 1, 22 Abs. 1 Zweites Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II) herleiten. Nach der zuletzt genannten Vorschrift werden Leistungen für Unterkunft und
Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Soweit die Aufwendungen
für die Unterkunft den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang übersteigen, sind sie als Bedarf des
alleinstehenden Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft so lange zu berücksichtigen, wie es dem
alleinstehenden Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen
Wohnungswechsel oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs
Monate.
Die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sind hier nicht als angemessen anzusehen. Nach Ziffer 4
Abs. 2 der Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung vom 7. Juni 2005 (AV-
Wohnen, abgedruckt im Amtsblatt für Berlin, Jahrgang 2005, S. 3743, 3744) gilt für einen Einpersonenhaushalt eine
Bruttowarmmiete von 360,- EUR als angemessener Richtwert. Dieser Richtwert ist aus den folgenden Gründen
jedenfalls nicht zu gering bemessen:
Zur Feststellung der Angemessenheit der Unterkunftskosten bedarf es zunächst der Feststellung der angemessenen
Wohnungsgröße. Hier ist die für Wohnberechtigte im sozialen Wohnungsbau anerkannte Wohnraumgröße zu Grunde
zu legen, insbesondere die Werte nach dem Gesetz über die soziale Wohnraumförderung (WoFG) in Verbindung mit
den landesrechtlichen Bestimmungen (vgl. Bundessozialgericht, Urteile vom 7. November 2006, B 7b AS 10/06 R,
SozR 4-4200 § 22 Nr. 2; B 7b AS 18/06 R, SozR 4-4200 § 22 Nr. 3). Danach ist in Berlin – in Ermangelung von
Richtlinien zu § 10 WoFG – zum einen an die Bestimmungen zur Vergabe von Wohnberechtigungsscheinen zur
Belegung von nach dem WoFG belegungsgebundenen Wohnungen anzuknüpfen, wie sie sich aus der Mitteilung Nr.
8/2004 vom 15. Dezember 2004 der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ergeben. In Berlin wird die maßgebliche
Wohnungsgröße für den Wohnberechtigungsschein in der Regel nach Raumzahl bestimmt (Ziff. 8 Abs.1 der Mitteilung
Nr. 8/04). Angemessen ist danach grundsätzlich ein Raum für jeden Haushaltsangehörigen, wobei
Zweizimmerwohnungen mit einer Gesamtwohnfläche bis zu fünfzig Quadratmetern auch an Einzelpersonen
überlassen werden dürfen. In Berlin sind wegen fehlender Bestimmungen über den Mietwohnungsbau die Richtlinien
über Förderungssätze für eigengenutztes Wohneigentum der Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Verkehr vom
25. Mai 1999 (Eigentumsförderungssätze 1999, ABl. 1999, S. 2918 ff.) heranzuziehen. Gemäß Abschnitt II Ziffer 4
Abs. 3 der Eigentumsförderungssätze 1999 ist für eine Person eine Wohnfläche von maximal fünfzig Quadratmetern
förderungsfähig. Nach dieser Maßgabe wäre hier eine Wohnungsgröße von bis zu fünfzig Quadratmetern für den
Antragsteller angemessen.
