Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 15.04.2010

LSG Berlin und Brandenburg: diabetes mellitus, behinderung, schwerhörigkeit, gesellschaft, chirurgie, klinik, arbeitsunfall, unfallversicherung, körperschaden, erwerbsfähigkeit

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 15.04.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 46 SB 2405/06
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 13 SB 152/07
Die auf Feststellung eines GdB von 100 ab März 2006 bis Juli 2009 gerichtete Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Verfahrens vor dem Landessozialgericht sind nicht zu erstatten. Die Revision wird
zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren noch über die Höhe des bei dem Kläger festzustellenden Grades der
Behinderung (GdB) für den Zeitraum von März 2006 bis Juli 2009.
Der 1938 geborenen Kläger, bei dem der Beklagte zuletzt einen GdB von 90 festgestellt hatte, beantragte im März
2006 die Neufeststellung wegen Verschlimmerung seiner Leiden und die Zuerkennung des Merkzeichens "RF". Auf
der Grundlage der gutachterlichen Stellungnahme des Allgemeinmediziners B vom 6. Juni 2006 lehnte der Beklagte
mit Bescheid vom 12. Juli 2006 eine Erhöhung des GdB ab. Auch die Voraussetzungen für die Feststellung des
Merkzeichens "RF" verneinte er. Aus Gründen der Vollständigkeit und Klarheit bezeichnete er die (verwaltungsintern
mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewerteten) Funktionsbeeinträchtigungen wie folgt:
a) durch gesetzliche Unfallversicherung anerkannter Körperschaden (Arbeitsunfall 1985, linkes Knie) (30), b) durch
gesetzliche Unfallversicherung anerkannter Körperschaden (Arbeitsunfall 1980, linker Außenknöchel) (10), c)
seelisches Leiden (40), d) Funktionsbehinderung des Hüftgelenks, Funktionsbehinderung des Kniegelenks (40), e)
Wirbelsäulenverformung, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Muskelreizerscheinungen (30), f)
Bluthochdruck, funktionelle Herzbeschwerden (30), g) Fettleber (10), h) Diabetes mellitus (30), i)
Funktionsbehinderung der Finger, Funktionsbehinderung des Schultergelenks links (20), j) Polyneuropathie (10), k)
Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen (10).
Hiergegen erhob der Kläger unter dem 21. Juli 2006 Widerspruch, den der Beklagte nach Einholung der
gutachterlichen Stellungnahme der Allgemeinmedizinerin Dr. H vom 22. August 2006 mit Widerspruchsbescheid vom
7. September 2006 zurückwies.
Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Er hat insbesondere
vorgebracht: Im Widerspruchsbescheid sei das Merkzeichen "RF" in den Vordergrund gestellt worden. So sei es
jedoch nicht gemeint gewesen. Vielmehr gehe es um alle Neuerkrankungen. Hierzu hat er insbesondere auf folgende
medizinische Unterlagen hingewiesen:
- Berichte der chirurgischen Praxis L und Dr. L vom 4. Januar und 22. Mai 2002, - Bericht des V Klinikums, Klinik für
Chirurgie, vom 31. Januar 2003, - Gutachten des Chirurgen PD Dr. L vom 19. Mai 2003, - Berichte der C, Augenklinik
vom 19. Mai 2004 und vom 11. Januar 2007, - Attest der HNO-Ärzte J und Dr. K vom 17. Mai 2006, - Bericht des
Kardiologen Dr. L vom 19. Mai 2006, - Attest des Nervenarztes Dr. H vom 22. Mai 2006.
Das Sozialgericht Berlin hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 1. Juni 2007 als unbegründet abgewiesen: Der
Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung der medizinischen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF", da es
an einer gültigen Anspruchsnorm fehle. Denn die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht verstoße gegen
höherrangiges Bundesrecht.
Mit der Berufung gegen diese Entscheidung wiederholt und vertieft der Kläger unter Vorlage weiterer medizinischer
Unterlagen sein Vorbringen in der ersten Instanz.
In der mündlichen Verhandlung vom 24. Februar 2009 vor dem Berichterstatter, dem die Berufung nach § 153 Abs. 5
Sozialgerichtsgesetz (SGG) mit Beschluss vom 25. Mai 2008 übertragen worden ist, hat der Kläger die Berufung
hinsichtlich des Merkzeichens "RF" zurückgenommen.
