Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 28.11.2005

LSG Berlin und Brandenburg: aufschiebende wirkung, anfechtungsklage, klagebegehren, widerspruchsverfahren, einheit, interessenabwägung, rechtsschutz, verweigerung, vollziehung, verwaltungsakt

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 28.11.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 95 AS 10055/05 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 10 B 1293/05 AS ER
Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 2. November 2005 teilweise aufgehoben. Die
aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Bescheide vom 16. August 2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 4. Oktober 2005 wird angeordnet, soweit darin die Aufhebung der Bewilligung von
Arbeitslosengeld II i.H.v. 635,81 Euro auf 531,81 Euro für den Monat November 2005 verfügt worden ist.
Der Antragsgegner hat ein Drittel der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu tragen.
Tatbestand:
Der Antragsteller wendet sich gegen die Kürzung der ihm bewilligten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) wegen Nichtunterzeichnung einer Eingliederungsvereinbarung.
Auf den Antrag des Antragstellers bewilligte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 28. Oktober 2004 für den
Leistungszeitraum vom 1. Januar bis 30. Juni 2005 monatlich zustehende Leistungen i.H.v. 628,75 Euro. Mit
Bescheid vom 30. Juni 2005 wurde der Bewilligungszeitraum bis 30. November 2005 verlängert.
Bei einer Vorsprache am 2. August 2005 unterzeichnete der Antragsteller die ihm unterbreitete
Eingliederungsvereinbarung nicht und bat um Bedenkzeit. Da der Antragsteller zu dem nächsten anberaumten Termin
am 4. August 2005 nicht erschien, erließ die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 4. August 2005 eine
Eingliederungsvereinbarung gemäß § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II. Mit Bescheid vom 16. August 2005 wurde der dem
Antragsteller zustehende Anteil des Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. September 2005 bis 30. November 2005
um 30 vom Hundert der Regelleistung höchstens jedoch in Höhe des dem Antragsteller zustehenden
Auszahlungsbetrages abgesenkt. Daraus ergebe sich eine maximale Absenkung in monatlicher Höhe von 104,00
Euro. Der ursprüngliche Bewilligungsbescheid werde insoweit ab dem 1. September 2005 aufgehoben. Mit Bescheid
vom gleichen Tag wurde für die Zeit vom 1. Juni 2005 bis 31. August 2005 die monatlich zustehende Leistung auf
635,81 Euro und für die Zeit vom 1. September 2005 bis 30. November 2005 auf 531,81 Euro festgesetzt.
Gegen die zuletzt genannten Bescheide legte der Antragsteller am 22. August 2005 Widerspruch ein. Er sei auf
Einladung der Antragsgegnerin am 2. August 2005 vorstellig geworden. Er habe erklärt, dass er die ihm zur
Unterschrift vorgelegte Eingliederungsvereinbarung erst zu Hause durchlesen müsse und am darauf folgenden
Donnerstag in acht Tagen wieder erscheinen werde.
Mit Bescheid vom 16. September 2005 wurde dem Antragsteller für den Zeitraum vom 1. September 2005 bis 30.
November 2005 eine monatliche Leistung i.H.v. 635,81 Euro bewilligt "im Hinblick auf die aufschiebende Wirkung
seines Widerspruches gegen den Bescheid vom 16. August 2005". Für die Monate September und Oktober 2005
erfolgte tatsächlich eine ungekürzte Auszahlung.
Mit Bescheid vom 4. Oktober 2005 wurde der Widerspruch des Antragstellers zurückgewiesen. Die Kürzung der
Regelleistung um 30 v.H. sei rechtmäßig. Der Antragsteller habe trotz Belehrung über die Rechtsfolgen die ihm
angebotene Eingliederungsvereinbarung nicht unterzeichnet und auch keinen wichtigen Grund für sein Verhalten
dargetan.
Am 12. Oktober hat der Antragsteller Klage gegen den Bescheid vom 4. August 2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 2005 und in einem weiteren Verfahren Klage gegen "den Bescheid vom 16.
August 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Oktober 2005" erhoben, über die noch nicht
entschieden wurde.
Am 21. Oktober 2005 hat der Antragsteller einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, mit dem
Antrag, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts ohne Kürzung für die Monate September bis November 2005 zu gewähren. Mit Beschluss vom 2.
November 2005 hat das Sozialgericht Berlin den Antrag zurückgewiesen. Mit der am 9. November 2005 erhobenen
Beschwerde begehrt der Antragsteller ungekürzte Leistungen für den Monat November.
