Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 31.07.2008

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Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 31.07.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 12 R 3978/06
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 8 R 599/08
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. Januar 2008 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die
Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt eine höhere Regelaltersrente unter Vornahme einer neuen Gesamtleistungsbewertung, mit der die
nicht mit Entgeltpunkten bewerteten Zeiten eines Universitätsbesuchs vom 01. Mai 1966 bis zum 04. August 1966 als
nicht belegungsfähige beitragsfreie Zeit berücksichtigt werden sollen.
Der im Mai 1941 geborene Kläger hat vom 01. April 1960 bis 31. März 1964 an der Universität T studiert. Am 11. Mai
1964 schloss er sein Psychologiestudium mit dem Diplom ab. Vom 15. April 1964 bis zum 30. August 1966 besuchte
er die Universität M. Am 4. August 1966 verlieh ihm die Philosophische Fakultät der Universität M den Grad eines
Doktors der Philosophie.
Mit Rentenbescheid vom 02. Mai 2006 gewährte die Beklagte dem Kläger ab dem 01. Juni 2006 Regelaltersrente in
Höhe von monatlich 1.096,29 EUR. Neben 40,1598 Entgeltpunkten für Beitragszeiten und 0,3411 Entgeltpunkten für
ausländische Kleinstzeiten wurden für beitragsfreie Zeiten 1,4544 Entgeltpunkte zu Grunde gelegt. Bei der im Rahmen
der Feststellung von Entgeltpunkten für beitragsfreie und beitragsgeminderte Zeiten vorzunehmenden Grundbewertung
wurden im belegungsfähigen Gesamtzeitraum (05. Mai 1958 bis 04. Mai 2006) 96 Monate als nicht belegungsfähig
angesetzt. Im Versicherungsverlauf wurden als Zeiten der Schulausbildung insgesamt 23 Monate (05. Mai 1958 bis
31. Mai 1958 und 01. Juni 1958 bis 31. März 1960) und als Zeiten der Hochschulausbildung 73 Monate (01. April 1960
bis 30. April 1961 und 01. Mai 1961 bis 30. April 1966) aufgeführt und bei der Berechnung beitragsfreier Zeiten
Anrechnungszeiten wegen Schul- oder Hochschulausbildung nur im Umfang von 36 Monaten (05. Mai 1958 bis 30.
April 1961) mit Entgeltpunkten bewertet; hingegen wurde unter anderem der Zeitraum vom 01. Mai 1966 bis 04.
August 1966, den der Kläger bis zur Verleihung des Grades eines Doktors der Philosophie am 04. August 1966 an der
Universität M verbrachte, nicht im Versicherungsverlauf berücksichtigt und nicht als Zeiten der Hochschulausbildung
angerechnet.
Mit dem am 22. Juni 2006 erhobenen Widerspruch wendete sich der Kläger unter anderem gegen die Ermittlung der
belegungsfähigen Kalendermonate und trug zur Begründung vor, die
Beklagte habe dabei die vom Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 18. Oktober 2005 - B 4 RA 43/03 R -
herausgearbeiteten Grundsätzen nicht beachtet. Soweit sich der Widerspruch gegen die Ermittlung der
belegungsfähigen Kalendermonate richtete, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11.
August 2006 zurück und führte zur Begründung aus, eine Berücksichtigung von Zeiten schulischer Ausbildung, die
über die Höchstdauerregelung des § 58 Abs. 1 Nr. 4 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) hinausgingen,
sei nach den gesetzlichen Bestimmungen nicht möglich. Dem Urteil des BSG vom 18. Oktober 2005 sei über den
Einzelfall hinaus nicht zu folgen.
Am 18. August 2006 hat der Kläger vor dem Sozialgericht Berlin Klage erhoben.
Zur Begründung hat er vorgetragen, das von der Beklagten nicht befolgte Urteil des BSG vom 18. Oktober 2005 halte
er für schlüssig und auf seinen Fall für anwendbar.
Die Beklagte hat auf den Widerspruchsbescheid verwiesen.
