Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 04.04.2008

LSG Berlin und Brandenburg: betriebskosten, mittelwert, hauptsache, heizung, vermieter, vertretung, mietvertrag, wohnungsmarkt, verfügung, zivilprozessordnung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 04.04.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 124 AS 2202/08 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 32 B 458/08 AS ER
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 7. Februar 2008 wird abgeändert. Der Antragsgegner wird im Wege
einstweiliger Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für April 2008 weitere 62,50 EUR als Kosten der
Unterkunft zu zahlen. Der Antragsgegner hat dem Antragssteller die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des
gesamten Eilverfahrens zu erstatten. Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für beide Instanzen bewilligt und sein
Bevollmächtigter Rechtsanwalt Thöner beigeordnet. Die Beschwerde wird im Übrigen zurückgewiesen.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, hat in der Sache teilweise Erfolg.
Zur Begründung nimmt der Senat zunächst auf die angefochtene Entscheidung des Sozialgerichts Bezug, deren
Gründe insbesondere zur Auslegung des Begehrens, den grundsätzlichen rechtlichen Voraussetzungen für den Erlass
einer einstweiligen Anordnung und den Ausführungen zur Zumutbarkeit eines Umzuges ungeachtet des Alters, der
langen Wohndauer und des Verlustes des nächsten Wohnumfeldes er sich zu Eigen macht (§ 142 Abs. 2 S. 3
Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Der Senat hat jedoch in seinem Beschluss vom 5. September 2007 (L 32 B 1312/07 ASER Juris Rdnr. 12ff) eine
etwas andere, für den Antragsteller im Ergebnis günstigere Berechnung der angemessenen Miete für Eilverfahren
aufgestellt:
Welche Kosten angemessen i. S. von § 22 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) sind, ist nicht in
erster Linie anhand der Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gemäß § 22 SGB
II der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz des Landes Berlin vom 07. Juni 2005 (ABl.
3743), zuletzt geändert mit Verwaltungsvorschriften vom 30. Mai 2006 (ABl. 2062; im Folgenden: AV Wohnen) zu
bestimmen. Die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Angemessenheit obliegt im Streitfalle vielmehr den
Gerichten; eine Rechtsverordnung zur näheren Bestimmung der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und
Heizung ist bisher nicht ergangen. Die Prüfung der Angemessenheit setzt nach der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (BSG; u. a. Urteil vom 07. November 2006 - B 7b AS 10/06 R, zitiert nach
www.bundessozialgericht.de RdNr 24) eine Einzelfallprüfung voraus. Dabei ist zunächst die maßgebliche Größe der
Unterkunft zu bestimmen, und zwar typisierend (mit der Möglichkeit von Ausnahmen) anhand der landesrechtlichen
Ausführungsbestimmungen über die Förderung des sozialen Mietwohnungsbaus (so wörtlich bereits LSG Berlin-
Brandenburg, B. v. 14. 06.07 -L 10 B 391/07 ASER, zitiert nach www.sozialgerichtsbarkeit.de; Beschluss des Senats
vom 10. Juli 2007 -Az. L 32 B 823/07 ASER-).
In B erscheint für eine aus einer Person bestehende Bedarfsgemeinschaft eine Ein- bis Zweizimmerwohnung (vgl.
Ziff. 8 Abs. 1 der zur Umsetzung von § 5 Wohnungsbindungsgesetz (WobindG) i.V.m. § 27 Abs. 1 bis 5
Wohnraumförderungsgesetz (WoFG) erlassenen Arbeitshinweise der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung vom 15.