Der Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin hat vorgelegen und war Gegenstand der Beratung und Entscheidung
Entscheidungsgründe:
Das Passivrubrum war von Amts wegen zu berichtigen, da die Arbeitsgemeinschaft des Landes Berlin und der
Bundesagentur für Arbeit für den örtlichen Bereich des Verwaltungsbezirks Friedrichshain – Kreuzberg, bezeichnet als
JobCenter Friedrichshain – Kreuzberg, vertreten durch den Geschäftsführer, nach Auffassung des Senats im Sinne
des § 70 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beteiligtenfähig ist (Beschluss des Senats vom 14. Juni 2005, als vormals
10. Senat des Landessozialgerichts Berlin, L 10 B 44/05 AS ER).
Die fristgerecht erhobene Beschwerde ist begründet. Der sachdienlich als Antrag nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
Sozialgerichtsgesetz (SGG) auszulegende Antrag hat Erfolg. Nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht auf
Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die
aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Gemäß § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG entfällt die aufschiebende
Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage in den durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Gemäß § 39
SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung. Die vom Antragsteller mit der Klage
angegriffenen Bescheide vom 16. August 2005, bilden eine rechtliche Einheit (vgl. BSG SozR 3-4100 § 119 Rn. 17
und zuletzt BSG, Urteile vom 25. Mai 2005, B 11a/11 AL 81/04, B 11a/11 AL 47/04 R), soweit darin eine Bewilligung
von Arbeitslosengeld II für die Monate September bis November 2005 der Höhe nach abgesenkt worden ist. Dem
steht nicht entgegen, dass sich der Kläger im Widerspruchsverfahren und mit seiner Klage ausdrücklich nur gegen
den Bescheid vom 16. August 2005 gewandt hat, in dem die ihm in den Monaten September bis November 2005
zustehenden Leistungen beziffert worden sind. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Antragsteller auch den
weiteren Bescheid vom 16. August 2005 angreifen wollte, mit dem der maximale Minderungsbetrag für die nämlichen
Monate geregelt wurde. So ist das Widerspruchsbegehren von der Antragsgegnerin auch verstanden worden, die mit
Bescheid vom 4. Oktober 2005 die Widersprüche "gegen die Bescheide vom 16. August 2005" zurückgewiesen hat.
Die beiden Bescheide vom 16. August 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Oktober 2005 stellen
belastende Verwaltungsakte dar, die in den Bestand des Bewilligungsbescheides vom 30. Juni 2005 für den
Bewilligungszeitraum bis 30. November 2005 eingreifen. Das Klagebegehren des Antragstellers ist daher als
Anfechtungsbegehren zu verstehen.
Bei der hier gebotenen Interessenabwägung ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Rechtsschutz zu
gewähren. Das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage für den in der
Beschwerde genannten Zeitraum überwiegt hier das öffentliche Interesse an der alsbaldigen Vollziehung des
Bescheides. Nach vorläufiger Prüfung der Rechtslage haben sich ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
Kürzungsbescheides ergeben.
Nach § 31 Abs. 1 Nr. 1a SGB II ist die für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20 maßgebende Regelleistung
um 30 v.H. abzusenken, wenn er sich trotz einer Belehrung über die Rechtsfolgen weigert, eine ihm angebotene
Eingliederungsvereinbarung abzuschließen. Vorliegend bestehen ernstliche Zweifel, ob eine endgültige Verweigerung
des Antragstellers angenommen werden kann. Auch die Antragsgegnerin geht nicht davon aus, dass sich der
Antragsteller bereits am 2. August 2005 endgültig geweigert habe, die Eingliederungsvereinbarung zu unterschreiben.
Allein aus dem Umstand des Nichterscheinens am 4. August 2005 kann auf eine endgültige Weigerung nicht
geschlossen werden. Der Antragsteller hat in seinem Widerspuch angegeben, dass er erklärt habe, nach acht Tagen
wieder zu erscheinen. Von einer Weigerung kann daher ohne eine weitere Aufklärung im Klageverfahren nicht
ausgegangen werden. Die angeordnete Kürzung kann auch nicht in Teilen als Folge eines Meldeversäumnis nach § 31
Abs. 2 SGB II angesehen werden, da die tatbestandlichen Voraussetzungen (schriftliche Belehrung) nach Aktenlage
nicht vorliegen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG analog. Dabei war zu berücksichtigen, dass der Antragsteller
seine Beschwerde auf den Monat November und damit auf ein Drittel des Kürzungszeitraumes beschränkt hat und er
nur in diesem Umfang obsiegt hat.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar, § 177 SGG.