Urteil des LSG Bayern vom 17.09.2003
LSG Bayern: unbestimmte dauer, rente, leistungsfähigkeit, ausstattung, beruf, zusammenwirken, arbeitsmarkt, erwerbstätigkeit, hinderungsgrund, psychiatrie
Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 17.09.2003 (rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 10 RJ 207/00
Bayerisches Landessozialgericht L 20 RJ 718/00
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 24.10.2000 aufgehoben und die
Klage abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Der 1946 geborene Kläger hat den Beruf des Metzgers erlernt (Prüfung 1965) und hat in diesem Beruf, zunächst im
elterlichen Geschäft, später im Schlachthof bis 1973 gearbeitet. Von 1974 an war er bei der Firma Q. als
Versandarbeiter versicherungspflichtig beschäftigt. Seit 08.09.1997 bestand Arbeitsunfähigkeit, abwechselnd mit
Arbeitslosigkeit.
Ein erster Rentenantrag des Klägers vom 29.12.1997 ist mit Bescheid der Beklagten vom 17.02.1998 und
Widerspruchsbescheid vom 02.06.1998 abgelehnt worden. Die dagegen eingelegte Klage hat der Kläger am
21.04.1999 zurückgenommen. Am 14.09.1999 beantragte der Kläger erneut die Gewährung von Rente wegen Berufs-
bzw Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte ließ ihn durch den Sozialmediziner Dr.L. untersuchen, der in seinem Gutachten
vom 11.10.1999 zu dem Ergebnis kam, dass der Kläger weiterhin leichte Arbeiten in Vollschicht leisten könne.
Daraufhin lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 19.10.1999 ab, da der Kläger nicht berufs- oder
erwerbsunfähig sei. Den dagegen eingelegten Widerspruch, den der Kläger mit einem Attest des Allgemeinarztes
Dr.V. begründete, wies die Beklagte mit Bescheid vom 08.02.2000 zurück. Der Kläger sei aufgrund seines beruflichen
Werdeganges auf das gesamte Tätigkeitsfeld des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar.
Dagegen hat der Kläger am 22.02.2000 Klage beim SG Nürnberg erhoben. Das SG hat einen Befundbericht des
Allgemeinarztes Dr.V. zum Verfahren beigenommen und den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.H. zum ärztlichen
Sachverständigen bestellt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 10.07.2000 die Diagnosen gestellt: Abhängige
Persönlichkeitsstörung, unterdurchschnittliche Intelligenz an der Grenze zur leichten Intelligenzminderung. Der
Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass dem Kläger die Verrichtung leichter und mittelschwerer Tätigkeiten in
Vollschicht weiterhin zuzumuten sei. Es könne davon ausgegangen werden, dass der Kläger einen Adaptionsprozess
im Erwerbsleben erfolgreich absolviert habe. Trotz seiner psychischen Beeinträchtigungen seien die Fähigkeiten, die
eine Teilnahme am Erwerbsleben ermöglichten, nicht wesentlich gemindert. Aufgrund seiner intellektuellen und
kognitiven Ausstattung könne er aber nur sehr einfache Tätigkeiten in einem überschaubaren Rahmen ohne Zeitdruck
erfüllen. Besondere Anforderungen an die Eingewöhnungsfähigkeit und an die Erlernbarkeit neuer Tätigkeiten dürften
nicht gestellt werden. Arbeitsplätze mit Publikumsverkehr sollten vermieden werden. Der Orthopäde Dr.S. hat auf
Veranlassung des SG das weitere Gutachten vom 07.09.2000 erstattet. Auch er hat den Kläger für fähig erachtet,
zumindest körperlich leichte Arbeiten in Vollschicht zu leisten (bei Beachtung einiger qualitativer Einschränkungen).