Das Sozialgericht Berlin hat die Klage mit Urteil vom 22. Januar 2008 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt,
der Bescheid sei rechtmäßig, soweit nur 96 Kalendermonate als nicht belegungsfähige beitragsfreie Zeiten im Sinne
von § 72 Abs. 3 Nr. 1 SGB VI berücksichtigt worden seien. Die Zeiten vom 01. Mai 1996 bis zum 04. August 1996
seien keine beitragsfreien Zeiten im Sinne dieser Vorschrift, weil sie insbesondere nicht den Tatbestand einer
Anrechnungszeit im Sinne des § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI erfüllen würden. Hier seien lediglich Zeiten des
Psychologiestudiums des Klägers bis zum Abschluss mit dem Diplom anzuerkennen, weil eine Hochschulausbildung
nur bis zum ersten möglichen Abschluss anerkennungsfähig sei. Zeiten der Vorbereitung einer Dissertation könnten
nur Anrechnungszeiten sein, wenn das Studium nicht bereits mit einem vorgeschriebenen Hochschulabschluss,
sondern durch die Promotion abgeschlossen worden sei. Dies gelte auch dann, wenn die Promotion in einer anderen
Fachrichtung erfolge als der erste Hochschulabschluss, weil die Promotionszeit als Zeit beruflicher Weiterbildung zu
werten sei.
Mit der am 21. Februar 2008 eingegangenen Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
Zur Begründung trägt er vor, § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI in der zum Zeitpunkt des Rentenbeginns geltenden Fassung
differenziere nicht mehr danach, ob der Schul- oder Hochschulbesuch zu einem Abschluss geführt habe. Die im Urteil
zitierten Entscheidungen des Bundessozialgerichts seien wegen zwischenzeitlicher Gesetzesänderungen überholt.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. Januar 2008 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des
Bescheides vom 02. Mai 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2006 zu verurteilen, ihm
eine höhere Rente unter Berücksichtigung des Zeitraumes vom 01. Mai 1966 bis zum 04. August 1966 als
nichtbelegungsfähige Zeit im Rahmen der Gesamtleistungsbewertung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie nimmt Bezug auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Hinsichtlich des weiteren Sachstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Rentenakten des Klägers
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers, über die infolge des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung
entschieden werden kann (vgl. § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), ist nicht begründet.
Das Sozialgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung
einer höheren Rente unter zusätzlicher Berücksichtigung der Zeiten vom 01. Mai 1966 bis zum 04. August 1966 als
nicht belegungsfähige Zeiten. Diese Zeiten, die der Kläger bis zu seiner Verleihung des Doktorgrades der Philosophie
an der Universität M eingeschrieben war, sind nicht als nicht belegungsfähige Kalendermonate im Sinne des § 72
Abs. 3 SGB VI anzusehen und deshalb bei der Anzahl der belegungsfähigen Monate (vgl. § 72 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1
SGB VI) zu berücksichtigen, weil es sich bei ihnen nicht um beitragsfreie Zeiten im Sinne von § 72 Abs. 3 Nr. 1 SGB
VI handelt. Beitragsfreie Zeiten sind Kalendermonate, die unter anderem mit Anrechnungszeiten belegt sind, wenn für
sie nicht auch Beiträge gezahlt worden sind (vgl. § 54 Abs. 4 SGB VI). Anrechnungszeiten sind gemäß § 58 Abs. 1
Satz 1 Nr. 4 SGB VI in der hier nach § 300 Abs. 1 SGB VI zur Zeit des Rentenbeginns (01. Juni 2006) maßgeblichen
Fassung des Altersvermögensergänzungsgesetzes (AVmEG) vom 21. März 2001 (BGBl. I S. 403) diejenigen Zeiten,
in denen Versicherte nach dem vollendeten 17. Lebensjahr unter anderem eine Schule oder Hochschule besucht
haben (Zeiten einer schulischen Ausbildung), insgesamt jedoch höchstens bis zu acht Jahre. Diese Voraussetzungen
liegen hier nicht vor, weil durch eine zusätzliche Berücksichtigung des streitbefangenen Zeitraumes, in dem der
Kläger ausweislich der Bescheinigung des Sekretariats des Rektors der Universität M die Universität M besucht und
sich dort am 04. August 1966 zum Doktor der Philosophie promoviert hatte, die in § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 letzter
