Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 08.11.2006

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Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 08.11.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 51 SO 1849/06 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 15 B 223/06 SO ER
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. September 2006 wird
zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten. Dieser
Beschluss ist unanfechtbar.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Das Sozialgericht hat es zu Recht abgelehnt, den
Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, Kosten in Höhe von 678,60 EUR für die Ausstattung
des der Antragstellerin von der Krankenkasse bewilligten Elektrorollstuhls mit einem sog. Kraftknotensystem zu
übernehmen. Da die Antragstellerin eine Veränderung des bisher "leistungslosen" Zustands erstrebt, kommt
einstweiliger Rechtsschutz nur unter der Voraussetzung des § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in
Betracht. Danach sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Begründet ist der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach dieser Vorschrift, wenn sich bei summarischer Prüfung
mit ausreichender Wahrscheinlichkeit ergibt, dass ein Anspruch nach materiellem Recht besteht (§ 86b Abs. 2 Satz 4
SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 916 Zivilprozessordnung – ZPO -; Anordnungsanspruch) und eine besondere
Eilbedürftigkeit vorliegt (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 917, 918 ZPO; Anordnungsgrund;
zusammenfassend zu den Voraussetzungen Binder in Handkommentar SGG, 2003, § 86 b Randnummer 31 ff.).
Diese Vorrausetzungen liegen hier nicht vor, denn die Antragstellerin hat weder einen Anordnungsanspruch noch einen
Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die von der Antragstellerin begehrte Kostenübernahme für einen "Kraftknoten" (
ein Rollstuhlrückhaltesystem in Kraftfahrzeugen ) setzt unabhängig von der wohl zu bejahenden Frage, ob der
Antragsgegner nach Ablehnung durch die Krankenkasse hierfür grundsätzlich als Kostenträger im Rahmen der
Eingliederungshilfe ( als Leistung zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft nach §§ 53,54 SGB XII i.V.m. § 55
SGB IX) oder der Hilfe zur Pflege ( § 61 SGB XII, vgl. zur Ablehnung der Leistungspflicht der Krankenkasse für
Fahrten zu entfernter praktizierenden Ärzten und Therapeuten Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 19.8.2005 – L 1
KR 42/04 m.w.N., zitiert nach Juris) in Betracht kommt, voraus, dass es sich hierbei um ein notwendiges Zubehör für
einen Rollstuhl handelt, ohne das die Mobilität der Antragstellerin in dem vom Antragsgegner ggf. zu gewährleistenden
Umfang nach den konkreten Umständen des Einzelfalles nicht mehr gegeben wäre. Das hat die Antragstellerin bisher
nicht ansatzweise glaubhaft gemacht. Sie benutzt außerhalb der Wohnung einen von der Krankenkasse zur Verfügung
gestellten Elektrorollstuhl, mit dem sie sich im Nahbereich selbständig fortbewegt. Die von ihr begehrte Ausstattung
des neu bewilligten Rollstuhls mit einem "Kraftknoten", der nach Auffassung der Krankenkasse nicht zu den
Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung gehört, kann unstreitig nur insofern relevant sein, als die
Antragstellerin für längere Fahrten einen Behindertenfahrdienst in Anspruch nehmen will. Ihr Hinweis auf die
Sicherheitsnormen für Behindertentransporte gemäß DIN 75078 – 2 vermögen den von ihr gegenüber dem
Antragsgegner geltend gemachten Anspruch nicht ohne weiteres zu begründen. Danach ist seit dem 1.Oktober 1999
für den Transport von Personen in Rollstühlen in Behindertenkraftwagen die Ausstattung mit einem Personen- und
einem Rollstuhlhaltesystem vorgesehen. Der "Kraftknoten" ist dort definiert als der Punkt, an dem idealerweise die
Rückhaltekräfte des Personenrückhaltesystems und des Rollstuhlhaltesystems zusammengeführt werden, praktisch
ist der "Kraftknoten" ein Gegenstand, der die beiden Sicherungssysteme an der bestgeeigneten Stelle koppelt (vgl
LSG Rheinland-Pfalz a.a.O.). Die Regelungen der DIN stellen jedoch keine unmittelbar verbindlichen
Rechtsvorschriften dar, sondern gewinnen, wie die Antragstellerin selbst zutreffend ausführt, lediglich als Definition
des jeweiligen aktuellen Standes der Technik ggf. Bedeutung bei Haftungsfragen, hier etwa bei Erfüllung der im
Straßenverkehr erforderlichen Sorgfalt. Zwar dürfte es sich bei dem in Rede stehenden "Kraftknoten" als Koppelstück
zweifellos um ein sehr zweckmäßiges Sicherungssystem für den Behindertentransport handeln. Nach den bisherigen
Ermittlungen des Antraggegners entspricht aber auch das Rollstuhl-Haltegurt-System der genannten DIN (vgl. die in
den Akten befindlichen Informationen "Handicap Mobil Produkte", abrufbar unter www.handicapmobil.de/prod09.html).
