Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 01.06.2010

LSG Berlin und Brandenburg: erwerbsfähigkeit, altersrente, gebot der erforderlichkeit, minderung, abschlag, anpassung, vergleich, eingriff, altersgrenze, anwartschaft

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 01.06.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt (Oder) S 19 R 443/08
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 22 R 1157/09
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 27. Oktober 2009 wird
zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens nicht zu
erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
I.
Die Klägerin begehrt von der Beklagten höhere Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ohne Minderung des
Zugangsfaktors.
Der im Oktober 1955 geborenen Klägerin bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 18. Oktober 2005 Rente wegen
teilweiser Erwerbsminderung ab 01. April 2005 nach einem am 04. März 2005 eingetretenen Leistungsfall mit 19,7962
persönlichen Entgeltpunkten, die sie unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 0,892 ermittelte. Sie
verminderte den Zugangsfaktor von 1,0 für jeden Kalendermonat nach dem 31. Oktober 2015 (dem Kalendermonat
nach Vollendung des 60. Lebensjahres) bis zum Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres um
0,003, also für 36 Kalendermonate um insgesamt 0,108, auf 0,892 und vervielfältigte damit den Teil der Summe aller
aus rentenrechtlichen Zeiten ermittelten Entgeltpunkte (44,3862) von 22,1931 Punkte, die daraus resultierten, dass
diese Rente in Höhe der Hälfte geleistet wird.
Den im November 2006 unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. Mai 2006 - B 4 RA
22/05 R - gestellten Antrag auf Überprüfung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. März 2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 11. Juni 2007 ab.
Die dagegen am 09. Juli 2007 beim Sozialgericht Frankfurt (Oder) erhobene Klage hat das Sozialgericht mit Urteil vom
27. Oktober 2009 abgewiesen: Es hat sich der Auffassung des BSG in den Urteilen vom 25. November 2008 - B 5 R
112/08 R und vom 14. August 2008 - u. a. B 5 R 32/07 R angeschlossen. Mit diesen Entscheidungen sei das BSG
der anders lautenden, bereits vor den Entscheidungen des BSG vom 14. August 2008 von den Instanzgerichten der
Sozialgerichtsbarkeit überwiegend abgelehnten Auffassung des ehemaligen 4. Senats des BSG, auf die sich die
Klägerin berufe, ausdrücklich nicht gefolgt, da diese Auffassung sich mit dem Sinn des § 77 Abs. 2 Satz 2
Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) ebenso wenig vereinbaren lasse wie mit der Gesetzessystematik.
Gegen das ihr am 03. November 2009 zugestellte Urteil richtet sich die am 11. November 2009 eingelegte Berufung
der Klägerin.
Sie hält die Entscheidung des BSG vom 16. Mai 2006 - B 4 RA 22/05 R für zutreffend. Die Beklagte dürfe dieses
Urteil nicht als Einzelfall werten und auf eine anders lautende Rechtsprechung warten. Ihre Berufung sei wie zum
Zeitpunkt der Gesetzgebung ihrer Klageerhebung zu behandeln. In § 77 SGB VI stehe nun: Die Zeit des Bezugs einer
Rente vor Vollendung des 62. Lebensjahres des Versicherten gilt nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 27. Oktober 2009 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des
Bescheides vom 27. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juni 2007 zu verpflichten, den
Bescheid vom 18. Oktober 2005 zurückzunehmen und der Klägerin Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung unter
Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 ab 01. April 2005 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die von ihr vertretene, von dem Urteil des BSG vom 16. Mai
2006 - B 4 RA 22/05 R abweichende Rechtsauffassung sei zwischenzeitlich einheitliche Rechtsauffassung aller am
BSG für Rentenangelegenheiten zuständigen Senate.
Den Beteiligten ist mit Verfügung vom 21. April 2010 mitgeteilt worden, dass eine Entscheidung nach § 153 Abs. 4
Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Betracht kommt; ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 17. Mai 2010
gegeben worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf
den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten (), die bei der Entscheidung
vorgelegen haben, verwiesen.
II.
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Da der Senat die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung - insbesondere im Hinblick
darauf, dass die Beteiligten bereits ausführlich ihre Argumente vorgebracht haben - nicht für erforderlich hält, hat er
nach deren Anhörung von der durch § 153 Abs. 4 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, durch Beschluss
zu entscheiden.
Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 27. März 2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 11. Juni 2007 ist rechtmäßig, denn der Bescheid vom 18. Oktober 2005 ist nicht
zurückzunehmen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung unter
Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 1,0.
Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X gilt: Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das
Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und
soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der
Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Bescheid vom 18. Oktober 2005 ist rechtmäßig.
Nach § 64 SGB VI ergibt sich der Monatsbetrag der Rente, wenn die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors
ermittelten persönlichen Entgeltpunkte, der Rentenartfaktor und der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei
Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden. Der Monatsbetrag einer nur teilweise zu leistenden Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit wird aus dem Teil der Summe aller Entgeltpunkte ermittelt, der dem Anteil der teilweise
zu leistenden Rente an der jeweiligen Rente in voller Höhe entspricht (§ 66 Abs. 4 SGB VI).
Die Ermittlung des Zugangsfaktors ist in § 77 SGB VI geregelt. Maßgebend ist vorliegend § 77 SGB VI in der
Fassung des Art. 1 Nr. 16 des Gesetzes vom 21. Juli 2004 (BGBl I 2004, 1791), die ab dem 01. August 2004 bis zum
31. Dezember 2007 und damit bei Beginn der der Klägerin bewilligten Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab
01. April 2005 galt. Dies folgt nicht nur aus § 64 SGB VI, der auf den Zeitpunkt des Rentenbeginns abstellt, sondern
auch aus § 300 Abs. 2 SGB VI, wonach aufgehobene Vorschriften dieses Gesetzbuches und durch dieses
Gesetzbuch ersetzte Vorschriften auch nach dem Zeitpunkt ihrer Aufhebung noch auf den bis dahin bestehenden
Anspruch anzuwenden sind, wenn der Anspruch bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach der Aufhebung
geltend gemacht wird. Der Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung wurde von der Klägerin vor Ablauf
des 31. Dezember 2007 geltend gemacht.