Dezember 2004 [Mitteilung Nr. 8/2004]) mit einer Größe bis zu 45 m² (Einzimmerwohnung) bzw. 50 m²
(Zweizimmerwohnung) als abstrakt angemessen (Abschnitt II Ziff. 1 Buchst a und c der Anlage 1 der Richtlinien für
den öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau in B) (=Wohnungsbauförderungsbestimmungen 1990 vom 16. Juli
1990 [ABl 1990, 1379 ff] i.d.F. der Verwaltungsvorschriften zur Änderung der WFB 1990 vom 13. Dezember 1992 [ABl
1993, 98 f]). Sodann ist der Wohnstandard festzustellen, wobei dem Hilfebedürftigen lediglich ein einfacher und im
unteren Segment liegender Ausstattungsgrad der Wohnung zusteht. Letztlich kommt es darauf an, dass das Produkt
aus Wohnfläche und dem diesem Standard entsprechenden m²-Preis, das sich in der Wohnungsmiete niederschlägt,
der Angemessenheit entspricht (so genannte Produkttheorie). Dabei ist der räumliche Vergleichsmaßstab für den
Mietwohnungsstandard so zu wählen, dass dem grundsätzlich zu respektierenden Recht des Leistungsempfängers
auf Verbleib in seinem sozialen Umfeld ausreichend Rechnung getragen wird (so wiederum zutreffend weitgehend
wörtlich LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 14. 06.07 -L 10 B 391/07 ASER, zitiert nach www.sozialgerichtsbarkeit.de;
Beschluss des Senats vom 10. Juli 2007 -Az. L 32 B 823/07 ASER-). Zur Bestimmung des angemessenen
Mietzinses stützt sich der Senat für die anzustellende Berechnung nunmehr auf den örtlichen, gemäß §§ 558c und
558d Bürgerliches Gesetzbuch qualifizierten, Mietspiegel des Landes B vom 11. Juli 2007 (ABl 1797). Aus
(vorläufiger) Sicht des Senates ist dabei der günstigste Spannenhöchstbetrag innerhalb der verschiedenen
Baujahrsklasse für Wohnungen mit Bad und WC zugrundezulegen. Zumutbar erscheint nämlich abstrakt-generell jede
Wohnung mit üblichem Standard, unabhängig vom Baujahr. Die Angemessenheit kann sich aber nur auf real
anmietbare Wohnungen beziehen, in die der Antragsteller umziehen könnte. Deshalb ist ein gewisser Puffer zu den
abstrakt-generell absolut günstigsten Mietwerten des Mietspiegels geboten, auch weil dessen Stichtag bereits wieder
knapp ein Jahr zurückliegt (1. Oktober 2006). Bei der Ermittlung dieses Wertes sind auch die Betriebskosten
einzubeziehen. Nach Auffassung des Senats sind in Eilverfahren und im vorläufigen Rechtsschutz die Werte der
Anlage I zum Mietspiegel mangels besserer Zahlen heranzuziehen, auch wenn diese nicht amtlich sind. Der neue
Mietspiegel enthält hierzu neben einem Mittelwert auch einen 4/5 Spannen-Oberwert. Letzterer ist -jedenfalls in
vorläufigen Rechtsschutzverfahren- zugrunde zu legen, damit auch insoweit von tatsächlich realistischen
Kostenansätzen für anzumietende Wohnungen ausgegangen werden kann. Angeführt im Mietspiegel sind nämlich nur
die Betriebskosten des Jahres 2005. Konkret ist hier ein Wert von 4,71 EUR (Baujahre 1965-72, einfache Wohnlage,
40 m² bis unter 60 m²) + 2,59 EUR kalte Betriebs- sowie 1,15 EUR Heizkosten pro m² anzusetzen. Hieran hält der
Senat fest: Als angemessen kann nur die Miete derjenigen Wohnungen herangezogen werden, für welche der konkrete
Antragsteller wirklich einen Mietvertrag abschließen könnte. Je unattraktiver ein Antragsteller als potentieller Mieter für
Vermieter ist, desto schwieriger wird die konkrete Wohnungssuche sein bzw. umso unattraktiver (zum Beispiel
preislich) wird die konkret anmietbare Wohnung sein. In den Mietspiegel fließen demgegenüber auch attraktive oder
jedenfalls nicht erst neu vermietete Wohnungen ein, welche also nicht auf dem freien Wohnungsmarkt angeboten
werden. Auch beruht der Mietspiegel auf dem Stichtag 1. Oktober 2006 (vgl. Berliner Mietspiegel 2007,
Grundlagendaten für den empirischen Mietspiegel Endbericht, S.1 sowie S. 6ff zur Grundgesamtheit).
Mietniveausteigerungen seither sind also gar nicht berücksichtigt. Der Senat hält deshalb nach wie vor die
Zugrundelegung des Spannenoberwertes statt des Mittelwertes für die Kaltmiete geboten, um sicher genug
schlussfolgern zu können, dass eine solche Wohnung für den Antragsteller zur Verfügung stünde (vgl. zum
Erfordernis der konkreten Ermittlung Bundessozialgericht [BSG] U. v. 7.11.2006 –B 7b 18/06- SozR 4 -4200 § 22 Nr.