Für die weitere Feststellung des angemessenen Unterkunftsbedarfs sind die Kosten für eine Wohnung, "die nach
Ausstattung, Lage und Bausubstanz einfachen und grundlegenden Bedürfnissen genügt und keinen gehobenen
Wohnstandard aufweist" (BSG, Urteil vom 7. November 2006, B 7b AS 18/06 R, SozR 4-4200 § 22 Nr. 3), zu
ermitteln. Abzustellen ist dabei auf das Produkt aus angemessener Wohnfläche und Standard, welches sich in der
Wohnungsmiete niederschlägt (Produkttheorie). Nach den dem Senat im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur
möglichen eingeschränkten Ermittlungen sind hier die sich aus der Berliner Mietspiegeltabelle 2007 (Amtsblatt Nr. 30
vom 11. Juli 2007, S. 1797) ergebenden durchschnittlichen Mittelwerte für einfache Wohnlagen und Ausstattungen für
Neu- und Altbauten zu Grunde zu legen. Für eine Wohnfläche von vierzig bis unter sechzig Quadratmetern ergibt sich
daraus eine Nettokaltmiete von gerundet 4,54 EUR/m² (3,42 EUR/m² + 4,35 EUR/m² + 3,30 EUR/m² + 4,77 EUR/m²
+ 4,43 EUR/m² + 4,41 EUR/m² + 4,56 EUR/m² + 4,96 EUR/m² + 6,70 EUR/m² = insgesamt 40,90 EUR/m² ÷ 9 =
durchschnittlich 4,54 EUR/m²), also eine monatliche Gesamtnettokaltmiete in Höhe von 227,- EUR (4,54 EUR/m² x 50
m²). Hierzu sind die durchschnittlichen kalten Betriebskosten, die regelmäßig mit dem Mietzins zu entrichten sind, zu
ermitteln. Unter Zugrundelegung der vom Deutschen Mieterbund (DMB) mit dem "Betriebskostenspiegel 2007"
veröffentlichten Angaben (www.mieterbund.de), ergeben sich bei Nichtberücksichtigung der für Heizung und
Warmwasser angegebenen Kosten durchschnittliche Betriebskosten in Höhe von 1,79 EUR/m² (einschließlich Steuern
und Abgaben). Daraus ergeben sich kalte Betriebskosten für eine Wohnung von fünfzig Quadratmetern in Höhe von
87,50 EUR monatlich. Anschließend sind die von dem Antragsgegner nach § 22 SGB II zu leistenden Heizkosten zu
ermitteln. Nach dem Betriebskostenspiegel des DMB sind diese mit 0,85 EUR/m² anzusetzen, so dass sich für eine
Wohnungsgröße von fünfzig Quadratmetern ein Betrag von 42,50 EUR monatlich ergibt. Zusammengerechnet ergibt
dies bei einer Wohnungsgröße von fünfzig Quadratmetern eine angemessene monatliche Bruttowarmmiete in Höhe
von insgesamt 357,00 EUR (227,00 EUR + 87,50 EUR + 42,50 EUR).
Soweit der Antragsgegner im Hinblick auf die Tatsache, dass der Antragsteller seit mehr als fünfzehn Jahren in der
derzeitigen Wohnung lebt, gemäß Ziffer 4 Abs. 5 Buchst. b) AV-Wohnen seit dem 1. Juli 2007 einen Zuschlag von
zehn Prozent gewährt, insgesamt also Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 396,- EUR, kann offen
bleiben, ob dieser Zuschlag auch bei der hier bestehenden fortdauernden Unterdeckung gerechtfertigt ist. Jedenfalls
ist die Anerkennung eines höheren Betrages als 396,- EUR ausgeschlossen. Ein Aufschlag von mehr als zehn
Prozent des jeweiligen Richtwertes scheidet grundsätzlich aus, da der Wohnungsmarkt in Berlin ohnehin eine
ausreichende Anzahl von Wohnungen in dem Preissegment der jeweiligen Richtwerte bereithält.
Der Antragsteller genießt auch keinen dauernden Bestandschutz nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II. Er kann sich
hierbei nicht auf Ziffer 4 Abs. 9 Buchst. a) AV-Wohnen berufen, wonach Maßnahmen zur Kostensenkung bei
Menschen mit schweren Krankheiten oder Behinderungen in der Regel nicht zuzumuten sind. Der Senat geht zwar
unter Berücksichtigung der vom Antragsteller übersandten Stellungnahme des Diplompsychologen S S und der
Diplompsychologin und therapeutischen Psychotherapeutin K H vom 28. Februar 2008 davon aus, dass bei dem
Antragsteller eine psychische Erkrankung in der Form des Asperger-Syndroms vorliegt. Es bestehen jedoch keine
Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller an solchen gesundheitlichen Beeinträchtigungen leidet, die einem
Wohnungswechsel grundsätzlich im Wege stehen könnten. Denn nach der genannten Stellungnahme drückt sich die
Erkrankung des Antragstellers lediglich dadurch aus, dass er einerseits überdurchschnittlich intelligent ist, es ihm
andererseits jedoch an sozialem Einfühlungsvermögen fehlt, was zu Schwierigkeiten im Zusammenleben mit seinem
Umfeld führt, wobei der Antragsteller den Grund dafür nicht bei sich selbst erkennen kann, sondern ihn bei anderen
Menschen sucht. Dagegen werden dort keine Gründe genannt, die einen Umzug unmöglich oder unzumutbar machen.