Es ist Beweis erhoben worden durch Einholung des fachärztlich-internistischen Gutachtens des Kardiologen Prof. Dr.
F vom 16. September 2009.
Mit Beschluss vom 15. April 2010 ist die Berufung an den Senat zurückübertragen worden.
Der Kläger beantragt
den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 12. Juli 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
7. September 2006 zu verpflichten, bei ihm ab März 2006 bis Juli 2009 einen Grad der Behinderung von 100
festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält seine Entscheidung für zutreffend.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegen-stand der mündlichen
Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die
Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Über die Berufung hat der Senat zu entscheiden. Da wegen der sich nach Übertragung auf den Berichterstatter
zeigenden Notwendigkeit einer weiteren Sachverhaltsaufklärung die Voraussetzungen des § 153 Abs. 5 SGG nicht
mehr vorliegen, war der Rechtsstreit auf den Senat zurückzuübertragen. Für diese Entscheidung war der Senat
zuständig. Denn dem Sozialgerichtsgesetz ist eine den Vorschriften des § 6 Abs. 3 Satz 1
Verwaltungsgerichtsordnung und des § 6 Abs. 3 Satz 1 Finanzgerichtsordnung entsprechende Regelung, wonach die
Rückübertragung durch den Einzelrichter vorzunehmen ist, fremd. Die Beteiligten sind zuvor angehört worden.
Gegenstand des Rechtsstreits ist – nach Rücknahme der Berufung hinsichtlich des Merkzeichens "RF" – noch die
Höhe des bei dem Kläger festzustellenden GdB von März 2006 bis Juli 2009. Seinem Schriftsatz vom 11. Oktober
2006 ist eindeutig zu entnehmen, dass er mit der Klage auch seinen Verschlimmerungsantrag vom 19. März 2006
weiterverfolgen wollte.
Der Umstand, dass der geltend gemachte Anspruch des Klägers vom Sozialgericht im Urteil vom 1. Juni 2007
übergangen worden ist, hindert den Senat nicht an einer Sachentscheidung, zumal die Beteiligten mit diesem
Heraufholen von Prozessresten einverstanden sind.
Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat in der Sache keinen Anspruch auf Festsetzung eines GdB von 100
von März 2006 bis Juli 2009.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als
sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30
Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind als antizipierte Sachverständigengutachten die vom
Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche
Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum in den
Fassungen von 2005 und 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung
(VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" in Form
einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine
grundsätzliche Änderung eingetreten wäre – abgelöst haben.
Das Vorbringen des Klägers einschließlich der von ihm eingereichten medizinischen Unterlagen und das Ergebnis der
Beweisaufnahme rechtfertigen nach Überzeugung des Senats nicht den Schluss, dass die Festsetzung eines GdB
von 90 den Kläger in seinen Rechten verletzt.
Der Chirurg PD Dr. L setzte in dem Gutachten vom 19. Mai 2003 für die Folgen des Unfalls vom 2. Januar 1985, die
schwere Kniegelenksverletzung links mit Ausriss des hinteren Kreuzbandes, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von
30 v.H. an. Es ist nicht zu beanstanden, dass der Beklagte diese Bewertung im Bescheid vom 12. Juli 2006 –
ausgewiesen als GdB von 30 – übernahm.
Ausweislich des von dem Kläger vorgelegten Berichts des V Klinikums, Klinik für Chirurgie, vom 31. Januar 2003 hat
er im Januar 2003 eine subkapitale Humerusfraktur links, eine Fraktur des Tuberculum maius humeri und
Rippenfrakturen erlitten. Diese Verletzungen können nicht als Behinderung anerkannt werden. Denn diese setzt nach
§ 1 Abs. 1 SGB IX eine über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten sich erstreckende Gesundheitsstörung
voraus. Hierfür gibt es keine Hinweise. Im Gegenteil finden derartige Folgen der Frakturen in der ausführlichen
Diagnose des Chirurg PD Dr. L in dem Gutachten vom 19. Mai 2003 keine Erwähnung.
Auf das Attest der HNO-Ärzte J und Dr. K vom 17. Mai 2006 mit beigefügtem Tonschwellenaudiogramm nahm der
Beklagte in den angefochtenen Bescheid als weitere Behinderung die Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen auf. Da für
den Tinnitus keine erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen dokumentiert sind, die nach Nr. 26.5 (S. 61)
der AHP 2008 bzw. nach Teil B Nr. 5.3 (Bl. 37) der Anlage zur VersMedV einen Einzel-GdB von 20 rechtfertigten, ist
die Zuerkennung eines Einzel-GdB von 10 durch den Beklagten angemessen.
