Urteil des LSG Bayern vom 05.07.2006

LSG Bayern: medikamentöse behandlung, vorläufiger rechtsschutz, körperliche unversehrtheit, hauptsache, eltern, gefahr, ernährung, stoffwechselkrankheit, familie, versorgung

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 05.07.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Würzburg S 3 KR 407/06 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 5 B 263/06 KR ER
I. Der Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 10.03.2006 wird insoweit abgeändert, als die Antragsgegnerin
verpflichtet wird, die Antragstellerin ab 19.01.2006 bis Ende 2007, längstens bis zu einer früheren rechtskräftigen
Entscheidung in der Hauptsache von den Kosten der Umkonfektionierung des Präparats Ammonaps in Kapseln
aufgrund vertragsärztlicher Verordnung vorläufig freizustellen. II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens auf
einstweiligen Rechtsschutz.
Gründe:
I.
Im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes begehrt die Antragstellerin, die Antragsgegnerin zur Kostenübernahme für
die Umkonfektionierung eines Medikaments von Tabletten-/Granulatform in Kapselform zu verurteilen.
Die 1994 geborene bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversicherte Antragstellerin leidet seit Geburt an der
selten auftretenden Stoffwechselstörung Ornithin-Transkarbamylase Defekt. Diese Erkrankung wird sowohl diätetisch
als auch medikamentös behandelt durch die tägliche Einnahme von 22 Tabletten Ammonaps, 12 Kapseln
Aminosäuren, 12 Kapseln Natriumbenzoat und 8 Gramm Citrullinpulver. Die entsprechende medikamentöse
Versorgung trägt die Beklagte, welche in der Vergangenheit auch die Kosten dafür übernommen hatte, dass das
Medikament Ammonaps statt in Tabletten- oder Granulatform in Kapseln umkonfektioniert wurde, welche leichter zu
schlucken und zu verabreichen sind. Mit Bescheid vom 09.08.2005/Widerspruchsbescheid vom 22.09.2005 stellte die
Beklagte auf Grund eines Gutachtens des MDK nach Aktenlage vom 29.07.2005 die Kostenübernahme der
Umkonfektionierung in Kapselform aus Wirtschaftlichkeitsgründen ein. Dagegen hat die Antragstellerin Klage vor das
Sozialgericht Würzburg erhoben (Az.: S 3 KR 349/05 LSV).
Mit dem am 19.01.2006 beim Sozialgericht Würzburg eingegangenen Antrag hat die Antragstellerin begehrt, die
Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zur Kostenübernahme für die Umkonfektionierung des
Medikaments Ammonaps in Kapseln zu verpflichten. Sie hat vorgetragen, die Einnahme des Medikaments
Ammonaps als Granulat führe häufig zum Erbrechen. Die Einnahme in Tablettenform sei wegen deren Größe nicht
möglich, zumal die Antragstellerin unverträgliche Mengen an Flüssigkeiten zu sich nehmen müsste, um 22 Tabletten
schlucken zu können. Sie hat ergänzend auf eine Stellungnahme des Kinder- und Jugendpsychiaters J. T. vom
15.12.2005 Bezug genommen, welcher einen entstandenen Räusper-Tick beschrieben und auf eine drohende
mögliche lebensbedrohliche Entgleisung des Krankheitsbildes aufmerksam gemacht hat. In einer Stellungnahme vom
25.01.2006 hat der MDK eine medizinische Notwendigkeit für die Umkonfektionierung nicht gesehen und für
auftretende alters- und entwicklungstypische Oppositionshaltungen der Antragstellerin psychische bzw.
psychiatrische oder verhaltenstherapeutische Maßnahmen empfohlen. Die frühere Einnahme in Kapselform sei wegen
des Kleinkindalters erforderlich gewesen, der elfjährigen Antragstellerin sei jedoch die Einnahme in Tablettenform
zuzumuten. In Erwiderung hat die Antragstellerin eine Stellungnahme des Chefarztes des Perinatal- und
Stoffwechselzentrums R. Prof.Dr.T. vorgelegt (07.02.2006), dass es mit beginnender Pubertät häufig zu Eltern-Kind-
Konflikten komme, welche die umfangreiche medikamentöse Behandlung in Fällen wie der Antragstellerin erschwere.