Schließlich hat der Internist und Sozialmediziner Dr.G. das weitere Gutachten vom 24.10.2000 nach ambulanter
Untersuchung des Klägers erstellt. Er vertrat die Auffassung, dass der Kläger eine vollschichtige Tätigkeit unter
betriebsüblichen Bedingungen nicht mehr leisten könne und schätzte die Einsatzfähigkeit mit bis unter halbschichtig
ein. Es seien Zweifel berechtigt, ob sich der Kläger auf eine andere, auch leichte Tätigkeit, hinreichend umstellen
könne. Als Versandarbeiter könne er keinesfalls mehr arbeiten. Wenn schon Dr.H. die Einschränkung gemacht habe,
dass der Kläger auf Tätigkeiten einfachster geistiger Art beschränkt sei, so verstehe er - Dr.G. - dies so, dass er
Tätigkeiten nach globalen Anweisungen nicht mehr ausführen könne, sondern auf direkte Anweisungen hinsichtlich
der einzelnen Tätigkeiten angewiesen sei. Da er bei dem derzeitigen Leistungsprofil des Klägers Tätigkeiten unter
betriebsüblichen Bedingungen nicht mehr für durchführbar halte, sei er zu dem Ergebnis einer zeitlichen
Einschränkung auf unter halbschichtig gekommen. Mit Urteil vom 24.10.2000 hat das SG die Beklagte unter
Aufhebung des Bescheides vom 19.10.1999 idF des Widerspruchsbescheides vom 08.02.2000 verurteilt, dem Kläger
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 01.10.1999 zu leisten. Der Kläger sei ab Rentenantragsstellung nurmehr in der
Lage, eine weniger als halbschichtige Tätigkeit zu verrichten. Mit dem Sachverständigen Dr.G. sei davon
auszugehen, dass der Kläger Arbeiten unter betriebsüblichen Bedingungen nicht mehr durchführen könne und deshalb
auch in seiner zeitlichen Leistungsfähigkeit eingeschränkt sei. Die Rente an den Kläger sei auf unbestimmte Dauer zu
leisten, da eine Leistungsminderung auf nicht absehbare Zeit vorliege und der Anspruch auf Rente nicht von der
Arbeitsmarktlage abhängig sei.
Gegen dieses Urteil richtet sich die am 21.12.2000 beim Bayer. Landessozialgericht eingegangene Berufung der
Beklagten. Diese macht geltend, im Vordergrund der Leistungseinschränkung beim Kläger stehe dessen
Intelligenzminderung (Minderbegabung) und die insbesondere von Dr.H. beschriebene abhängige Persönlichkeit. Diese
Behinderungen habe der Kläger jedoch bereits in das Erwerbsleben eingebracht; sie hätten ihn nicht gehindert, eine
über 10-jährige Tätigkeit als Metzger bei verschiedenen Arbeitgebern und eine über 20-jährige Tätigkeit als
Versandarbeiter bei der Firma Q. auszuüben. Eine erhebliche Intelligenzminderung habe beim Kläger zu keiner Zeit
vorgelegen, was schon durch den erfolgreich absolvierten Berufsabschluss belegt werde. Das SG habe seine
Entscheidung allein auf das Gutachten von Dr.G. gestützt. Auch dieser habe jedoch die Ansicht vertreten, dass
alleine vom körperlichen bzw nervlichen Leistungsvermögen eine vollschichtige leichte Arbeit möglich wäre. Der
Kläger sei insgesamt nicht so schwer beeinträchtigt, dass er vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre. Der Senat hat
einen Befundbericht des Allgemeinarztes Dr.V. vom 27.11.2001 zum Verfahren beigenommen, der auch weitere
ärztliche Unterlagen übersandt hat (zwei Berichte des Nervenarztes L.). Auf Veranlassung des Senats hat der Arzt für
Neurologie und Psychiatrie Dr.W. das Gutachten vom 18.06.2002 nach ambulanter Untersuchung des Klägers
erstattet. Er hat als Diagnose genannt: Einfache Persönlichkeitsstruktur ohne Bildungsgrad und mit
unterdurchschnittlicher intellektueller Leistungsfähigkeit ohne sekundäre Behinderungen dadurch; abgeklungene
frühere ängstlich-depressive Verlustreaktion, rentenneurotische Fixierung; Lumbalsyndrom ohne radikuläre Störungen.
Der Kläger könne weiterhin leichte und streckenweise mittelschwere Arbeiten verrichten, die möglichst im
Wechselrhythmus erfolgen sollten. Entsprechend seiner einfachen bis unter- durchschnittlichen mentalen Ausstattung
könne er nur relativ anspruchslos anlernbare Arbeiten verrichten, die allenfalls durchschnittliche Anforderungen an das
Konzentrations- und Reaktionsvermögen stellten. Im Rahmen der Vielfalt von anspruchslosen
Beschäftigungsmöglichkeiten stelle sein Befinden keinen grundsätzlichen Hinderungsgrund für eine Erwerbstätigkeit
dar.