Teilsatz SGB VI i.d.F. des AVmEG berücksichtigungsfähige Höchstdauer überschritten wird. Die Beklagte hat schon
acht Jahre bzw. 96 Monate schulischer Ausbildung, die der Kläger als Schulausbildung vom 05. Mai 1958 bis 31. Mai
1958 und vom 01. Juni 1958 bis 31. März 1960 sowie als Hochschulausbildung vom 01. April 1960 bis 30. April 1961
und vom 01. Mai 1961 bis 30. April 1966 absolviert hatte, als Anrechnungszeit im Sinne von § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4
SGB VI i.d.F. des AVmEG berücksichtigt. Im Gegensatz zu der Höchstdauerklausel des hier nicht einschlägigen § 58
Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 letzter Teilsatz SGB VI in der Fassung des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes
(WFG) vom 25. September 1996 (BGBl. I S. 1461), der eine Höchstdauer von drei Jahren vorsah und nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht den Tatbestand, sondern die Anrechnungsvoraussetzungen von
Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung regelte (vgl. BSG, Urteil vom 18. Oktober 2005 - B 4 RA 43/03 R -
SozR 4-2600 § 71 Nr. 1), gehört jedenfalls die Höchstdauerklausel von acht Jahren nach der hier maßgeblichen
Fassung des AVmEG zum Tatbestand einer Anrechnungszeit wegen schulischer Ausbildung. Dies hat zur Folge,
dass diejenigen Zeiten schulischer oder akademischer Ausbildung, die über eine Gesamtdauer von acht Jahren
hinausgehen, nicht den Tatbestand einer Anrechnungszeit erfüllen. Diese über die Höchstdauer hinausgehenden
Zeiten sind deshalb nicht nur ausschließlich bei der Wartezeit von 35 Jahren für die Altersrente für langjährig
Versicherte und für schwerbehinderte Menschen nach § 51 Abs. 3 SGB VI nicht anzurechnen (so aber das BSG,
Urteil vom 18. Oktober 2005, a. a. O.), sondern auch nicht als eine nicht belegungsfähige Zeit im Sinne von § 72 Abs.
3 Nr. 1 SGB VI anzusehen, so dass sie dem belegungsfähigen Gesamtzeitraum nach § 72 Abs. 2 SGB VI
zuzuordnen und gemäß § 72 Abs. 1 SGB VI bei der Gesamtleistungsbewertung bzw. Grundbewertung im Nenner der
Divisionsrechnung zu berücksichtigen sind (a. A. BSG, Urteil vom 18. Oktober 2005, a. a. O.). Die nunmehrige
Zuordnung der achtjährigen Höchstdauerklausel zum Tatbestand einer Anrechnungszeit nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4
SGB VI in der seit dem AVmEG gültigen Fassung ergibt sich aus der Regelungsabsicht des Gesetzgebers und vor
allem – wie der hier erkennende Senat mit Urteil vom Urteil vom 23. Mai 2007 (- L 8 RA 18/02 -) schon angedeutet
hatte (vgl. Seite 5 des amtlichen Entscheidungsabdrucks) – aus dem systematischem Verhältnis zu dem vom 01.
Januar 2002 bis zum 31. Dezember 2004 gültigen § 74 Satz 3 SGB VI i.d.F. des AVmEG bzw. § 74 Satz 4 SGB VI
i.d.F. vom 27. Mai 2002 (BGBl. I S. 1687). Die Höchstdauerklausel des § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI i.d.F. des
AVmEG hat sich zu einer Tatbestandsvoraussetzung umgewandelt, weil durch das AVmEG nicht nur die
"Höchstdauer" von drei Jahren auf acht Jahre angehoben, sondern gleichzeitig für die Bewertung mit Entgeltpunkten
für Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung mit § 74 Satz 3 SGB VI i.d.F. des AVmEG eine Begrenzung
auf drei Jahre eingeführt wurde. Mit der Neufassung dieser beiden Vorschriften hat der Gesetzgeber deutlich zu
erkennen gegeben, dass Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung einerseits bei der Bestimmung des
belegungsfähigen Zeitraumes nach § 71 Abs. 1 Satz 1 und § 72 Abs. 1 SGB VI als unbewertete Anrechnungszeiten
nur bis zu einer Dauer von acht Jahren als nicht belegungsfähige Kalendermonate im Sinne von § 72 Abs. 3 Nr. 1
SGB VI berücksichtigt werden können und anderseits bei der Zuweisung von Entgeltpunkten nur bis zu einer Dauer
von drei Jahren berücksichtigt werden konnten (vgl. § 74 Satz 3 SGB VI i.d.F. des AVmEG) bzw. nach der
Übergangsvorschrift des § 263 Abs. 3 Satz 3 SGB VI in der seit dem 01. Januar 2005 gültigen Fassung vom 21. Juli
2004 (BGBl. I S. 1791) in begrenzten Umfange bis zum 01. Januar 2009 noch können. Diese Regelungsabsicht ergibt
sich aus den Gesetzmaterialien. Im Hinblick auf die Verlängerung der Höchstdauerklausel des § 58 Abs. 4 Satz 1 Nr.
