Urteil des LSG Bayern vom 27.10.2005

LSG Bayern: untersuchungshaft, unterbringung, taschengeld, hauptsache, auflage, haftanstalt, erwerbsfähiger, entstehungsgeschichte, therapie, entlassung

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 27.10.2005 (rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 5 AS 382/05 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 11 B 596/05 AS ER
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 27.09.2005 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Der 1975 geborene Antragsteller (Ast) bezog bis zu seiner Inhaftierung am 12.09.2003 Arbeitslosenhilfe.
Seit dem 25.04.2005 befindet sich der Ast in Untersuchungshaft in einer Haftanstalt in N ... Laut Auskunft der
Haftanstalt werde der Aufenthalt im Rahmen der Untersuchungshaft aller Wahrscheinlichkeit nach länger als 6 Monate
andauern. Daraufhin stellte die Antragsgegnerin (Ag) ihre bisherigen laufenden Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ein.
Am 09.09.2005 beantragte der Ast beim Sozialgericht Nürnberg (SG), die Ag im Wege der einstweiligen Anordnung zu
verpflichten, ihm Taschengeld für mittellose Untersuchungsgefangene während der Dauer der Untersuchungshaft zu
bewilligen.
Die Ag beantragte, den Antrag abzulehnen.
Der Bedarf des Gefangenen sei von der Einrichtung abzudecken. Die Gewährung von Taschengeld für Häftlinge sei im
SGB II nicht vorgesehen.
Mit Beschluss vom 27.09.2005 lehnte das SG den Antrag ab. Eine besondere Eilbedürftigkeit sei nicht erkennbar.
Auch sei ein Anordnungsanspruch zu verneinen.
Hiergegen wendet sich der Ast mit seiner beim SG am 14.10.2005 eingegangenen Beschwerde. Er benötige weiterhin
Taschengeld, weil er ansonsten mittellos sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten in beiden Instanzen Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Das SG
hat ihr nicht abgeholfen (§ 174 SGG).
Die Beschwerde des Ast ist jedoch unbegründet, weil es das SG zu Recht abgelehnt hat, die Ag im Wege der
einstweiligen Anordnung zur Auszahlung von Taschengeld zu verpflichten.
Eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
(Regelungsanordnung) ist zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint
(§ 86 b Abs 2 Satz 2 SGG). Das ist etwa dann der Fall, wenn dem Ast ohne eine solche Anordnung schwere oder
unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der
Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1988 BVerfGE 79, 69/74 und vom 19.10.1977
BVerfGE 46, 166/179; Niesel, Der Sozialgerichtsprozess, 4. Auflage 2005, RdNr 643).
Eine solche Regelungsanordnung setzt aber voraus, dass der Ast Angaben zum Vorliegen eines Anordnungsgrundes -
das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und zum Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-
rechtliche Anspruch, auf den er sein Begehren stützt - glaubhaft machen kann (§ 86 b Abs 2 Sätze 2, 4 SGG iVm §
920 Abs 2, § 294 Abs 1 Zivilprozessordnung - ZPO -; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005, § 86 b
RdNr 41).
Bei der hier erforderlichen Überprüfung der Sach- und Rechtslage (vgl dazu im Einzelnen BVerfGE vom 12.05.2005
NDV-RD 2005, 59) zeigt sich, dass dem Ast weder ein Anordnungsgrund noch ein Anordnungsanspruch zur Seite
steht.
Das SG hat bereits zutreffend darauf hingewiesen, dass dem Ast kein Anordnungsgrund zur Seite steht. Der Ast
erhält Leistungen für den Lebensunterhalt vom Träger der Justizvollzugsanstalt. Anhaltspunkte dafür, dass der Ast
ohne Bezug eines darüber hinausgehenden Taschengeldes schwere oder unzumutbare Nachteile iS der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes erleiden könnte, sind weder ersichtlich noch dargetan. Dem Ast ist
es deshalb zuzumuten, hier gegebenenfalls eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.
Zudem steht dem Ast ganz offensichtlich kein Anordnungsanspruch zur Seite. Der Ag ist wegen § 7 Abs 4 SGB II
aller Voraussicht nach nicht leistungspflichtig.
Dabei steht es für den Senat im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes außer Zweifel, dass auch die
Unterbringung eines Untersuchungshaftgefangenen in einer Justizvollzugsanstalt eine stationäre Unterbringung iS des
§ 7 Abs 4 SGB II ist. Dafür spricht bereits der Wortlaut der Norm, weil es sich bei Justizvollzugsanstalten um auf
Dauer angelegte Organisationseinheiten von sächlichen und personellen Mitteln handelt, die darauf ausgerichtet und
geeignet sind, im Aufgabenbereich des Trägers eine anstaltsmäßige Betreuung von Personen über Tag und Nacht
sicherzustellen. So auch Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2005, § 7 RdNr 34, der darauf abstellt, dass der
Einrichtungsträger - wie hier im Falle der Justizvollzugsanstalt - von der Aufnahme bis zur Entlassung des
Hilfebedürftigen im Rahmen eines Therapie- oder sonstigen Konzeptes die Gesamtverantwortung für dessen tägliche
Lebensführung übernimmt und Gemeinschaftseinrichtungen vorhanden sind.
Auch die Entstehungsgeschichte der Norm bestätigt diese Auffassung. Im Entwurf des SGB II vom 05.09.2003 (BT-
Drs 15/1516 S.10) war vorgesehen, dass ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger, der stationär untergebracht ist, überhaupt
keine Leistungen nach dem SGB II erhalten solle. Der Gesetzgeber hielt diesen Wortlaut für aus sich heraus
verständlich, so dass sich für diese ursprüngliche Fassung im Gesetzentwurf keine Begründung findet. Gegen diese
Regelung, wonach jeder erwerbsfähige Hilfebedürftiger bei stationärer Unterbringung von Leistungen nach dem SGB II
ausgeschlossen war, erhob sich erheblicher Widerstand mit Blickrichtung auf Personen, die sich nur vorübergehend in
Einrichtungen zB der Wohnungslosenhilfe, in stationärer Krankenbehandlung oder aber in Untersuchungshaft
befanden. Das führte zur Einführung der Sechsmonatsfrist in § 7 Abs 4 SGB II, ohne dass aber der sachliche
Anwendungsbereich der Norm eine Änderung erfuhr.
Insbesondere lässt sich letztlich auch rechtssystematisch aus einem Vergleich mit § 35 Zwölftes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB XII) nicht die Schlussfolgerung herleiten, Justizvollzugs- bzw Untersuchungshaftanstalten
wären keine stationäre Einrichtung iS des § 7 Abs 4 SGB II.
Mithin bedarf es für einen Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs 4 1. Alternative SGB II einer Prognoseentscheidung
dahin, ob die stationäre Unterbringung für länger als 6 Monate andauern werde (vgl zur Prognoseentscheidung
allgemein BVerwG vom 10.09.1992 FEVS 43, 313 = NDV 1993, 198 = NVwZ-RR 1993, 194 = FamRZ 1993, 541 =
ZfSH/SGB 1993, 586 mit Hinweis auf BVerwG vom 30.04.1992 DVBl 1992, 1482). Diese Prognoseentscheidung hat
das SG im Hinblick auf die Mitteilung der Vollzugsanstalt vom 09.06.2005 rechtsfehlerfrei getroffen.
Auch eine abschließende Güter- und Folgenabwägung führt nach alledem zu keiner anderen Entscheidung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).