Mit Beschlüssen des Amtsgerichts Nürnberg - Vormundschaftsgericht - vom 23.09.2002 und vom 03.04.2003 wurde
für den Kläger Betreuung angeordnet. Im Rahmen des Betreuungsverfahrens hat Dr.P. die Gutachten vom 17.11.2002
und vom 19.03.2003 erstattet. Die Beklagte hat zu diesen Gutachten Stellung genommen und hält den Kläger
weiterhin für vollschichtig einsatzfähig im Rahmen der von Dr.W. abgegebenen Beurteilung. Auch Dr.W. hat im
Hinblick auf die vorgenannten Gutachten von Dr.P. eine ergänzende Stellungnahme vom 01.07.2003 zu seinem
Gutachten abgegeben; er verbleibt bei der vorgenommenen Leistungseinschätzung.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG Nürnberg vom 24.10.2000 aufzuheben und die Klage (gegen den Bescheid
vom 19.10.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.02.2000) abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung der Beklagten kostenpflichtig zurückzuweisen.
Dem Senat haben die Verwaltungsakte der Beklagten und die Prozessakten des SG Nürnberg sowie die
Leistungsakte des Arbeitsamtes Nürnberg und die Akte des Amtsgerichts Nürnberg vorgelegen. Wegen weiterer
Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 SGG) und auch im Übrigen zulässig.
Das Rechtsmittel der Beklagten erweist sich als begründet. Der Kläger war und ist nicht erwerbsunfähig im Sinne des
§ 44 Abs 2 SGB VI in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung. Auch eine volle oder teilweise Erwerbsminderung im
Sinne der seit 01.01.2001 geltenden Neuregelung des § 43 SGB VI liegt bei ihm nicht vor. Die Behinderungen des
Klägers resultieren im Wesentlichen aus der ärztlich festgestellten einfachen Persönlichkeitsstruktur mit
unterdurchschnittlicher intellektueller Leistungsfähigkeit (ohne sekundäre soziale Behinderung dadurch) bei
abgeklungener ängstlich-depressiver Verlustreaktion und rentenneurotischer Fixierung. Sie sind seit 1999 durch
mehrere Gutachten und ärztliche Befundberichte ausführlich beschrieben und dokumentiert. Das beim Kläger im
Vordergrund stehende, vorstehend aufgezeigte Beschwerdebild hindert diesen aber nicht, zumindest leichte,
streckenweise auch mittelschwere Arbeiten unter betriebsüblichen Bedingungen in Vollschicht zu verrichten. Das SG
hat die Verurteilung der Beklagten zur Rentengewährung allein auf das Gutachten von Dr.G. vom 24.10.2000 gestützt.
Dieser hat in der Kombination und im Zusammenwirken von Schäden am Bewegungsapparat und den geminderten
intellektuellen Fähigkeiten des Klägers eine Umstellungs- bzw. Anlernfähigkeit für neue Tätigkeiten verneint; er hat
daraus auch den Schluss gezogen, dass der Kläger unter betriebsüblichen Bedingungen nicht mehr eingesetzt werden
könne und dass sein zeitliches Leistungsvermögen auf unter halbschichtig abgesunken sei. Diese
Schlussfolgerungen sind durch die Beweiserhebung im Berufungsverfahren nicht bestätigt worden. Schon Dr.H. hat in
seinem ausführlichen Gutachten vom 10.07.2000 die Auffassung vertreten, dass der Kläger im Rahmen seiner
intellektuellen Fähigkeiten, die ihm auch bis dahin zur Verfügung gestanden hatten, weiterhin in Vollschicht tätig sein
kann (für leichte und mittelschwere Arbeiten). Auch der Orthopäde Dr.S. ist im Gutachten vom 07.09.2000 zu dem
Ergebnis gelangt, dass das Leistungsvermögen des Klägers zumindest für körperlich leichte Arbeiten nicht zeitlich
eingeschränkt ist. Dr.W. hat sich in seinem Gutachten vom 18.06.2002 mit Stellungnahme vom 01.07.2003 dieser
Leistungsbeurteilung im Ergebnis angeschlossen. Er konnte beim Kläger keine krankheitswertigen psychiatrischen
Störungen feststellen und hat insbesondere herausgestellt, dass in allen vorausgegangenen Gutachten die
psychiatrischen Befunde hinsichtlich einer depressiven Verstimmung immer nur leichtgradig gewesen sind und nicht
ausreichend zur Feststellung einer klaren psychiatrischen Erkrankung. Die beim Kläger anlässlich des Todes seiner
Mutter im Jahre 1995 eingetretene Trauerreaktion ist weitgehend überwunden. Es ist jetzt keine derartige Reaktion
und keine depressive Erkrankung mehr nachweisbar, auch kein hirnorganischer Abbauprozess. Von einem
ungünstigen Zusammenwirken von Wirbelsäulenbeschwerden und geistiger Beeinträchtigung konnte der ärztliche
Sachverständige nichts erkennen; er wich dabei mit seinen Untersuchungsergebnissen ausdrücklich von der
Auffassung von Dr.G. ab. Der Kläger wird deshalb von ihm weiterhin als geeignet angesehen, leichte und
streckenweise mittelschwere Arbeiten, im Gesamtverlauf vollschichtig zu verrichten. Er kann entsprechend seiner
mentalen Ausstattung nur relativ anspruchslos anlernbare Arbeiten leisten, die allenfalls durchschnittliche
Anforderungen an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen stellen dürfen. Arbeiten unter deutlicherem Zeitdruck
sowie Arbeiten, die einen höhergradigen Ermessensspielraum erfordern, kann er dagegen nicht mehr verrichten. In
Anbetracht einer Vielzahl von anspruchslosen Beschäftigungsmöglichkeiten stellt das Befinden des Klägers aber
keinen grundsätzlichen Hinderungsgrund für eine Erwerbstätigkeit dar. Der Kläger kann letztlich auch Arbeiten als
Lager- und Versandgehilfe verrichten, wenn keine schweren Lasten bewegt werden müssen und wenn keine
Akkordbedingungen herrschen. Aus den im Rahmen des Betreuungsverfahrens erstellten Gutachten von Dr.P.
ergeben sich keine bedeutsamen Aussagen für die berufliche Leistungsfähigkeit, was Dr.W. in seiner Stellungnahme
vom 01.07.2003 betont hat. Der Senat hat keine Bedenken, sich der Leistungseinschätzung durch Dr.W.
anzuschließen, da dieser sämtliche Gesundheitsstörungen des Klägers beschrieben und leistungsmäßig überzeugend
bewertet hat und im Ergebnis mit den vorher angehörten Sachverständigen Dr.H. und Dr. S. übereinstimmt. Der Kläger
kann danach noch in Vollschicht körperlich leichte, gelegentlich auch mittelschwere Berufstätigkeiten verrichten. Er
ist in seiner Wegefähigkeit (für das Erreichten eines Arbeitsplatzes) nicht eingeschränkt. Er bedarf auch keiner
zusätzlichen Arbeitspausen über betriebsübliche Regelungen hinaus. Seine Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit für
neue berufliche Anforderungen bewegt sich im Rahmen seiner intellektuellen Fähigkeiten, die sich über viele Jahre
nicht verändert haben. Mit dem festgestellten Leistungsvermögen ist der Kläger nach seinem Berufsweg auf den
allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar, ohne dass es der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bedarf. Der
Kläger hat sich frühzeitig vom erlernter Beruf des Metzgers losgelöst, ohne dass gesundheitliche Gründe dafür
erkennbar geworden sind. Er hat von 1974 an bei der Fira Q. als einfach angelernter Versandarbeiter
versicherungspflichtig gearbeitet.
Der Kläger ist nicht erwerbsunfähig iS des § 44 SGB VI aF. Auf die Berufung der Beklagten war deshalb das Urteil
des SG vom 24.10.2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Beteiligten haben einander außergerichtliche
Kosten nicht zu erstatten, § 193 SGG. Gründe für die Zulasssung der Revision gem. § 160 Abs 2 SGG sind nicht
ersichtlich.