Vielmehr gehen die Verfasser davon aus, dass Menschen, die vom Asperger-Syndrom betroffen seien, ein
selbstbestimmtes Leben führen könnten. Es sei denkbar, dass der Antragsteller einen Arbeitsplatz als Spezialist für
ein Sachgebiet finden könne, in dem seine Schwierigkeiten nur eine geringe Rolle spielten und seine Fähigkeiten zum
Tragen kämen. Diese Einschätzung wird im Ergebnis auch dadurch gestützt, dass der Antragsteller, der schon seit
Jahren zumindest auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen ist, auch in der Vergangenheit in der Lage war, vom
Sozialhilfeträger und vom Grundsicherungsträger vermittelte gemeinnützige Tätigkeiten auszuführen.
Soweit der Antragsteller sinngemäß darauf abstellt, dass ihm ein Umzug nicht zugemutet werden könne, weil er
wegen seiner Erkrankung auf die Beibehaltung seines sozialen Umfeldes angewiesen sei, so findet auch dieses
Vorbringen in der Stellungnahme keine Stütze. Denn daraus ergibt sich lediglich, dass der Antragsteller mit festen und
klaren Strukturen besser zurechtkomme, was für Menschen mit dem Asperger-Syndrom typisch sei. In diesem
Zusammenhang ist dem Antragsteller auch entgegenzuhalten, dass bisher nichts dafür spricht, dass er sich in seinem
bisherigen Wohnumfeld überhaupt um angemessenen Wohnraum bemüht hat.
Der Antragsteller kann auch nicht geltend machen, dass Maßnahmen zur Senkung der Wohnungskosten nach Ziffer 4
Abs. 9 Buchst. c) AV-Wohnen bei kurzfristigen Hilfen in der Regel nicht verlangt werden können. Soweit der
Antragsteller in diesem Zusammenhang vorbringt, ein Wohnungswechsel sei unwirtschaftlich und deshalb
unverhältnismäßig, weil er innerhalb eines Jahres einen Arbeitsplatz bekommen werde, so ist dem entgegenzuhalten,
dass er seit geraumer Zeit keinen Arbeitsplatz mit bedarfsdeckender Entlohnung gefunden hat, so dass hierfür auch in
Zukunft keine überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht. Ist demnach hier von einer auf unabsehbare Zeit
fortdauernden Abhängigkeit von öffentlichen Zuwendungen auszugehen, so muss ein Wohnungswechsel in
Ermangelung entgegenstehender Anhaltspunkte als wirtschaftlich angesehen werden.
Schließlich ist auch der in der Regel sechs Monate dauernde befristete Bestandsschutz im Sinne des § 22 Abs. 1
Satz 3 SGB II abgelaufen. Der Antragsteller wurde bereits mit Schreiben vom 21. April 2006 und zuletzt mit Schreiben
vom 11. September 2006 unter eingehender Belehrung darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Übernahme der
Unterkunftskosten mit Wirkung ab dem 1. Februar 2007 nur noch in angemessener Höhe erfolgen könne. Bis zu der
tatsächlichen Absenkung der Unterkunftskosten ab dem 1. Juli 2007 sind seit der ersten Kostensenkungsaufforderung
vierzehn Monate vergangen. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dem Antragsteller eine noch längere
Übergangsfrist einzuräumen. Hierbei ist zwar einerseits zu seinen Gunsten die bestehende Erkrankung zu
berücksichtigen. Andererseits spricht aber die deutliche Überschreitung der angemessenen Aufwendungen gegen eine
Verlängerung der Regelfrist. Im Ergebnis ist deshalb jedenfalls die tatsächlich eingeräumte Übergangsfrist als
sachgerecht anzusehen.
Aus den vorstehenden Gründen ist auch die zulässige Beschwerde vom 17. April 2008 gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Berlin vom 7. März 2008, mit dem die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines
Rechtsanwalts versagt worden ist, gemäß §§ 73a Abs. 1 SGG, 114 Abs. 1 ZPO wegen fehlender hinreichender
Erfolgsaussicht zurückzuweisen. Dasselbe gilt für den mit den Beschwerden eingegangenen Antrag auf
Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts für das Beschwerdeverfahren.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers beruht auf der entsprechenden Anwendung
des § 193 SGG und § 73a SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO.
Dieser Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten
werden.