Dass auch hierbei die Kostenfrage problematisch sein könnte, ist nach Aktenlage nicht ersichtlich. Die Behauptung
der Antragstellerin, dass bei dem ihr nun von der Krankenkasse neu bewilligten Elektrorollstuhl anders als beim
Vorgängermodell das bisher verwendete Rückhaltesystem nicht befestigt werden könne, ist bisher durch nichts
belegt. Dies gilt auch für ihre bloße Mutmaßung, dass sie künftig kein Sonderfahrdienst ohne Ausstattung ihres neuen
Rollstuhls mit einem "Kraftknoten" mehr befördern werde. Insofern besteht noch erheblicher Klärungsbedarf, in dessen
Folge sich dann noch die Frage ergeben kann, ob für die Antragstellerin auch ein anderer neuer Rollstuhl in Betracht
käme, der ohne "Kraftknoten" der genannten DIN entsprechend sicher von einem Sonderfahrdienst befördert werden
kann.
Diesbezügliche Ermittlungen sind aber nicht im vorliegenden Beschwerdeverfahren anzustellen, sondern bleiben dem
noch nicht abgeschlossenen Verwaltungsverfahren vorbehalten. Wie bereits das Sozialgericht zutreffend festgestellt
hat, ist ein Bedürfnis für eine eilige gerichtliche Entscheidung nicht gegeben. Die Antragstellerin ist derzeit noch im
Besitz ihres älteren Elektrorollstuhls, mit dem sie alle erforderlichen Wege im Nahbereich allein zurücklegen kann und
auch unproblematisch vom Sonderfahrdienst befördert wird. Sofern letzteres tatsächlich mit dem neuen Rollstuhl ohne
Ausstattung mit dem hier streitigen "Kraftknoten" nicht möglich sein sollte, ist es der Antragstellerin zuzumuten, den
Austausch der Rollstühle vorerst zurückzustellen. Es ist ihr Risiko, wenn sie vor Feststellung der Notwendigkeit der
Ausstattung des Rollstuhls mit dem "Kraftknoten" dessen Anbringung in Auftrag gegeben haben sollte. Im übrigen ist
aber auch nicht ersichtlich, weshalb sie die von ihr angegebenen "längeren" Wege von ca. 3 bis 4,5 km nicht
jedenfalls vorübergehend ohne Inanspruchnahme des Sonderfahrdienstes mit dem Elektrorollstuhl zurücklegen
könnte, da ein solches – teures – Hilfsmittel (der Kostenanschlag für den neuen Rollstuhl beläuft sich auf über 15.500
EUR ) gerade zur Erschließung eines größeren Mobilitätsbereiches geeignet und bestimmt ist.
Es besteht nach alledem keine Veranlassung, der weiteren Prüfung der Sach- und Rechtslage durch den
Antragsgegner vorzugreifen, zumal nach seiner Mitteilung vom heutigen Tage die gesamte Problematik bei der
Koordinationssitzung der Fallmanager am 15. November 2006 erörtert werden soll.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG.
Die Unanfechtbarkeit dieser Entscheidung folgt aus § 177 SGG.