Nach § 77 Abs. 1 SGB VI richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder bei
Tod und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrages der Rente als
persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind. Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder eine
Erziehungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres oder ist bei Hinterbliebenenrenten der Versicherte vor
Vollendung des 60. Lebensjahres verstorben, ist die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des
Zugangsfaktors maßgebend (§ 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Der Zugangsfaktor ist für Entgeltpunkte, die noch nicht
Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und
bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des
63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0 (§ 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI).
Diesen Vorschriften entsprechend hat die Beklagte den Zugangsfaktor von 1,0 um 0,108 auf 0,892 vermindert und
damit die ermittelten 22,1931 persönlichen Entgeltpunkte für die zur Hälfte zu leistenden Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung vervielfältigt, woraus die zugrunde zu legenden 19,7962 persönlichen Entgeltpunkte resultieren.
Die von der Klägerin angeführte Fassung des § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI, die durch das
Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007 (BGBl I 2007, 554) zum 01. Januar 2008 geschaffen worden ist
und mit der Anhebung der Altersgrenzen und der möglichen vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrenten (vgl. §§
236, 236a, 237, 237a SGB VI) im Zusammenhang, ist nicht anzuwenden. Ebenso wie diese erfolgt auch die
Anhebung des maßgebenden Alters für die Bestimmung des Zugangsfaktors schrittweise. Diese schrittweise
Anhebung setzt allerdings erst 2012 ein. Dies ergibt sich aus § 264 c Satz 1 SGB VI in Verbindung mit der dortigen
Tabelle. Diese Vorschrift bestimmt: Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 01. Januar 2024
oder ist bei einer Rente wegen Todes der Versicherte vor dem 01. Januar 2024 verstorben, ist bei der Ermittlung des
Zugangsfaktors anstelle der Vollendung des 65. Lebensjahres und des 62. Lebensjahres jeweils das in der
nachfolgenden Tabelle aufgeführte Lebensalter maßgebend. Nach dieser Tabelle verbleibt es bei Beginn der Rente vor
2012 beim 63. Lebensjahr anstelle des 65. Lebensjahres und beim 60. Lebensjahr anstelle des 62. Lebensjahres. Die
von der Klägerin genannte Fassung des § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist wegen der Übergangsvorschrift des § 264 c
Satz 1 SGB VI somit für Renten mit einem Rentenbeginn vor 2012, also auch zu dem von ihr angesprochenen
Zeitpunkt der Gesetzgebung ihrer Klageerhebung, noch nicht einschlägig.
Das BSG hat im grundlegenden Urteil vom 14. August 2008 – B 5 R 32/07 R (vgl. auch die weiteren Urteile vom
selben Tag B 5 R 88/07 R, B 5 R 140/07 R und B 5 R 98/07 R) zu § 77 SGB VI wie folgt ausgeführt:
"Im Ergebnis ist der Zugangsfaktor bei Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor
Vollendung des 60. Lebensjahres um maximal 0,108 zu mindern und somit auf mindestens 0,892 festzulegen. Dafür
sprechen Wortlaut und systematische Stellung des § 77 SGB VI wie auch Sinn und Zweck, systematischer
Gesamtzusammenhang und Entstehungsgeschichte der Norm.
Indem die Grundregel des § 77 Abs. 1 SGB VI für die Rentenberechnung zum einen das Alter des Versicherten bei
Rentenbeginn oder Tod für maßgebend erklärt und zum anderen das rechnerische Verhältnis zwischen EP und
persönlichen EP festlegt, bringt das Gesetz zum Ausdruck, dass der Zugangsfaktor und somit die nach § 77 Abs. 2,
3 SGB VI zu ermittelnden "Abschläge" oder "Zuschläge" für die gesamte Dauer des ununterbrochenen Rentenbezugs
gelten sollen. Falls dieselben EP einer weiteren Rente zu Grunde zu legen sind, ist durch § 77 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz
1 SGB VI eine erneute Ermittlung des Zugangsfaktors grundsätzlich ausgeschlossen.
§ 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI bestimmt die Höhe des Zugangsfaktors für Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit. Danach sinkt der Zugangsfaktor von 1,0 um 0,003 für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor
Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird. Ein Rentenbeginn
nach dem 63. Lebensjahr hat somit keine Absenkung des Zugangsfaktors zur Folge. Ein sehr früher Rentenbeginn
würde demgegenüber bei isolierter Anwendung des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI zu einer Absenkung des
Zugangsfaktors auf null führen. Zur Vermeidung dieses Ergebnisses ergänzt § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI die genannte
Vorschrift dahingehend, dass die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors
maßgebend sein soll, wenn eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder eine Erziehungsrente bereits vor der
Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt. Bei jüngeren erwerbsgeminderten Versicherten wird hinsichtlich des
Zugangsfaktors so getan, als habe der Versicherte das 60. Lebensjahr bereits vollendet. Entgegen der Grundregel des
§ 77 Abs. 1 SGB VI, wonach sich der Zugangsfaktor nach dem (tatsächlichen) Alter des Versicherten bei
Rentenbeginn bestimmt, ordnet das Gesetz eine Rentenberechnung unter der (fiktiven) Annahme an, der Versicherte
habe das 60. Lebensjahr bereits vollendet, um auf diese Weise die Minderung des Zugangsfaktors entsprechend der
36 Monate zwischen dem vollendeten 60. und dem vollendeten 63. Lebensjahr auf maximal 36 x 0,003 = 0,108 zu
begrenzen Eine zusätzliche Herabsetzung des Zugangsfaktors mit Rücksicht auf eine tatsächliche Inanspruchnahme
der Erwerbsminderungsrente vor der Vollendung des 60. Lebensjahres ist ausgeschlossen. Dass es bei der
Bezugnahme auf das 60. Lebensjahr des Versicherten um eine Fiktion für die Bestimmung des Zugangsfaktors und
nicht etwa um die Festlegung des Beginns der Rentenminderung geht, wird insbesondere daran deutlich, dass
dieselbe Vorschrift auch bei der Hinterbliebenenrente auf die Vollendung des 60. Lebensjahres abstellt, um die Höhe
des Zugangsfaktors zu bestimmen. Andernfalls müsste dem Gesetz unterstellt werden, es wolle die Rentenhöhe für
den Zeitraum regeln, nachdem der verstorbene Versicherte das genannte Lebensalter erreicht haben würde.