4 SGB VI i.d.F. des AVmEG SGB VI hatte der Gesetzgeber vorgesehen,
"zur Anrechnung einer längeren schulischen Ausbildung zurückzukehren. Dabei wird an der geltenden Bewertung von
maximal bis zu 3 Jahren schulischer Ausbildung festgehalten. Bis zu 5 Jahre werden als unbewertete
Anrechnungszeiten wiederhergestellt. Damit werden ebenfalls Lücken bis zu 8 Jahren vermieden" (vgl. BT-Drs.
14/4595 S. 46 zu Nummer 13 [§ 58]).
Indem ausdrücklich hervorgehoben worden ist, dass rentenrechtliche Lücken bis zu acht Jahren vermieden werden
sollen, wird die Absicht des Gesetzgebers offenkundig, dass die auf acht Jahre begrenzte Berücksichtigung von
Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung gerade für die Bestimmung des nicht belegungsfähigen Zeitraumes
nach § 72 Abs. 3 Nr. 1 SGB VI gelten soll. Nichts anderes ergibt sich aus der Gesetzesbegründung zu § 74 Satz 3
SGB VI i.d.F. des AVmEG.
"Es handelt es sich um eine redaktionelle Änderung infolge der verlängerten Anrechnung schulischer
Ausbildungszeiten, durch die weiterhin eine direkte Rentensteigerung für derartige Zeiten auf 3 Jahre beschränkt
bleibt" (vgl. BT-Drs. 14/4595 S. 48 zu Nummer 23 [§ 74]).
Der Gesetzgeber hatte danach die erkennbare Absicht, Zeiten schulischer Ausbildung nur bis zu einer Dauer von acht
Jahren als unbewertete Anrechnungszeit zu berücksichtigen und davon höchstens drei Jahre mit begrenzten
Entgeltpunkten zu bewerten. Bestätigt wird die gesetzgeberische Regelungsabsicht weiterhin durch die Materialien zu
§ 74 in der seit dem 1. Januar 2005 gültigen Fassung des Gesetzes zur Sicherung der nachhaltigen
Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Nachhaltigkeitsgesetz) vom 21. Juli 2004 (BGBl. I
S. 1791), mit dem die direkte rentensteigernde Bewertung von Zeiten des Schul- und Hochschulbesuches gestrichen
bzw. gem. § 263 Abs. 3 SGB VI nur noch im begrenzten Umfange bis zum 01. Januar 2009 ermöglicht wurde.
"Mit der Neufassung entfällt die bisherige rentensteigernde Bewertung von Zeiten des Schul- und Hochschulbesuchs.
Bisher wurden generell bis zu drei Jahren schulischer Ausbildung mit bis zu 0,75 Entgeltpunkten bewertet. Allgemeine
Schulzeiten sowie Hochschulzeiten werden allerdings weiterhin als – unbewertete – Anrechnungszeiten
berücksichtigt. Dadurch wird sichergestellt, dass schulische Ausbildung bis zu 8 Jahren nicht zu rentenrechtlichen
Lücken führt, sich also insbesondere im Fall der Frühinvalidität und bei frühem Tod keine einschneidenden
Rentenminderungen ergeben" (vgl. BT-Drs. 15/2149 S. 24 zu Nummer 13 [§ 74]).
Soweit das Bundessozialgericht die vorstehend zitierten Gesetzesmaterialien mit dem Hinweis auf die fehlende
Relevanz der Fälle der "Frühinvalidität" auf die Wartezeit für eine Rente wegen voller oder teilweiser
Erwerbsminderung relativiert (BSG, Urteil vom 18. Oktober 2005, a. a. O. – zitiert nach Juris Rdnr. 38), ist dem vor
dem Hintergrund der bereits zitierten Gesetzesmaterialien zum AVmEG nicht zu folgen. Ebenfalls nicht zu folgen ist
dem Bundessozialgericht, soweit es festgestellt hat, die Erläuterungen zum RV-Nachhaltigkeitsgesetz hätten keinen
Niederschlag im § 72 Abs. 3 Nr. 1 SGB VI gefunden, weil diese Vorschrift nur auf beitragsfreie Zeiten abstelle, ohne
auch nur andeutungsweise zu erkennen zu geben, dass es auf deren Anrechenbarkeit ankomme (vgl. BSG, Urteil
vom 18. Oktober 2005, a. a. O. – zitiert nach Juris Rdnr. 39). Zutreffend ist zwar, dass es allein entscheidend ist, ob
Zeiten den Tatbestand einer beitragsfreien Zeit und damit den Tatbestand der Qualifikationsnorm des § 54 Abs. 4
SGB VI in seiner Ergänzung durch gesetzliche bestimmte Fallgruppen wie hier den § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI
erfüllen. Jedoch ist die vom 4. Senat des Bundessozialgerichts vorgenommene grammatikalische Auslegung der
Qualifikationsnorm des § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI i.d.F. des AVmEG nicht zwingend, dass der letzte Teilsatz
dieser Vorschrift nicht zum gesetzlich definierten Tatbestand einer Anrechnungszeit im Sinne von §§ 54 Abs. 4, 58
Abs. 1 SGB VI gehört, sondern allein als Anrechnungsvorschrift zu qualifizieren ist. Denn die Höchstdauerklausel des
letzten Teilsatzes kann in grammatikalischer Hinsicht auch in der Weise ausgelegt werden, dass die Zeiten
schulischer Ausbildung von vornherein in einer einschränkenden Weise nur als Anrechnungszeiten definiert werden,
soweit sie eine Dauer von insgesamt acht Jahren nicht überschreiten. Eine grammatikalische Auslegung in dem
vorstehend beschriebenen Sinne fügt sich auch besser in das Gesamtsystem der Rentenberechnung nach dem SGB
VI ein. Danach ist mit § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI eine allgemeine Grundregel aufgestellt worden, dass Zeiten
schulischer Ausbildung allgemein nur bis zur einer Höchstdauer von acht Jahren als Anrechnungszeit anzusehen
sind, die nur insoweit als allgemeine rentenrechtliche Zeiten im Sinne von § 54 Abs. 1 SGB VI Berücksichtigung
finden können. Hierauf deutet auch die systematische Stellung des § 58 SGB VI innerhalb des Fünften Titels des
Zweiten Unterabschnitts zum Zweiten Abschnitt des Zweiten Kapitels hin, der in den §§ 54 – 62 SGB VI Regelungen
zu den rentenrechtlichen Zeiten beinhaltet. Diese Vorschriften des Fünften Titels haben im Hinblick auf
rentenrechtliche Zeiten in der Regel definitorischen Charakter. Die allgemeine Definitionsregel der Höchstdauerklausel
hat damit nicht nur Bedeutung für die Bestimmung der 35-jährigen Wartezeit, sondern auch für die Ermittlung der
belegungsfähigen Kalendermonate. Soweit abweichend von der achtjährigen Höchstdauerklausel etwa bei der direkten
rentensteigernden Berücksichtigung der schulischen Ausbildungszeiten im Rahmen der Gesamtleistungsbewertung
eine Frist von drei Jahren angesetzt ist (vgl. § 74 Satz 3 SGB VI i.d.F. des AVmEG bzw. § 74 Satz 4 SGB VI i.d.F.
vom 27. Mai 2002 und § 263 Abs. 3 Satz 3 SGB VI), finden sich diese Vorschriften in den besonderen Titeln über die
Rentenhöhe (vgl. Dritter Unterabschnitt des Zweiten Abschnittes des Zweiten Kapitels sowie Fünfter Unterabschnitt
des Ersten Abschnittes des Fünften Kapitels). Hingegen hätte die Höchstdauerklausel des § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4
SGB VI nach dem derzeit geltenden Recht nach der Lesart des Bundessozialgerichts ausschließlich eine Bedeutung
für die Berechnung der 35-jährigen Wartezeit nach § 51 Abs. 3 SGB VI, so dass es in diesem Falle eher nahe gelegen
hätte, die nur mit einer Höchstdauer von acht Jahren als rentenrechtliche Zeiten zu berücksichtigenden Zeiten
schulischer Ausbildung im Rahmen der Vorschriften über die Wartezeiterfüllung zu regeln. Selbst wenn diese
systematischen Erwägungen weder in die eine noch in die andere Richtung zwingend sein sollten, hätte die nach
Lesart des Bundessozialgerichts zeitlich unbegrenzte Berücksichtigung schulischer Ausbildungszeiten im Rahmen
der Gesamtleistungsbewertung die Konsequenz, dass Zweit- oder Drittstudiengänge oder Ausbildungszeiten, welche
sogar Beitragszeiten um ein Vielfaches überschreiten, als nicht belegungsfähig und damit indirekt als rentensteigernd
berücksichtigt werden könnten. Dies widerspräche jedoch dem System der gesetzlichen Rentenversicherung, weil die
an sich dem Versicherungsprinzip widersprechende Berücksichtigung von Anrechnungszeiten als Zeiten ohne
Beitragsleistung eine Solidarleistung der Versichertengemeinschaft ist, weshalb der Gesetzgeber zur Vermeidung
einer übermäßigen Belastung der Versichertengemeinschaft davon abgesehen hat, Ausbildungszeiten schlechthin den
Charakter von Anrechnungszeiten zu verleihen (vgl. BSG, Urteil vom 29. März 1990 - 4 RA 37/89 - zitiert nach Juris).
Der Senat vermag auch keinen nicht zu tolerierenden Widerspruch zu erkennen, dass Anrechnungsausbildungszeiten
nur im Rahmen der Bewertung mit Entgeltpunkten oder der Bestimmung einer Wartezeit begrenzt werden können,
nicht jedoch bei der Bestimmung der Anzahl der belegungsfähigen Monate und den damit korrespondierenden
rentenrechtlichen Versicherungslücken (so aber BSG, Urteil vom 18. Oktober 2005, a. a. O., Rdnr. 46). Denn eine
Anerkennung von Ausbildungszeiten, die über eine Gesamtdauer von acht Jahren hinausgehen, als nicht
belegungsfähige Kalendermonate hat lediglich eine mittelbare und damit vergleichsweise geringe Auswirkung auf die
Höhe der Entgeltpunkte für beitragsfreie Zeiten, weil sich durch eine geringfügige Erhöhung der Anzahl der
belegungsfähigen Monate und des Divisors, durch den die Summe der Entgeltpunkte für Beitrags- und
Berücksichtigungszeiten geteilt wird (vgl. § 72 Abs. 1 SGB VI), der Durchschnittwert der Entgeltpunkte für
beitragsfreie Zeiten nur geringfügig verringert.
Vor dem Hintergrund, dass Zeiten schulischer Ausbildung aus den dargelegten Gründen höchstens bis zu einer Dauer
von acht Jahren berücksichtigt werden können und die insoweit streitbefangenen Zeiten über diese Höchstdauer
hinausgehen, bedarf es keiner Entscheidung, ob diese Zeiten auch deshalb nicht anzurechnen sind, weil der Kläger
seine Hochschulausbildung schon zuvor mit einem Diplom abgeschlossen hatte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil die Frage nicht höchstrichterlich geklärt ist, ob §
58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 letzter Teilsatz SGB VI i.d.F. des AVmEG den Tatbestand einer Anrechnungszeit regelt.
Soweit dem Urteil des BSG vom 18. Oktober 2005 zu entnehmen ist, dass auch die Höchstdauerklausel i.d.F. des
AVmEG eine Anrechnungsvoraussetzung ist, handelt es sich bei diesen Ausführungen um ein obiter dictum, von dem
eine Abweichung nach § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG nicht möglich ist.