Den Berichten der chirurgischen Praxis L und Dr. L vom 4. Januar und 22. Mai 2002 ist zu entnehmen, dass der
Kläger im Dezember 2001 eine Außenknöchelfraktur Weber B rechts und einer Prellung des rechten Handgelenks
erlitt. Die Prellung des Handgelenks verheilte folgenlos. Entgegen der Einschätzung der behandelnden Chirurgen im
Mai 2002 verblieb am rechten Fuß kein Dauerschaden. Denn in seinem Gutachten vom 19. Mai 2003 stellte der
Chirurg PD Dr. L bei der Untersuchung der Bewegungs- und Umfangsmaße nach der Neutral-Null-Methode am rechten
oberen Sprunggelenk keine Einschränkungen der Beweglichkeit beim Heben und Senken des Fußes fest (10 / 0 / 60
bei 20-30 / 0 / 40-50). Das linke untere Sprunggelenk wies eine normale Beweglichkeit (Fußaußenr. heben/senken)
von 1/1 auf.
Die im Attest des Nervenarztes Dr. H vom 22. Mai 2006 mitgeteilte leichte sensomotorische Polyneuropathie bei
Diabetes mellitus wurde von dem Beklagten im Bescheid vom 12. Juli 2006 – den Vorgaben in Nr. 26.3 (S. 50) der
AHP 2008 bzw. nach Teil B Nr. 3.11 (Bl. 28) der Anlage zur VersMedV entsprechend – mit einem GdB von 10
berücksichtigt.
In dem Bericht der C, Augenklinik, vom 19. Mai 2004 wurde ausgeführt, dass der Visus des rechten Auges 0,7 und
der des linken Auges 0,8 beträgt. Aus der nach Nr. 26.4 (S. 52) der AHP 2008 bzw. nach Teil B Nr. 4.3 (Bl. 30) der
Anlage zur VersMedV heranzuziehenden Tabelle der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft ergibt sich hieraus
ein GdB von 0.
Das Gericht hat insbesondere den vom Kläger vorgelegten Bericht des Kardiologen Dr. L vom 19. Mai 2006 zum
Anlass genommen, das Gutachten des Kardiologen Prof. Dr. F vom 16. September 2009 einzuholen. Nach
Untersuchung des Klägers ist der Sachverständige zu dem Ergebnis gekommen, dass im Rahmen der kardiologisch-
internistischen Erkrankungen keine höhergradigen Funktionsbeeinträchtigungen gesehen werden können. Der arterielle
Hypertonus ist unter der ambulanten Medikation gut eingestellt. Ein stattgehabter stummer Vorderwandinfarkt konnte
von dem Gutachter nicht bestätigt werden. Der Nachweis einer Wandbewegungsstörung als Korrelat einer
myokardialen Narbe war in der Echokardiographie nicht nachzuweisen, die myokardiale systolische Pumpfunktion ist
nicht eingeschränkt. Die von dem Kläger begehrte Zuerkennung eines höheren Einzel-GdB als 30 verbietet sich damit.
Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3
SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer
wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Nr. 19 Abs. 3 der AHP bzw. Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV
ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt,
und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das
Ausmaß der Behinderung größer wird. Der höchste Einzel-GdB von 40 für die Funktionsbehinderung des Hüftgelenks
und des Kniegelenks ist mit Rücksicht auf das ebenfalls mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewertende seelische
Leiden und die jeweils mit einem Einzel-GdB von 30 anzusetzenden Behinderungen des Klägers auf einen Gesamt-
GdB von 90 zu erhöhen. Die übrigen Behinderungen des Klägers führen zu keiner weiteren Heraussetzung. Denn nach
Nr. 19 Abs. 4 der AHP bzw. Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV führen zusätzliche leichte
Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der
Gesamtbeeinträchtigung. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach – wie
hier – nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision ist nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen. Im Hinblick auf die Fragen, ob nach einer Übertragung auf
den Berichterstatter gemäß § 153 Abs. 5 SGG der Rechtsstreit auf den Senat zurückübertragen werden kann und wer
für diese Entscheidung zuständig ist, hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung.