Urteil des LSG Bayern vom 31.05.2005
LSG Bayern: innere medizin, behinderung, akte, klinik, behandlung, bandscheibenvorfall, gesellschaft, aufzählung, meniskusläsion, zukunft
Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 31.05.2005 (rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 10 SB 380/03
Bayerisches Landessozialgericht L 18 SB 20/04
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.12.2003 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Behinderungen des Klägers mit einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 80 statt 40 zu
bewerten sind und ihm das Merkzeichen "G" zusteht.
Bei dem 1963 geborenen Kläger hatte der Beklagte mit Bescheid vom 08.10.2001 als Behinderungen mit einem GdB
von 30 festgestellt:
1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschäden und Spinalkanalstenose, rezidivierende
Nervenwurzel- und Muskelreizerscheinungen (Einzel-GdB 30)
2. Sichelzellenanämie mit Verlust der Milz (Einzel-GdB 20).
Auf einen Neufeststellungsantrag des Klägers vom 27.11.2002 wegen Leidensverschlimmerung des
Bandscheibenschadens und eines Sturzereignisses auf die linke Schulter im Januar 2002 zog der Beklagte ärztliche
Unterlagen des Radiologen Dr.J. vom 13.12.2000, des Allgemeinmediziners Dr.R. vom 06.12.2002 und ein für die 17.
Kammer des Sozialgerichts Nürnberg (S 17 RJ 1145/01) erstelltes Gutachten des Orthopäden Dr.L. vom 09.07.2002
bei. Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr.H. vom 14.01.2003 stellte er mit
Änderungsbescheid vom 15.01.2003 als weitere Behinderungen fest: "Funktionsbehinderung des Schultergelenkes
links, Funktionsbehinderung beider Ellenbogengelenke, Gicht mit Gelenkbeteiligung (Einzel-GdB 20) und
Funktionsbehinderung des Kniegelenkes rechts (Einzel-GdB 10)" und bewertete ab 27.11.2002 die Behinderungen mit
einem Gesamt-GdB von 40.
Im Widerspruchsverfahren zog der Beklagte ein internistisches Gutachten des Arztes für Innere Medizin, Lungen- und
Bronchialheilkunde Dr.M. (erstellt für die LVA Oberfranken und Mittelfranken) vom 15.10.2001, einen Arztbrief der
Medizinischen Klinik 5 des Klinikums N. vom 18.11.2001 sowie Arztbriefe des Orthopäden Dr.P1. vom 20.02.2002
und 10.04.2002 und einen Arztbrief des Arztes Dr.R. vom 23.04.2002 bei. Nach Einholung einer Stellungnahme des
Facharztes für öffentliches Gesundheitswesen Dr.L1. vom 27.03.2003 wies der Beklagte den Widerspruch mit
Widerspruchsbescheid vom 12.05.2003 zurück.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Nürnberg (SG) hat der Kläger die Feststellung eines GdB
von mindestens 80 und das Merkzeichen "G" beantragt. Das SG hat Befundberichte des Orthopäden Dr.P1. vom
30.07.2003, des Arztes Dr.R. vom 05.08.2003 und der Medizinischen Klinik 5 des Klinikums N. vom 04.08.2003
beigezogen sowie Dr.Sch. terminsärztlich gehört (Gutachten vom 16.12.2003). Dieser hat die beim Kläger
festgestellten Behinderungen im Bescheid vom 15.01.2003 als vollständig erfasst angesehen. Hinzugekommen sei
eine operierte Analfistel mit Beschwerden bei einem Einzel-GdB von 10. Daraus ergebe sich keine Erhöhung des
Gesamt-GdB. Der Gesamt-GdB betrage weiterhin 40. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" lägen keinesfalls
vor.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 16.12.2003 abgewiesen und sich auf das Gutachten des Dr.Sch. gestützt.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und die Feststellung eines höheren GdB sowie die Zuerkennung
des Merkzeichens "G" begehrt.
Der Senat hat von Dr.A1. ein orthopädisches Gutachten vom 27.09.2004 eingeholt. Dr.A1. hat für die
Funktionseinschränkungen der Lendenwirbelsäule bei Verschleiß einen Einzel-GdB von 30, für die
Funktionseinschränkung der linken Schulter bei degenerativen Veränderungen einen Teil-GdB von 10 und für die
Sichelzellanämie mit Verlust der Milz einen Einzel-GdB von 20 angenommen und den Gesamt-GdB auf 40
eingeschätzt. Eine erhebliche Gehbehinderung des Klägers hat er verneint, da der Kläger ein insgesamt flüssiges
Gangbild gezeigt und orthopädische Hilfsmittel nicht verwendet habe.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.12.2003 und den Bescheid des Beklagten vom
15.01.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.05.2003 aufzuheben und den Beklagten zu
verurteilen, einen höheren GdB sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" festzustellen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.12.2003
zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich am 30.03.2005 mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.
Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die beigezogene Schwerbehindertenakte des Beklagten, die Akte des
Sozialgerichts Nürnberg sowie die Akte des Bayer. Landessozialgerichts Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht (§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung ist zulässig. Sie ist jedoch
nicht begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40 sowie auf Anerkennung der
gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G".
Die Entscheidung ergeht im schriftlichen Verfahren, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§§ 153
Abs 1 iVm 124 Abs 2 SGG).
Soweit in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung
vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben
(§ 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch [SGB X]). Die Verhältnisse, die dem Vergleichsbescheid vom
08.10.2001 zugrunde gelegen haben, haben sich wesentlich im Sinne einer Verschlechterung geändert. Diese
Änderung hat der Beklagte mit Bescheid vom 15.01.2003 zutreffend festgestellt.
Bei der Beurteilung des GdB steht die Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben im Vordergrund (vgl BSGE 48,
82, 83). Im Interesse einer einheitlichen und gleichmäßigen Behandlung hat das Bundesministerium für Gesundheit
und Soziale Sicherung die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und
nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herausgegeben, die fortlaufend überarbeitet und 2004 neu veröffentlich
worden sind. Sie dienen als antizipierte Sachverständigengutachten im Regelfall der gleichmäßigen Auslegung der
unbestimmten Rechtsbegriffe des Schwerbehindertenrechts (BVerfG, SozR 3-3870 § 3 Nr 6; BSG 09.12.1997 - Az: 9
BVs 47/97 Juris Nr: KSRE025100219).
Die Behinderungen des Klägers sind mit einem Gesamt-GdB von 40 ab 27.11.2002 richtig bewertet. Dieser ergibt sich
zur Überzeugung des Senats aus dem Gutachten des Dr.A1. vom 27.09.2004. Die Funktionseinschränkungen der
Lendenwirbelsäule waren bei der Begutachtung zwar nur mäßiggradig und es zeigte sich kein Anhalt für eine
Nervenwurzelirritation. Als Auswirkung der Sichelzellanämie liegen aber ausgeprägte degenerative Veränderungen vor,
die auch schon zu einem Bandscheibenvorfall L 4/L 5 mit sekundärer Einengung des Spinalkanals geführt haben.
Deshalb ist hierfür ein Einzel-GdB von 30 (AHP RdNr 26.18, S 116) angemessen.
Die Sichelzellanämie mit Verlust der Milz (AHP RdNr 26.18, S 104, 105) ist mit einem Einzel-GdB von 20 zu
bewerten. Nach den vorliegenden Befunden des Klinikums N. vom 14.04.2003 und 04.08.2003 besteht eine geringe
Anämie mit Neigung zu Gefäßverschlüssen sowie eine geringe Erhöhung der Lebertransaminasen und der Harnsäure.
Da der Kläger in den letzten Jahren auch keine Transfusionen mehr erhalten hat, hat der Sachverständige den GdB
zutreffend mit 20 eingeschätzt.
Die leichte Funktionseinschränkung der linken Schulter bei möglichen Abspreizbewegungen über 120 Grad hat Dr.A1.
zu Recht lediglich mit einem Einzel-GdB von 10 (AHP 26.18 S 119) bewertet.
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den
Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen
festgestellt (§ 69 Abs 3 Satz 1 SGB IX). Die Gesamtauswirkung der Behinderung darf nicht durch Anwendung
irgendwelcher mathematischer Formeln, sondern muss auf Grund einer nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung
festgesetzt werden (BSG SozR 3870 § 3 Nr 4 zum im Wesentlichen inhaltsgleichen § 4 Abs 3 Satz 1
Schwerbehindertengesetz, aufgehoben durch Artikel 63 SGB IX).
Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den
höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbehinderungen zu prüfen, ob und
inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren
Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB-Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der
Behinderung insgesamt gerecht zu werden.
Zusätzlich leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen regelmäßig nicht zu einer
Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte
(vgl AHP aaO, RdNr 19).
Der Beklagte hat mit Änderungsbescheid vom 15.01.2003 den am 08.10.2001 festgestellten GdB von 30 für die
Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und die Sichelzellenanämie auf 40 erhöht, weil er vom Hinzukommen einer
Funktionsbehinderung des Schultergelenks links, beider Ellenbogengelenke und Gicht mit Gelenkbeteiligung mit
einem GdB von 20 ausgegangen ist. Nach den vom Sachverständigen Dr.A1. erhobenen Befunden ist diese
Behinderung mit einem GdB von 10 ausreichend bewertet. Bei dieser Bewertung ist nach dem AHP aaO nicht von
einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung der am 08.10.2001 festgestellten Behinderung
auszugehen. Ein höherer Gesamt-GdB als 40 lässt sich deshalb aus den erhobenen Befunden nicht herleiten.
Die vom Kläger außerdem geltend gemachten Beschwerden in beiden Knien sind für die Beurteilung des Gesamt-GdB
nicht von Relevanz. Da sich beide Kniegelenke unauffällig zeigten, sich kein Anhalt für eine Meniskusläsion ergab,
sowie der Bandapparat seitengleich stabil war, ist diese Behinderung mit einem Einzel-GdB von 10 ausreichend
bewertet (vgl AHP RdNr 26.18, S 126).
Die Eintragung des Merkzeichens "G" ist schon deshalb nicht möglich, da keine Schwerbehinderteneigenschaft
vorliegt. Außerdem ist der Kläger in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht erheblich beeinträchtigt.
Gemäß § 146 Abs 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer
infolge der Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der
Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere
Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Die
Aufzählung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Anfälle und Störungen der Orientierungsfähigkeit), durch die die
Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sein kann und die der Störung des Gehvermögens
gegenübergestellt werden, ist abschließend (so BSG Beschluss vom 10.05.1994, Az: 9 BVs 45/93 in Juris Nr
KSRE017730508).
Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr.A1. ist der Kläger nicht erheblich gehbehindert, er kann ohne
Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen, die üblicherweise zu Fuß zurückgelegt
werden können. Der Kläger zeigte bei der Untersuchung ein etwas langsames aber insgesamt flüssiges Gangbild,
orthopädische Hilfsmittel wurden nicht verwendet. Die Befunde, die Dr.A1. an den unteren Extremitäten erhoben hat,
weisen darauf hin, dass der Kläger nicht erheblich gehbehindert ist. Die Muskelummantelung beider Beine war
seitengleich, der Einbeinstand konnte beidseits sicher demonstriert werden. Die Überprüfung der hüftumgreifenden
Muskulatur zeigte keine Auffälligkeiten, die differenzierten Gangarten (Zehenspitzengang, Fersengang) konnten
problemlos und ohne Absinktendenzen demonstriert werden. Beide Kniegelenke zeigten sich bandstabil und frei
beweglich, die Beinmuskulatur war seitengleichmäßig kräftig ausgebildet. Auch beide Füße zeigten sich mit
seitengleicher, der Fußfehlform entsprechenden Schwielenbildung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.