Urteil des LSG Bayern vom 28.08.2006
LSG Bayern: vorläufiger rechtsschutz, ärztliche verordnung, krankenpflege, hauptsache, form, gefahr, behandlung, paraplegie, abrechnung, entlassung
Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 28.08.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Landshut S 4 KR 176/06 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 4 B 588/06 KR ER
I. Der Beschluss des Sozialgerichts Landshut vom 7. Juli 2006 wird abgeändert. II. Die Antragsgegnerin wird
verpflichtet, dem Antragsteller vom 1. Juli 2006 bis 30. September 2006 Behandlungspflege 19 Stunden täglich zu
gewähren. III. Die Antragsgegnerin trägt drei Viertel der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Gründe:
I.
Streitig ist, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang dem Antragsteller häusliche Krankenpflege zu gewähren ist.
Der 1961 geborene Antragsteller ist Mitglied der Antragsgegnerin. Er leidet an einer kompletten Paraplegie mit
neurogenen Mastdarm- und Blasenfunktionsstörungen sowie einem Zustand nach Lungentuberkulose und COPD
Stadium IV mit rezidivierend auftretender Ateminsuffizienz und Sauerstoffabhängigkeit. Der Antragsteller befand sich
in stationärer Behandlung in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik M ... Von dort wurde er am 01.07.2006 auf
eigenen Wunsch nach Hause entlassen, nachdem die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 30.06.2006 die
Kostenübernahme in Höhe von 28,00 EUR pro Stunde für 24 Stunden pro Tag im Rahmen der Krankenbeobachtung
zugesagt hatte. Am 03.07.2006 verordnete der behandelnde Arzt des Klägers, Dr.G. , vom 01.07. bis 30.09.2006 u.a.
Palliativpflege für 24 Stunden. Bei der am 05.07.2006 durchgeführten Begutachtung zur Feststellung von
Pflegebedürftigkeit nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) XI wurde Pflegestufe III seit Juli 2006 empfohlen
(Gesamtzeitbedarf 305 Minuten). Mit Bescheid vom 04.07.2006, adressiert an Ambulante Pflege S. H. , und in
Durchschrift an den Antragsteller, wurde die Leistung der Krankenbeobachtung auf einschließlich 07.07.2006
begrenzt. Hiergegen legten sowohl der Antragsteller wie Frau H. Widerspruch ein. Am 05.07.2006 beantragte der
Bevollmächtigte des Antragstellers, die Antragsgegnerin zu verpflichten, den Antragsteller von allen entstehenden
Kosten von Vertragsärzten der Antragsgegnerin verordneten und von Pflegediensten erbrachten
Behandlungspflegeleistungen gemäß § 37 SGB V in Form der 24-stündigen Palliativpflege freizustellen. Es solle der
Wunsch des Antragstellers berücksichtigt werden, zu Hause zu sterben und nicht im Krankenhaus. Der Antragsteller
könne die sich derzeit auf ca. 20.160,00 EUR belaufenden Kosten für die Palliativpflege nicht selbst tragen.
Das Sozialgericht Landshut verpflichtete die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 07.07.2002 im Wege der
einstweiligen Anordnung, dem Antragsteller im Rahmen der häuslichen Krankenpflege entsprechend der Verordnung
von Dr.G. vom 03.07.2006 für die Zeit vom 01.07.2006 bis zum 30.09.2006 täglich auch die verordnete Palliativpflege
für 24 Stunden zu gewähren. Ein Anordnungsgrund liege darin, dass der Antragsteller die verordnete häusliche
Krankenpflege auch in Form der 24-stündigen Pflege benötige. Werde sie ihm nicht gewährt, bestehe Gefahr für Leib
und Leben oder er müsse gegen seinen Willen stationär behandelt werden. Auch ein Anordnungsanspruch sei
glaubhaft gemacht. Es liege eine ärztliche Verordnung vor. Die Antragsgegnerin habe die Kostenübernahme ab
07.07.2006 nicht mehr erklärt. Entsprechend der Entscheidung des Bundessozialgeichts (BSG) vom 10.11.2005 (B 3
KR 38/04 R) könne der Begriff der Behandlungspflege nicht auf die aus der Krankenbeobachtung resultierenden
konkreten situationsangemessenen Einzelmaßnahmen verengt werden.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin, die damit begründet wird, die
Regelungsanordnung bringe dem Kläger mehr, als er mit einer Klage erreichen könne. Die Leistungen der
Pflegeversicherung seien zeitmäßig nicht beachtet worden. Die Entscheidung nehme die Hauptsache vorweg, ohne zu
berücksichtigen, dass vom Aufwand der häuslichen Krankenpflege auf jeden Fall 305 Minuten Leistungszeiten der
Pflegeversicherung abzuziehen seien. Die Antragsgegnerin teilt mit, dass der Antragsteller Leistungen der Pflegestufe
III als Sachleistungen in Anspruch nehme, die auch abgerechnet und bezahlt werden. Vorgelegt wird eine
Stellungnahme zur Palliativpflege beim Antragsteller, erstellt durch die Pflegefachkraft T. B. am 09.08.2006. Danach
könne man als behandlungspflegerische Leistungen laut Aktenlage nachvollziehen: Medikamentengabe, Injektionen,
und Katheterisierung. Die spezielle Krankenbeobachtung sei eine einmalige Leistung, die Sauerstoffgabe keine
Behandlungspflege, sie sei bewusst aus dem Katalog der verordnungsfähigen Maßnahmen ausgeschlossen worden.