§ 77 Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB VI dient für die aktuell zu berechnende Rente ausschließlich der Bestimmung eines
einheitlichen Zugangsfaktors für die gesamte Zeit des Rentenbezugs und nicht etwa eines variablen Zugangsfaktors
in Abhängigkeit von verschiedenen Bezugszeiträumen. Das auf einer möglichen "Vorzeitigkeit" der Rente wegen
Erwerbsminderung beruhende gegenteilige Konzept des 4. Senats des BSG findet im Gesetz keine Stütze. Eine
"vorzeitige" Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung im Sinne einer freien Entscheidung des
Versicherten, vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden zu wollen, ist nicht möglich, da der Leistungsfall (Eintritt
der Erwerbsminderung) in der Regel unabhängig vom Willen des Versicherten eintritt. Streng genommen kann somit in
Bezug auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht von einer vorzeitigen, sondern allenfalls von einer
früheren oder späteren Inanspruchnahme gesprochen werden. Dessen war sich der Gesetzgeber auch bewusst, wie
nicht nur die Auseinandersetzung im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung zeigt, sondern auch im Wortlaut des §
77 Abs. 2 Satz 1 SGB VI zum Ausdruck kommt. Denn das Gesetz spricht von einer "vorzeitigen" Inanspruchnahme
nur in Satz 1 Nr 2a, der sich ausschließlich auf Renten wegen Alters vor Vollendung des 65. Lebensjahres bezieht.
Mit der Einführung des abgesenkten Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die vor
Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen werden, durch das RRErwerbG vom 20.12.2000 wurde der
Begriff der "Vorzeitigkeit" auch in § 63 Abs. 5 SGB VI gestrichen. Während vor dem 1.1.2001 eine Bezugnahme auf
die "vorzeitige Inanspruchnahme " enthalten war, heißt es jetzt nur noch: "Vorteile und Nachteile einer
unterschiedlichen Rentenbezugsdauer werden durch einen Zugangsfaktor vermieden."
Dieses Ergebnis wird durch die Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI nicht in Frage gestellt. Danach "gilt" die Zeit
des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen
Inanspruchnahme. Mit dieser Fiktion wird im Interesse des Versicherten eine Ausnahme von dem sich aus § 77 Abs.
2 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3 Satz 1 SGB VI ergebenden Grundsatz geschaffen, dass ein früherer Zugangsfaktor auch
für spätere Renten maßgeblich bleibt. § 77 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VI schließt eine (Neu-)Berechnung des
Zugangsfaktors aus, soweit die EP des Versicherten bereits Grundlage von persönlichen EP einer Rente gewesen
sind. Damit korrespondiert die in Abs. 3 Satz 1 derselben Vorschrift angeordnete Übernahme des bisherigen
Zugangsfaktors in die Berechnung einer Folgerente. Dadurch wird das gesetzgeberische Anliegen verwirklicht ,
Rentenleistungen an jüngere Versicherte mit Rücksicht auf die längere Bezugszeit auch in denjenigen Fällen zu
begrenzen, in denen eine Erwerbsminderungsrente mangels Besserung im Gesundheitszustand des Versicherten
ohne Unterbrechung wiederholt zu bewilligen ist, weil sie gemäß § 102 Abs. 2 SGB VI grundsätzlich längstens für drei
Jahre und nicht auf Dauer gewährt werden darf; ohne die genannten Vorschriften wäre der Zugangsfaktor für jede
Folgerente als eigenständiger Leistungsfall neu zu ermitteln.
Die Fiktion des § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI durchbricht die beschriebene "Perpetuierung" des Zugangsfaktors bei
Rentenbezug aufgrund mehrerer aufeinander folgender Rentenbewilligungen für diejenigen Fälle, in denen ein früherer
Rentenbezug endet - wenn der Versicherte also beispielsweise lediglich zwischen dem 42. und 44. Lebensjahr Rente
bezieht, dann aber bis zum 65. Lebensjahr (oder darüber hinaus) wieder erwerbstätig ist. Obwohl die vor dem 42.
Lebensjahr erworbenen EP anlässlich der früheren Rentenbewilligung mittels abgesenktem Zugangsfaktor zu
persönlichen EP umgerechnet und der Rente zugrunde gelegt worden waren, weil es sich um einen Rentenbezug vor
dem 63. Lebensjahr gehandelt hatte, ist die Altersrente des Versicherten nach § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI so zu
berechnen, als sei die frühere Rente nicht "vorzeitig" gewährt und infolgedessen auch nicht abgesenkt worden;
infolgedessen bestimmt sich der Zugangsfaktor nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 Buchst b SGB VI und nicht
nach Abs. 3. Schon nach dem Wortlaut des § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI ("gilt") wird der Rentenabschlag nicht auf die
Zeit nach dem 60. Lebensjahr verschoben; vielmehr wird der frühere Bezug einer abgesenkten Rente als ungeschehen
fingiert, um den nur vorübergehend erwerbsgeminderten Versicherten vor einem "immerwährenden Abschlag" zu
schützen.