3 Rdnr. 23). Der Senat hält auch weiterhin zur schätzweisen Ermittlung der Betriebskosten die Zugrundelegung des
4/5 Spannenwert der Anlage I zum Mietspiegel für geboten. Zwar ergibt sich aus dem Betriebskostenspiegel des
Deutschen Mieterbundes für 2007 ein Mittelwert von 2,13 EUR/qm für Betriebskosten einschließlich Heizung, also
deutlich weniger. Maßgeblich kann aber aus vorgenanntem Grund (Unangemessenheit der jetzigen Miete nur soweit
die konkrete zumutbare Alternative günstiger wäre) nicht ein bundesdeutscher Mittelwert sein, sondern die zu
schätzenden Betriebskosten für die mutmaßlich konkret anmietbare Wohnung (a. A. 14. Senat, B. v. 20.11.2007 - L
14 B 1650/07 AS ER - Juris Rdnr. 6). Zudem ist allgemein bekannt, dass aktuell die Heizkosten extrem gestiegen
sind. Dass in diesem Wert auch geringe Beträge für Warmwasserbereitung enthalten sind, kann im Eilverfahren außer
Betracht bleiben.
Somit ergibt sich hier nach der gebotenen summarischen Prüfung eine angemessene Bruttowarmmiete von 8,45 EUR
pro Quadratmeter, bei 50 m² also 422,50 EUR, d. h. 62,50 EUR mehr pro Monat. Der Antrag hat der Sache nach in
dieser Höhe Erfolg. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige
Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierbei dürfen Entscheidungen grundsätzlich
sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache
gestützt werden. Drohen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht
abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dürfen sich die
Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem
Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand
einer Folgenabwägung zu entscheiden (ständige Rechtsprechung des Senats, siehe auch Bundesverfassungsgericht,
Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 596/05 -). Art. 19 Abs. 4 GG stellt nämlich insbesondere dann besondere
Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn das einstweilige Verfahren vollständig die Bedeutung
des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines
Beteiligten droht, wie dies im Streit um laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose regelmäßig der Fall
ist. Ganz allgemein ist ein Zuwarten umso eher unzumutbar, je größer die Erfolgschancen in der Sache einzuschätzen
sind (ständige Rechtsprechung des Senats (vgl. z. B. B. v. 3. 07. 2007 -L 32 B 723/07 ASER-; v. 5.09.2007 -L 32 AS
1423/07 ASER-). Die Chancen jedenfalls eines Teilerfolges sind hier auch im Hauptsacheverfahren groß.
Der Betrag ist aber nur für den laufenden Monat ab dem Zeitpunkt dieses Beschlusses zu gewähren, da nur für die
Befriedigung des gegenwärtigen und zukünftigen Bedarfes die besondere Dringlichkeit einer vorläufigen Entscheidung
gegeben ist. Für eine rückwirkende Gewährung für die Zeit vor dem jetzt laufenden Monat fehlt es an einer
entsprechenden Begründung. Der Anspruch ist auf den aktuellen Bewilligungszeitraum, das heißt bis zum 30. April
2008, zu begrenzen (§ 41 Abs. 1 S. 4 SGB II).
Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 193 SGG. Soweit der Antragsteller zum Teil nur
wegen des Zeitablaufes unterliegt, wäre es unbillig, dem Antragsgegner nicht die Kostentragungslast aufzuerlegen.
Dem Antragsteller ist Prozesskostenhilfe nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit §§
114 Satz 1, 115, 119 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) zu gewähren, weil der Antrag und die Beschwerde
hinreichende Aussicht auf Erfolg haben und nicht mutwillig erscheinen. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht
dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der
Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des jeweiligen Hauptsacheverfahrens treten zu lassen.
Erfolgsaussichten fehlen daher nur dann, wenn der Antrag völlig aussichtslos ist oder ein Erfolg in der Sache zwar
nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine Entfernte ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Juli
2005 -1 BvR 175/05- NJW 2005, 3849 mit Bezug u. a. auf BVerfGE 81, 347, 357f). Die Erfolgschancen für einen
vollen Erfolg wegen der Unzumutbarkeit eines Umzuges sind hier nicht nur ganz entfernt liegend. Die Vertretung durch
einen Rechtsanwalt erscheint erforderlich, § 121 Abs. 2 ZPO.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).