Die Antragsgegnerin hat den Widerspruch gegen den Bescheid vom 07.07.2006 mit Widerspruchsbescheid vom
28.07.2006 zurückgewiesen.
Sie beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts Landshut vom 07.07.2006 aufzuheben.
Der Bevollmächtigte des Antragstellers beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Im Beschwerdeverfahren erkenne die Antragsgegnerin an, dass ständige Anwesenheit einer Pflegeperson notwendig
sei und dass bei Auftreten von Kurzatmigkeit oder Zyanose einer Adaptierung der Sauerstoffmenge pro Minute
erforderlich sei. Die Situation sei nicht vorhersehbar und könne mehrfach täglich, teilweise auch mehrfach stündlich
auftreten. Deshalb bestehe der Anspruch des Antragstellers auf häusliche Krankenpflege in der verordneten Form. 24-
stündige Palliativpflege habe angeordnet werden müssen, da bei einer geringeren Anzahl von Stunden der
Antragsteller unweigerlich versterben würde.
Beigezogen sind die Akten des Sozialgerichts und der Antragsgegnerin, auf den Inhalt wird Bezug genommen.
II.
Die frist- und formgerecht eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist zulässig (§§ 172,
173, 174 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Beschwerde ist teilweise begründet, der angefochtene Beschluss ist insoweit abzuändern, als die Antragsgegnerin
zur Gewährung der verordneten Palliativpflege für 24 Stunden täglich verpflichtet wurde. Die Verpflichtung ist auf
täglich 19 Stunden zu begrenzen.
Wie das Sozialgericht zu Recht entschieden hat, sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen
Anordnung hier gegeben. Gemäß § 86 b Abs.2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige
Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des
bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert
werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen
Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Antrag einer einstweiligen Anordnung setzt voraus,
dass ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund gegeben sind. Beide Voraussetzungen sind glaubhaft zu
machen (§ 86b Abs.2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs.2 Zivilprozessordnung - ZPO -).
Bei einer Regelungsanordnung, um die es hier geht, liegt der Anordnungsanspruch im materiellen Recht, für das
vorläufiger Rechtsschutz beantragt wird. Der Anordnungsgrund besteht in der Eilbedürftigkeit einer vorläufigen
Regelung. Diese Eilbedürftigkeit wurde von der Antragsgegnerin nicht bestritten. Es steht fest, dass der Antragsteller
ab seiner Entlassung aus dem Krankenhaus sofort auf pflegerische Betreuung rund um die Uhr angewiesen ist. Diese
Betreuung kann, was ebenfalls nicht bestritten ist, nicht von Angehörigen des Antragstellers geleistet werden.
Bezüglich des Anordnungsanspruchs, nämlich dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 37 Abs.2 Satz 1 SGB V,
wonach Versicherte in ihrem Haushalt oder in ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege erhalten,
wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist, hält der Senat die Ausführungen der
Antragsgegnerin für erwägenswert. Vom behandelnden Arzt wurde nicht für 24 Stunden Behandlungspflege verordnet,
sondern Palliativpflege gemäß § 39a Abs.2 SGB V. Ob diese Palliativpflege im Fall des Antragstellers überhaupt und
falls ja, in welchem Umfang Behandlungspflege bedeutet, wäre im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens genauer zu
überprüfen. Wegen des besonderen Zustandes des Antragstellers und insbesondere der kurzen Dauer der
Leistungsverpflichtung der Antragsgegnerin durch das Sozialgericht stellt der Senat jedoch seine Bedenken zurück
und geht von der Notwendigkeit von Behandlungspflege aus. Dem Sozialgericht ist jedoch nicht zu folgen, wenn es
von einer 24-stündigen Erforderlichkeit der Behandlungspflege ausgeht. Der Antragsteller erhält Leistungen der
Pflegestufe III nach dem SGB XI. Im Pflegegutachten wird von Leistungszeiten von 305 Minuten ausgegangen. Unter
Berücksichtigung des Urteils des BSG vom 10.11.2005 (B 3 KR 38/04 R) und der weiteren Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts zum Zusammentreffen von Krankenbeobachtung und Grundpflege ist davon auszugehen, dass
während der Erbringung der Leistung in der Grundpflege die Behandlungspflege grundsätzlich in den Hintergrund tritt.
Das bedeutet, dass vom angenommenen behandlungspflegerischen Zeitbedarf von 24 Stunden 305 Minuten (5
Stunden) abzusetzen sind. Es verbleibt damit ein Anspruch auf Behandlungspflege von 19 Stunden täglich in der Zeit
vom 01.07.2006 bis 30.09.2006.
Mit dieser Entscheidung wird die Hauptsache nicht vorweggenommen. Es bleibt der Antragsgegnerin unbenommen,
mit der Leistungserbringerin lediglich eine vorläufige Abrechnung vorzunehmen. Zusätzlich weist der Senat auf seine
früheren Entscheidungen, die vorläufige Verpflichtung zur Übernahme von häuslicher Krankenpflege für 24 Stunden
(Beschluss vom 16.02.2006, L 4 B 48/06 KR ER) und 20 Stunden täglich betreffend (Beschluss vom 08.07.2005, L 4
B 225/05 KR ER) hin.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Verfahrensausgang.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).