Mit Beschluss vom 10.03.2006 hat das Sozialgericht Würzburg den Antrag abgewiesen und zur Begründung im
Wesentlichen ausgeführt, es fehle an einem Anordnungsanspruch, denn ein Obsiegen der Antragstellerin im
Hauptsacheverfahren sei unwahrscheinlich. Sie sei grundsätzlich in der Lage, Tabletten zu schlucken, psychische
Belastungen seien durch entsprechende Behandlungen anzugehen. Zudem sei nicht dargetan, dass die Antragstellerin
zur Vorfinanzierung der Kosten außer Stande sei.
Dagegen hat die Antragstellerin Beschwerde eingelegt und sich auf eine Stellungnahme des Prof.Dr.M. (Facharzt für
Kinderheilkunde, Stoffwechselspezialist der C. in B. - 08.03.2006) bezogen. Sie hat geltend gemacht, bereits vom 08.
bis 10.03.2006 wegen zu hohen Ammoniakpegels stationär behandelt worden zu sein und mangels eigenen
Einkommens die Umkonfektionierung nicht tragen zu können. Prof.Dr.M. hat ausgeführt, die Nahrungsaufnahme der
Antragstellerin sei bereits durch die diätetischen Maßnahmen stark eingeschränkt und belastet, was sich auch auf
eine Einnahme der Ammonaps-Tabletten auswirke. Diese müssten mit so großen Flüssigkeitsmengen eingetrunken
werden, dass die physiologische Kapazität des Magens unter ohnehin erschwerten Bedingungen erreicht werde, was
zu Einnahmefehlern führe. Die Vermischung des Essens mit Ammonaps-Granulat sei wegen der diätetischen
Vorgaben nicht möglich. Die Nichteinnahme oder nicht richtige Einnahme des Medikaments Ammonaps führe zu kurz-
, mittel- und langfristigen Folgen, welche in einem schweren Hirnschaden oder weiteren Stoffwechselstörungen
bestehen könnten. Ergänzend ist von Seiten der Antragstellerin vorgetragen worden, die monatlichen Mehrkosten der
Kapseln von 1.936,23 EUR seien bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen der Eltern von rund 21.500,00 EUR
nicht finanzierbar. Zur Familie gehörten zwei weitere schulpflichtige Kinder.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Würzburg vom 10.03.2006 die Antragsgegnerin bis zur
rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu verurteilen, die Kosten der Umkonfektionierung des
Arzneimittels Ammonaps in Kapseln zu übernehmen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 10.03.2006
zurückzuweisen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht gemäß Erklärung vom 25.04.2006 nicht
abgeholfen hat, ist zulässig (§§ 172, 173, 174 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Sie ist auch insoweit begründet, als die Antragsgegnerin verpflichtet wird, die Antragstellerin von den Kosten für die
Umkonfektionierung des Medikaments Ammonaps von Tablettenform in Kapselform, soweit dies vertragsärztlich
verordnet ist, bis Ende 2007 bzw. längstens bis zu einer früheren rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache ab
Datum der Antragstellung vorläufig freizustellen. Denn es spricht mehr dafür als dagegen, dass die Versagung
einstweiligen Rechtsschutzes zu schweren und unzumutbaren Nachteilen für die Antragstellerin führen kann. Nach
Maßgabe der vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen begründet das Abwarten akuter Krankheitserscheinungen ein
erhöhtes Risiko des Entgleisens der angeborenen Stoffwechselkrankheit der noch nicht zwölfjährigen Klägerin mit der
konkreten Gefahr von Folge- und Dauerschäden. Nicht zuletzt in Anbetracht dieser im Kindheitsalter drohenden
Schäden aus der bei der Klägerin vorliegenden seltenen Stoffwechselkrankheit wird die Antragsgegnerin einstweilen
zur entsprechenden Kostenübernahme verpflichtet.
Gemäß § 86b Abs.2 SGG in der Fassung des 6. SGG-Änderungsgesetzes vom 17.08.2001 (BGBl.I S.2144) kann das
Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, falls die
Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des
Antragstellers vereitelt oder erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind
auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Antrag einer einstweiligen Anordnung
setzt voraus, dass ein Anordnungsgrund, das heißt Eilbedürftigkeit (Dringlichkeit) der begehrten Sicherung oder
Regelung glaubhaft gemacht ist. Der zusätzlich zu fordernde Anordnungsanspruch bezieht sich auf das materielle
Recht, für das vorläufiger Rechtsschutz beantragt wird. Beide Voraussetzungen sind vorliegend in ausreichendem
Maße glaubhaft gemacht (§ 86b Abs.2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 ZPO).
Der Senat sieht auf Grund einer im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen und
pauschalen Prüfung der Sachlage sowie einer auf diesem Boden durchgeführten Prüfung der Rechtslage die
Voraussetzungen eines Anspruchs der Antragstellerin auf Fortsetzung der Therapie mit Ammonaps-Kapseln gemäß §
27 Abs.1 Satz 1, Satz 2 Nr.1 SGB V jedenfalls ab Antragstellung zumindest bis Ende 2007, längstens bis zu einer
früheren rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache als erfüllt an. Nach der in der Beschwerdeinstanz als
weiterer Tatsacheninstanz neu vorgelegten Stellungnahme des Prof.Dr.M. sowie nach den bisher unstreitigen
Tatsachen leidet die noch nicht zwölfjährige Klägerin an einer angeborenen, seltenen Stoffwechselstörung, welche
ohne entsprechende medizinische Behandlung zu schweren Hirnschäden und zum Tod führt. Die Antragsgegnerin
übernimmt dafür die notwendige medizinische Behandlung, welche in einer diätetischen Ernährung besteht, die nur
etwa 20 % der normal aufgenommenen Eiweißmenge enthält. Zudem trägt die Antragsgegnerin die Kosten von
insgesamt 46 Feststoffeinheiten dreier verschiedener Medikamente, davon 22 Einheiten Ammonaps und 8 Gramm
Medikamentenpulver in Flüssigkeit, die die Antragstellerin pro Tag zu sich nimmt.
In der Vergangenheit hat die Antragsgegnerin die Kosten dafür übernommen, dass die 22 pro Tag einzunehmenden
Feststoffeinheiten Ammonaps nicht in Tabletten- oder Granulatform gegeben, sondern in leicht zu schluckende
Kapseln umkonfektioniert werden. Die weitere Kostenübernahme für diese Umkonfektionierung hat die
Antragsgegnerin mit Bescheid vom 09.08.2005/Widerspruchsbescheid vom 22.09.2005 aus
Wirtschaftlichkeitsgründen abgelehnt, zumal auch eine medizinische Notwendigkeit der Darreichung in Kapselform bei
der inzwischen größer gewordenen Antragstellerin nicht mehr vorliege.
Die darauf erfolgende Medikation in Tablettenform ist zeitlich einhergegangen mit dem Auftreten eines Räusper-Ticks,
mit Verweigerungshaltungen der Antragstellerin, mit Oppositionshaltungen gegenüber den die Behandlung
überwachenden Eltern sowie mit stationären Krankenhausaufenthalten infolge unzutreffender Stoffwechselmedikation.
Ob dies tatsächlich ausschließlich auf die Umstellung der Darreichungsform zurückzuführen ist oder ob dafür alters-
und entwicklungstypische Erscheinungen ausschließlich relevant sind, kann im Wege des einstweiligen
Rechtsschutzverfahrens nicht aufgeklärt werden, dies muss vielmehr dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren genügt es, dass die Antragstellerin durch die Bescheinigung des Prof.Dr.M.
hinreichend glaubhaft gemacht hat, dass die genannten Folgen auf die Nichtmehreinnahme in Kapselform
zurückzuführen ist. Wie Prof. Dr.M. überzeugend ausgeführt hat, muss die Antragstellerin 46 Kapseln pro Tag an
Medikamenten zu sich nehmen. Bei Ammonaps handelt es sich um relativ große Tabletten mit rauer Oberfläche, die
mit erheblichen Flüssigkeitsmengen - entsprechend auch der Stellungnahme des Medizinischen Dienstes -
eingenommen werden müssen. Diese Mengen sind nach der überzeugenden Stellungnahme des Prof.Dr.M. so groß,
dass dadurch der Magen bereits gefüllt wird und Einnahmefehler immer wieder auftreten. Eine Verabreichung in
Granulat ist nach der insoweit ebenfalls überzeugenden Stellungnahme des Prof.Dr.M. nicht möglich, weil die
Antragstellerin im Rahmen der diätetischen Ernährung nicht in der Lage ist, das Granulat ausreichend mit ihren
Mahlzeiten zu vermischen.
Es sind somit abzuwägen die glaubhaft gemachten möglichen Folgen der Nichteinnahme in Kapselform, welche in
Anbetracht des kindlichen Entwicklungsstadiums der Antragstellerin nochmals besonderes Gewicht erhalten, und die
Interessen der Antragsgegnerin an einer wirtschaftlichen medikamentösen Versorgung. Dabei entsteht jedenfalls im
Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz ein Überwiegen zu Gunsten der Interessen der Antragstellerin, zumal die
Antragsgegnerin nicht ausreichend dargetan hat, warum die Antragstellerin gerade mit Erreichen des zehnten
Lebensjahres in der Lage sein sollte, Ammonaps nunmehr in Tablettenform zu sich zu nehmen. Auf die mögliche
Behandlung psychischer Folgen und die Übernahme der entsprechenden Behandlungskosten braucht sich die
Antragstellerin nicht verweisen zu lassen.
Die Antragstellerin hat auch ausreichend glaubhaft gemacht, dass sie zur Kostenübernahme selbst nicht in der Lage
ist. Sie braucht sich insoweit nicht auf einen unterhaltsrechtlichen Anspruch gegenüber ihren Eltern verweisen zu
lassen, sie darf vielmehr den gesetzlichen Anspruch auf Heilbehandlung und Kostenübernahme gegenüber der
Antragsgegnerin geltend machen.
Im Übrigen spricht auch eine Folgenabwägung zwischen dem verfassungsrechtlich geschützten Anspruch auf Leben
und körperliche Unversehrtheit (Art.2 Abs.2 Satz 1 Grundgesetz) und der daraus folgenden allgemeinen Pflicht der
staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor diese Rechtsgüter zu stellen, mit den Positionen der
Antragsgegnerin für einen Anspruch auf Kostenerstattung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren. Denn bei der
Antragstellerin besteht eine gravierende Erkrankung mit erhöhtem Risiko einer progredienten und irreversiblen
Schädigung des Gesundheitssystems bei fehlender Behandlung mit der streitigen Präparatsform, welches ein
zusätzliches Überwiegen ihrer Interessen ergibt.
Schließlich ist die Antragstellerin auch finanziell nicht in der Lage, die Kosten der Kapselumkonfektionierung zu
tragen. Diese belaufen sich nach den ausreichenden Glaubhaftmachungen auf die Differenz von monatlich 4.705,20
EUR (Kapsel)./. 2.769,01 EUR (Granulat) = 1.936,24 EUR. Diese Kosten kann die Antragstellerin, die ohne eigene
Einkünfte ist und deren Vater als Alleinverdiener einer 4-köpfigen Familie lt. Einkommensteuerbescheid von 2003 aus
Land- und Forswirtschaft ein zu versteuerndes Einkommen von ca. 21.500,00 EUR erzielt, nicht selbst tragen. Ein
eigenhändiges Umkonfektionieren ist der Antragstellerin nicht zuzumuten. Etwas anderes könnte sich nur ergeben,
falls pharmakologisch und medizinisch unbedenklich eine Umkonfektionierung in einer Apotheke möglich wäre.
Auf die Beschwerde war deshalb die Antragsgegnerin zur entsprechenden Leistung zu verpflichten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).