Gestützt wird dieses Normverständnis durch die Regelung des § 77 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 SGB VI. Danach wird der
Zugangsfaktor für EP, die Versicherte bei einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit mit einem Zugangsfaktor
kleiner als 1,0 nach Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 60. Lebensjahres bis zum Ende des
Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres nicht in Anspruch genommen haben, um 0,003 je
Kalendermonat erhöht. Die Normierung dieses "Zuschlags" nach Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 60.
Lebensjahres bei einem Zugangsfaktor "kleiner als 1,0" wäre sinnlos, hätte die gesetzgeberische Absicht tatsächlich
darin bestanden, die Minderung des Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf
Rentenbezugszeiten ab dem 60. Lebensjahr zu beschränken.
Ein weiteres systematisches Argument hat der 13. Senat im Beschluss vom 26.6.2008 aufgezeigt. Gleichzeitig mit
dem RRErwerbG hat der Gesetzgeber einen Rentenabschlag bei der Alterssicherung für Landwirte eingeführt, der
demjenigen in der allgemeinen Rentenversicherung entsprechen sollte. Da die Renten nach dem Gesetz über die
Alterssicherung der Landwirte (ALG) ohne Zugangsfaktor berechnet werden, musste die Neuregelung anders formuliert
werden als im SGB VI. Infolgedessen ordnete § 23 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 ALG in der bis zum 31.12.2007 geltenden
Fassung eine Minderung des (dortigen) allgemeinen Rentenwerts um 0,3 % für jeden Kalendermonat an, für den eine
Rente wegen Erwerbsminderung vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch
genommen wird; § 23 Abs. 8 Satz 2 Halbsatz 1 ALG begrenzte den Abschlag (grundsätzlich) auf höchstens 10,8 %.
Zwischen Rentenbezugszeiten vor und nach Vollendung des 60. Lebensjahres wurde dabei nicht unterschieden,
sodass Erwerbsminderungsrenten nach dem ALG auch dann abzusenken sind, wenn sie vor dem 60. Lebensjahr des
Versicherten beginnen. Das muss infolgedessen auch im Rahmen von § 77 SGB VI gelten. Diese Vorschrift ist in
diesem Punkt nicht anders zu verstehen als die Parallelregelung im ALG, nachdem die angeordnete Rentenkürzung in
allen übrigen Punkten in beiden Bereichen gleich ist.
Sinn und Zweck der Vorschrift bestätigen die Auffassung, dass § 77 Abs. 2 SGB VI die Minderung des
Zugangsfaktors auch für Zeiten des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente vor der Vollendung des 60. Lebensjahres
regelt.
Die Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme von Renten wegen Erwerbsminderung vor Vollendung des
63. Lebensjahres durch die Neufassung des § 77 SGB VI in Art 1 Nr. 22 RRErwerbG vom 20.12.2000 ist Teil einer
Gesamtstrategie, mit der in mehreren aufeinander aufbauenden Schritten auf die demografische Entwicklung reagiert
und die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung gesichert werden soll. Sie enthielt zunächst die
Anhebung des Renteneintrittsalters und die Minderung des Zugangsfaktors für vorzeitige Altersrenten durch das
Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992) und wurde mit einer nochmaligen Anhebung der regelmäßigen Altersgrenze
durch das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.4.2007 in jüngster Vergangenheit fortgeführt. Damit soll eine
sozial angemessene und finanziell tragfähige Alterssicherungspolitik verwirklicht und ein wichtiger Beitrag zu mehr
Wachstum und Beschäftigung geleistet werden.
In dieses Gesamtkonzept fügt sich die Absenkung des Zugangsfaktors für Erwerbsminderungs-, Erziehungs- und
Hinterbliebenenrenten nur dann ohne gravierende Widersprüche ein, wenn sie auch in den Fällen angewandt wird, in
denen der Leistungsfall vor dem 60. Lebensjahr des Versicherten liegt. Die Höhe des Zugangsfaktors hängt seit 1992
bei den Altersrenten vom Zeitpunkt des Rentenbeginns ab, damit Vorteile und Nachteile einer unterschiedlichen
Rentenbezugsdauer vermieden werden. Der Vorteil einer früheren Inanspruchnahme einer Rente liegt darin, dass die
Summe der gezahlten Rentenleistungen (statistisch gesehen) höher ist als bei einem späteren Rentenbeginn, weil die
Rentenlaufzeit (statistisch) insgesamt länger ist. Ein früher Renteneintritt bedeutet trotz der durch fehlende
Beitragszeiten bedingten geringeren Rente eine Mehrbelastung der Versichertengemeinschaft, die durch einen
abgesenkten Zugangsfaktor begrenzt werden soll; dieser ist so bestimmt, dass der jeweilige Gesamtwert der
lebenslangen Rente unabhängig vom Rentenbeginn im statistischen Durchschnitt gleich hoch ist Denn die möglichst
frühzeitige Inanspruchnahme einer Rente entspricht nicht dem eine Versicherung prägenden Prinzip der Äquivalenz
zwischen Beitrag und Leistung. Eine wesentliche Durchbrechung dieses Äquivalenz- bzw. Versicherungsprinzips lag
im früheren Recht darin, dass Versicherte die Altersrente ohne Abschlag bis zu fünf Jahre vor der regulären
Altersgrenze erhalten konnten und durch den (statistisch) verlängerten Rentenbezug die insgesamt zu zahlende
Rentensumme beträchtlich erhöhten.
Unter dem Gesichtspunkt des Versicherungsprinzips gilt für die übrigen Rentenarten nichts anderes, soweit der
Berechtigte die Rente (oder weitere Renten) durchgehend bis zu seinem Tode in Anspruch nimmt. Nachdem das
Missverhältnis zwischen Beitrag und Leistung bei einem vorzeitigen Altersrentner zur Absenkung des Zugangsfaktors
führte, war es im Grunde nur schwer verständlich, dass ein gleichaltriger Erwerbsminderungsrentner von jeglicher
Kürzung verschont bleiben sollte, zumal bei erheblich gesenkten Altersrenten in der betroffenen Altersgruppe mit einer
massiven Zunahme der Anträge auf Erwerbsminderungsrente zu rechnen war. Deshalb forderte der Bundesrat bei den
Beratungen über das RRG 1992 die Bundesregierung zu einer Änderung des Rechts der Erwerbsminderungsrenten
auf, "die zu einer sachgerechten und sozial ausgewogenen Risikoabgrenzung zwischen Renten- und
Arbeitslosenversicherung führt und gleichzeitig verhindert, dass die im RRG 1992 vorgesehene Heraufsetzung der
Altersgrenzen unterlaufen wird". Sowohl der Äquivalenzgedanke als auch der Hinweis auf die Gefahr von
Ausweichreaktionen finden sich in der Gesetzesbegründung zum RRErwerbG wieder. Die in allen Rentenarten
vergleichbare Mehrbelastung durch einen frühen Renteneintritt würde allerdings eine völlige Angleichung des
Zugangsfaktors der übrigen Rentenarten an denjenigen der Altersrente kaum rechtfertigen können. Denn die
Altersrente darf erst ab einem bestimmten Mindestalter in Anspruch genommen werden, während die anderen Renten
schon in sehr jungen Jahren beginnen können. Zudem können die Versicherten (außer in bestimmten Fällen der
Arbeitslosigkeit) regelmäßig frei wählen, ab wann sie eine Altersrente beziehen wollen. Im Lichte dieser Unterschiede
passen die im RRErwerbG getroffenen Regelungen in die Gesamtstrategie zur Anhebung der Altersgrenzen in der
gesetzlichen Rentenversicherung; gleichzeitig wurde vermieden, dass sich der Zugangsfaktor im Laufe der
Rentenbezugszeit ändert, was das überkommene System der Rentenberechnung mit einer grundsätzlich einmalig zu
ermittelnden konstanten Rechengröße und nur einem dynamischen Faktor durchbrochen hätte.
Infolgedessen ging es dem Gesetzgeber des RRErwerbG nur um eine "Anpassung" und nicht um eine
"Gleichstellung" von Erwerbsminderungsrenten und Altersrenten. Dabei werden der Versicherte und seine
Hinterbliebenen - wie bereits dargelegt - vor einer allzu empfindlichen Minderung geschützt, indem der Zugangsfaktor
bei jüngeren Versicherten so festgesetzt wird, als habe der Versicherte das Mindestalter für eine Altersrente (in der
hier anwendbaren Fassung 60 Jahre) bereits erreicht, und indem die Absenkung auf einen Renteneintritt vor dem 63.
Lebensjahr beschränkt wird, während der Anspruch auf Altersrente erst ab dem 65. Lebensjahr in voller Höhe besteht;
dadurch beträgt die Absenkung maximal 10,8 % im Vergleich zu 18 % bei der Altersrente. Darüber hinaus wird der
Versicherte mit Hilfe zusätzlicher Zurechnungszeiten jetzt so gestellt, als ob er bis zur Vollendung des 60.
Lebensjahres weitergearbeitet hätte ; vorher wurde die Zeit ab dem 55. Lebensjahr lediglich zu einem Drittel
berücksichtigt. Die weitergehende Anrechnung von Zurechnungszeiten soll die Anpassung der Höhe der
Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten zusätzlich begrenzen. Bei
Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung im Alter von 56 Jahren und acht Monaten reduziert sich die
Rentenminderung bei einem "Eckrentner" dadurch auf 3,3 % - je nach Versicherungsbiografie kann sie geringer oder
höher ausfallen. Jedenfalls kommt der effektive Abschlag dem Maximalwert von 10,8 % umso näher, je mehr sich der
Rentenbeginn dem 60. Lebensjahr des Versicherten nähert; bei späterem Renteneintritt sinkt der prozentuale
Rentenabschlag allmählich wieder, bis er bei 63 Jahren ganz entfällt. Die Fokussierung der Rentenminderung auf den
Renteneintritt mit 60 stellt insofern ein schlüssiges Konzept dar, als sich gerade die Versicherten dieser Altersgruppe
unter der Geltung des bisherigen Rechts zB insbesondere bei Arbeitslosigkeit vor die Frage gestellt sehen konnten,
ob sie statt der vorzeitigen Altersrente mit einem Abschlag von 18 % eine wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarkts
mögliche Erwerbsminderungsrente ohne Abschlag anstreben sollten.
Ein ganz wesentliches Element dieses Konzepts ist die Abschwächung des Rentenabschlags durch die zusätzliche
Zurechnungszeit bei einem Renteneintritt vor dem 60. Lebensjahr. Wäre der nach § 77 Abs. 2 SGB VI abgesenkte
Zugangsfaktor nur bei Renteneintritt bzw. Rentenbezug ab dem 60. Lebensjahr anwendbar, würde der Rentenabschlag
gerade nicht abgeschwächt, sondern das RRErwerbG hätte bei früherem Renteneintritt im Vergleich zum bisherigen
Recht zu einer Rentenerhöhung geführt und entgegen den dargestellten Bemühungen des Gesetzgebers um eine
Anhebung des Renteneintrittsalters einen Anreiz geschaffen, mittels frühen Rentenantrags zu versuchen, zumindest
vorübergehend den Abschlag zu vermeiden. Infolgedessen bestätigt die Neuregelung der Zurechnungszeit die mit den
Absichten des Gesetzgebers im Einklang stehende Auslegung, nach der die Rentenminderung auch Renten erfasst,
die vor dem 60. Lebensjahr des Versicherten gewährt werden. Die § 59 Abs. 2 Satz 2, § 63 Abs. 5, §§ 77, 253a, 264c
SGB VI bilden ein aufeinander abgestimmtes "Gesamtpaket". Dies wird besonders deutlich in der Anlage 23 zum
SGB VI, die übergangsweise je nach Zeitpunkt des Rentenbeginns festlegt, in welchem Umfang der Zugangsfaktor zu
senken bzw. - in darauf abgestimmten Stufen - die Zurechnungszeit zu verlängern ist.
Schließlich bestätigt die Einfügung von Abs. 4 in § 77 SGB VI durch Art 1 Nr 23 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz
vom 20.4.2007 ab dem 1.1.2008 das dargestellte Gesamtkonzept und führt es fort, indem für langjährig Versicherte
die Weitergeltung der bisherigen Altersgrenzen angeordnet wird. Folgte man der Auffassung, wonach der
Rentenabschlag erst ab Vollendung des 60. Lebensjahres greifen soll, so würde diese zu Zwecken des
Vertrauensschutzes geschaffene Regelung in ihr Gegenteil verkehrt: Versicherte mit mindestens 40
Pflichtbeitragsjahren würden durch die Herabsetzung des 62. auf das 60. Lebensjahr nicht begünstigt, sondern
benachteiligt.
Entgegen der Ansicht des Klägers verstößt die Regelung des § 77 Abs. 2 SGB VI nicht gegen das GG ...
Rentenansprüche und -anwartschaften werden vom verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz nach Art 14 Abs. 1 GG
erfasst. Der Schutzbereich des Art 14 Abs. 1 GG ist vorliegend dadurch tangiert, dass im Vergleich zur früheren
Rechtslage mit der Rechtsänderung durch das RRErwerbG eine Verschlechterung für den Kläger insoweit eingetreten
ist, als nunmehr bei einer Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63.
Lebensjahres der Zugangsfaktor gemindert wird.
Der Kläger wird jedoch nicht in seinem Grundrecht aus Art 14 GG verletzt. Bei der in Streit stehenden Vorschrift
handelt es sich um eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung durch den Gesetzgeber. Der Eingriff in die
Rechtsposition des Klägers erweist sich gemessen an der gesetzgeberischen Zielsetzung als geeignet und
erforderlich und ist andererseits gemessen an der vom Kläger erworbenen Rechtsposition sowie Art und Umfang
seiner Beitragsleistung verhältnismäßig und zumutbar.
Eingriffe in rentenrechtliche Anwartschaften sind zulässig, wenn sie einem Gemeinwohlzweck dienen und
verhältnismäßig sind. Dabei verengt sich die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in dem Maße, in dem
Rentenanwartschaften durch den personalen Anteil eigener Leistungen der Versicherten geprägt sind. Die eigene
Leistung findet vor allem in einkommensbezogenen Beitragszahlungen ihren Ausdruck. Sie rechtfertigt es, dass der
durch sie begründeten rentenrechtlichen Rechtsposition ein höherer Schutz gegen staatliche Eingriffe zuerkannt wird
als einer Anwartschaft, soweit sie nicht auf Beitragsleistungen beruht. Knüpft der Gesetzgeber an ein bereits
bestehendes Versicherungsverhältnis an und verändert er die in dessen Rahmen begründete Anwartschaft zum
Nachteil des Versicherten, so ist darüber hinaus ein solcher Eingriff am rechtsstaatlichen Grundsatz des
Vertrauensschutzes zu messen, der für die vermögenswerten Güter und damit auch für die rentenrechtliche
Anwartschaft in Art 14 GG eine eigene Ausprägung erfahren hat.
Wie bereits näher dargelegt, wollte der Gesetzgeber mit den in Rede stehenden Regelungen des § 77 Abs. 2 Satz 1
Nr. 3, Satz 2 und 3 SGB VI idF des RRErwerbG zum einen der Gefahr begegnen, dass im Hinblick auf die gesetzlich
normierten Abschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme von Altersrenten unverhältnismäßig viele Anträge auf
Erwerbsminderungsrenten gestellt würden; zum anderen hat er das Ziel verfolgt, das Versicherungsrisiko der
unterschiedlich langen Rentenbezugsdauer mit Hilfe versicherungsmathematischer Abschläge zu neutralisieren.
Die mit dem RRErwerbG normierte Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres stellt allein schon deshalb eine zulässige Inhalts-
und Schrankenbestimmung dar, weil sie ersichtlich dazu dient, die Funktions- und Leistungsfähigkeit der
Rentenversicherung im Interesse aller zu erhalten und den – u. a. durch die demografische Entwicklung - veränderten
wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen. Wie der Hochrechnung der finanziellen Auswirkungen der im RRG 1992
und im RRErwerbG beschlossenen Maßnahmen zu entnehmen ist, geht es dabei in erster Linie um eine
Verlangsamung der nach früherem Recht zu erwarten gewesenen Erhöhungen des Beitragssatzes in der
Rentenversicherung und der entsprechenden Mehrausgaben des Bundes. Sind allein die finanziellen Erwägungen ein
legitimer Grund für den Eingriff, so kann offen bleiben, ob auch andere mit der Regelung vom Gesetzgeber verfolgte
Ziele für sich oder zusätzlich die in Frage stehende Regelung rechtfertigen könnten.
Die im öffentlichen Interesse liegende Minderung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Rente wegen
Erwerbsminderung vor Vollendung des 63. Lebensjahres war auch verhältnismäßig im weiteren Sinne (d.h. geeignet,
erforderlich und zumutbar).
Die Regelung war geeignet, die vom Gesetzgeber angestrebten Ziele zu erreichen. Ihm steht - wie dies das BVerfG
erneut in seinem Beschluss vom 27.2.2007 zum Ausdruck gebracht hat - im Sozialversicherungsrecht wie in allen
komplexen, von künftigen Entwicklungen abhängigen Regelungsbereichen ein weiter Einschätzungsspielraum zu. Bei
der Ausgestaltung der Versicherungsverhältnisse benötigt der Rentengesetzgeber Flexibilität, die ihm nach der
Rechtsprechung des BVerfG verfassungsrechtlich nicht verwehrt werden kann. Mit Rücksicht auf das
unterschiedliche Versicherungsrisiko von in niedrigerem oder höherem Alter beginnenden Renten und auf die dadurch
gebotene Annäherung von Erwerbsminderungs- und Altersrenten bewegt sich die Vorschrift über die Absenkung des
Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63. Lebensjahres innerhalb
dieses verfassungsrechtlichen Einschätzungsspielraums.
Die Regelung genügt auch dem Gebot der Erforderlichkeit. Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber ein anderes,
gleich wirksames, aber das Grundrecht des Klägers nicht oder doch weniger einschränkendes Mittel hätte wählen
können. Der Gesetzgeber kann insbesondere nicht darauf verwiesen werden, eine Einsparung in anderen, von dem
betroffenen Gesetz nicht erfassten Bereichen zu erzielen. Unter dem Gesichtspunkt des Erforderlichkeitsgrundsatzes
war er nicht verpflichtet, auf andere Maßnahmen auszuweichen, insbesondere - im Rahmen der
verfassungsrechtlichen Grenzen - die Beitragssätze zu erhöhen, die Bestandsrenten abzusenken oder auf eine
Anpassung der Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung zu verzichten. Um dem Erforderlichkeitsgebot Rechnung
zu tragen, war er ebenso wenig gehalten, einen höheren Bundeszuschuss vorzusehen und ggf. für diesen Zweck
Steuern einzuführen oder zu erhöhen.
Die Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor
Vollendung des 63. Lebensjahres ist für den Kläger auch zumutbar. Hierbei ist zu beachten, dass das Gesetz nicht in
einen schon bestehenden Rentenanspruch des Klägers, sondern in seine Rentenanwartschaft eingegriffen hat.
Anwartschaften sind aber wegen des großen Zeitraums zwischen ihrem Erwerb und der Aktivierung des
Rentenanspruchs naturgemäß stärker einer Veränderung der für die Rentenberechnung maßgeblichen Verhältnisse
unterworfen und genießen nicht denselben eigentumsrechtlichen Schutz wie die Rente. In diesem Zusammenhang ist
auch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber durch die Übergangsregelung des § 264c SGB VI und die
Kompensation über die verlängerte Zurechnungszeit nach §§ 59, 253a SGB VI die Wirkung der Absenkung des
Zugangsfaktors abgemildert hat ...
Die Neuregelung durch das RRErwerbG genügt auch dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes.
Die hier für den Eingriff - Absenkung des Zugangsfaktors - maßgebliche Regelung des § 77 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI idF
des RRErwerbG greift nicht im Sinne einer (echten) Rückwirkung zu Ungunsten des Klägers in eine Rechtsposition
ein, die dieser bereits vor deren Inkrafttreten am 1.1.2001 inne hatte. Im Übrigen war die Änderung der Rechtslage für
die Versicherten nicht völlig überraschend, nachdem der Bundesrat bereits im April 1989 die Bundesregierung zu einer
Reform der Erwerbsminderungsrenten in diesem Sinne aufgefordert hatte.
Die Regelungen des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 und 3 SGB VI verstoßen auch nicht gegen Art 3 Abs. 1 GG.
Der darin enthaltene allgemeine Gleichheitssatz gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Dem
gemäß ist dieses Grundrecht vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen
Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und
solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten ; Entsprechendes gilt für eine
Gleichbehandlung trotz Bestehens gewichtiger Unterschiede. Nachdem die getroffenen Maßnahmen durch das Ziel
gerechtfertigt sind, die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung zu erhalten, ist es unter dem Blickwinkel
des Gleichheitssatzes nicht zu beanstanden, dass die Versichertengruppe, zu welcher der Kläger gehört, gegenüber
derjenigen anders behandelt wird, die wegen eines Rentenbeginns vor dem 1.1.2001 noch nicht von der Absenkung
des Zugangsfaktors betroffen war. Mit jeglicher Anpassung des Rechts an geänderte Verhältnisse ist zwangsläufig
eine ungleiche Behandlung von Betroffenen vor und nach dem Inkrafttreten einer Rechtsänderung verbunden und kann
daher für sich allein nicht zur Verfassungswidrigkeit führen.
Der Gesetzgeber war durch das im Gleichheitssatz enthaltene Differenzierungsgebot nicht gehalten,
Erwerbsminderungsrenten wegen gewichtiger Unterschiede zu den Altersrenten von den dort eingeführten
Rentenabschlägen ganz auszunehmen. Dem Kläger ist zuzustimmen, dass ein Versicherter es letztlich nicht in der
Hand hat, den Zeitpunkt einer rentenberechtigenden Erwerbsminderung selbst zu bestimmen. Jedoch kann es bei
länger währender Arbeitslosigkeit im rentennahen Alter ebenfalls kaum noch praktische Alternativen zu einem Antrag
auf vorgezogene Altersrente mit Rentenabschlägen geben; bei Entlassungen gegen Abfindung kann sogar eine
arbeitsrechtliche Verpflichtung zu einem solchen Antrag bestehen. Insofern haben die Unterschiede nicht das ihnen
vom Kläger beigemessene Gewicht. Sie sind durch den geringeren Abschlag in Höhe von maximal 10,8 statt 18 %
und die erhöhte Zurechnungszeit bei jüngeren Erwerbsminderungsrentnern angemessen berücksichtigt. Aus Sicht des
Senats war es im Hinblick auf den Gleichheitssatz nicht nur gerechtfertigt, sondern möglicherweise sogar geboten, die
Finanzierungsschwierigkeiten der Rentenversicherung durch längere Rentenlaufzeiten nicht allein zu Lasten der
Altersrentner zu lösen, nachdem der Bundesrat im Jahre 1989 auf diese Problematik hingewiesen hatte.
Schließlich greift der Einwand nicht, der Gesetzgeber habe auch für Erwerbsminderungsrentner eine dem § 187a SGB
VI entsprechende Möglichkeit schaffen müssen, die bei Anwendung von § 77 Abs. 2 SGB VI entstehende
Rentenminderung durch Beitragszahlungen auszugleichen. Ein diesbezügliches Verfassungsgebot ist schon deshalb
zu verneinen, weil die Erwerbsminderungsrente in deutlich geringerem Ausmaß abgesenkt wird als die Altersrente,
sodass die unterschiedlich hohen Versorgungslücken eine unterschiedliche Behandlung sachlich rechtfertigen. Im
Übrigen sind keine Gründe ersichtlich, die den Erwerbsminderungsrentner an der Entrichtung freiwilliger Beiträge
hindern würden, um seine künftig zu erwartende Altersrente aufzubessern ; da § 7 Abs. 3 SGB VI das Recht zur
freiwilligen Versicherung ausschließt, wenn eine Vollrente wegen Alters bindend bewilligt ist, bedarf es lediglich für
vorzeitig in Anspruch genommene Altersrenten der Sonderregelung des § 187a SGB VI.
Ein Verstoß gegen Art 3 Abs. 3 Satz 2 GG liegt ebenfalls nicht vor.
Art 3 Abs. 3 Satz 2 GG bezweckt die Stärkung der Stellung behinderter Menschen in Recht und Gesellschaft. Sie
enthält ein Gleichheitsrecht zu Gunsten Behinderter sowie einen Auftrag an den Staat, auf die gleichberechtigte
Teilhabe behinderter Menschen hinzuwirken. Es ist bereits fraglich, ob der Schutzbereich des Grundrechts, der
zunächst eine Ungleichbehandlung voraussetzt, tangiert ist. Jedenfalls liegt eine Benachteiligung wegen Behinderung
nicht vor. Die Absenkung des Zugangsfaktors nach § 77 Abs. 2 SGB VI betrifft seit dem RRErwerbG alle
Rentenarten, wenn die jeweilige Rente vor der im Gesetz normierten Altersgrenze in Anspruch genommen wird. Damit
sollen Vor- und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer bei allen Rentenarten ausgeglichen werden.
Eine Benachteiligung des Klägers wegen einer Behinderung liegt somit nicht vor."
Der Senat schließt sich, ebenso wie dies bereits das Sozialgericht getan hat, dieser Rechtsprechung in vollem
Umfang an.
Im Übrigen weist der Senat noch auf Folgendes hin: Jedes gerichtliche Urteil, auch ein solches des BSG, ergeht im
Einzelfall, denn nach § 141 Abs. 1 Nr. 1 SGG binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand
entschieden worden ist, die Beteiligten (des jeweiligen Rechtsstreits und nur im Verhältnis dieser Beteiligten
zueinander) und ihre Rechtsnachfolger. An einem Rechtsstreit nicht Beteiligte können mithin aus einem solchen Urteil
unmittelbar keine Rechte zu ihren Gunsten herleiten. Dies schließt nicht aus, dass sich nicht Beteiligte solche Urteile
zu Eigen machen und sich darauf wegen der Begründung beziehen. Soweit Urteile nämlich überzeugend sind, ist zu
erwarten, dass sich in einem anderen Rechtsstreit ein anderes Gericht diesen überzeugenden Gründen anschließen
und ebenso entscheiden wird. Fehlt einem Urteil allerdings eine entsprechende Überzeugungskraft, werden andere
Gerichte diesem Urteil nicht folgen. Das von der Klägerin genannte Urteil des BSG vom 16. Mai 2006 - B 4 RA 22/05
R hat nicht nur die Beklagte, sondern auch eine erhebliche Zahl von Instanzgerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht
überzeugt, weil dieses Urteil weder mit dem Gesetzeswortlaut noch mit dem Gesetzeszweck für vereinbar gehalten
wurde. Bei einer solchen Sachlage, wenn sich also noch keine einheitliche und abschließende Rechtsmeinung zur
Auslegung einer Vorschrift gebildet hat, darf die Beklagte, auch wenn sie als Teil der vollziehenden Gewalt an Gesetz
und Recht, so wie dieses durch die höchstrichterliche Rechtsprechung angewandt und ausgelegt wird, nach Art. 20
Abs. 3 Grundgesetz (GG) gebunden ist, ein einzelnes Urteil des BSG unbeachtet lassen und in weiteren
nachfolgenden gerichtlichen Verfahren eine ständige und einheitliche Rechtsprechung aller Senate des BSG, die für
Rentenangelegenheiten zuständig sind, herbeiführen. Allein auf diese Weise kann Rechtsklarheit und Rechtssicherheit
bei der Auslegung einer Rechtsvorschrift bei unterschiedlichen Rechtsauffassungen erzielt werden.
Die Rechtsfrage, wie § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI auszulegen ist, ist zwischenzeitlich mit dem o. g. Urteil des BSG
abschließend geklärt, nachdem auch der 13. Senat des BSG in dem im Urteil vom 14. August 2008 - B 5 R 32/07 R
erwähnten Beschluss vom 26. Juni 2008 - B 13 R 9/08 S sich der Rechtsprechung des 4. Senats im Urteil vom 16.
Mai 2006 - B 4 RA 22/05 R nicht angeschlossen hat. Der für die Alterssicherung der Landwirte zuständige 10. Senat
des BSG hat im Urteil vom 25. Februar 2010 - B 10 LW 3/09 R unter Hinweis auf die jetzt maßgebliche Auslegung des
§ 77 Abs. 2 SGB VI durch die zuständigen Rentensenate des BSG die vergleichbare Vorschrift des § 23 Abs. 8
Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) im gleichen Sinne wie diese Rentensenate ausgelegt.
Die Berufung muss somit erfolglos bleiben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen hierfür (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) nicht vorliegen.