Urteil des LSG Bayern vom 18.12.2001
LSG Bayern: wiederaufnahme des verfahrens, rücknahme, bindungswirkung, sachprüfung, unfallfolgen, unrichtigkeit, schutzfunktion, verwaltungsakt, verwaltungsverfahren, rente
Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 18.12.2001 (rechtskräftig)
Sozialgericht München S 23 U 738/99
Bayerisches Landessozialgericht L 3 U 33/01
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 02.01.2001 wird
zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Wiedergewährung von Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls des
Klägers vom 01.06.1970 im Wege des § 44 SGB X streitig. Der Kläger begehrt dabei die Rücknahme des
verbindlichen Bescheids vom 22.02.1991, sodann Wiederaufnahme des Verfahrens, Nachuntersuchung und
Gewährung entsprechender Rente.
Der am 1922 geborene Kläger war als Maurer in der Bundesrepublik Deutschland bei der Firma G. beschäftigt. Am
01.06.1970 hat er einen Unfall erlitten, als er aus 1,50 m Höhe beim Ausschalen einer Decke von einem Gerüst
stürzte. Dabei verletzte ihn ein herabfallender Träger im Beckenbereich, er erlitt eine Fraktur der linken
Beckenschaufel.
Mit Bescheid vom 23.06.1972 hat die Beklagte - gestützt auf das von ihr eingeholte Gutachten des Chirurgen
Prof.Dr.K. vom 06.06.1972 - als Unfallfolgen eine endgradige schmerzhafte Bewegungsbehinderung im linken
Hüftgelenk mit angedeutetem Hinken durch Schonung des linken Hüftgelenks sowie glaubhafte Beschwerden nach
knöchern fest verheiltem Beckenschaufelbruch links anerkannt und dem Kläger für die Zeit vom 15.09.1970 bis
31.08.1971 Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. gewährt, jedoch Rentengewährung über diesen Zeitraum
hinaus abgelehnt, weil nach dem Gutachten von Prof.Dr.K. die Unfallfolgen in der nachfolgenden Zeit bis 31.05.1972
nur noch mit 10 v.H. und danach mit unter 10 v.H. zu bewerten seien.
Ein am 26.09.1989 gestellter Antrag des Klägers auf Neufeststellung wegen Leidensverschlimmerung blieb ohne
Erfolg: Nach erneuter Begutachtung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22.02.1991 die Wiedergewährung einer
Verletztenrente ab. Die S 23 U 204/91) mit Urteil vom 14.08.1992, gestützt auf ein Gutachten des Sachverständigen
Dr.K. , ab. Die Berufung wurde vom Bayer. Landessozialgericht (Az.: L 3 U 259/92) mit Urteil vom 12.04.1994
zurückgewiesen, die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision mit Beschluss des BSG vom 10.08. 1994
(Az.: 2 BU 117/94) als unzulässig verworfen.
Ausgangspunkt des jetzigen Verfahrens ist ein Schreiben des Klägers vom 16.09.1996, mit dem er sich an die
Beklagte wegen seines Arbeitsunfalls wandte und erneut um Hilfe bat: Er verstehe es bis heute nicht, dass ihm keine
Unfallrente gewährt werde.
Mit Schreiben vom 01.10.1996 teilte die Beklagte "zum wiederholten Male" mit, dass aus Anlass des Unfalls vom
01.06.1970 ein Anspruch auf Unfallrente nicht bestehe, da eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in
rentenberechtigendem Grade nicht vorliege. Der Ablehnungsbescheid vom 22.02.1991 sei zwischenzeitlich
rechtskräftig geworden. Mit einem am 24.09.1998 bei der Beklagten eingegangenen weiteren Schreiben legte der
Kläger nochmals Beschwerde in seiner Unfallangelegenheit ein. Die Beklagte übersandte eine Kurzmitteilung vom
05.10.1998 mit Hinweis auf anliegende Schriftstücke. Unter Bezugnahme auf diesen "Bescheid vom 05.10.1998"
verwies der Kläger in einem am 21.10. 1998 eingegangenen weiteren Schreiben erneut auf früher übersandte ärztliche
Bescheinigungen und bat um eine gutachtliche Untersuchung. Daraufhin wiederholte die Beklagte mit Schreiben vom
27.10.1998 den Hinweis auf den bestandskräftigen Bescheid vom 22.02.1991.
Mit seiner beim Sozialgericht Augsburg erhobenen Klage begehrte der Kläger eine Überprüfung. Mit Beschluss vom
01.01.1999 hat das Sozialgericht Augsburg den Rechtsstreit an das Sozialgericht München verwiesen.
Mit Beschluss vom 12.12.2000 hat das Sozialgericht den Antrag des Klägers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe
mangels Erfolgsaussicht abgelehnt: Vorliegend sei der Antrag des Klägers auf Rücknahme des ablehnenden
Rentenbescheides bestandskräftig abgelehnt worden. Werde nach einem solchen Bescheid erneut eine Rücknahme
beantragt und werden - wie hier - keine neuen Tatsachen vorgetragen, sei eine Überprüfung abzulehnen. Die Beklagte
habe deshalb in diesem Fall auf den bereits ergangenen Bescheid verweisen dürfen.
Der Kläger hat vor dem Sozialgericht sinngemäß beantragt, die Beklagte zu verpflichten, über die Rücknahme des
Bescheides vom 22.02.1991 einen rechtsmittelfähigen Bescheid im Sinne von § 44 SGB X zu erlassen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Nach entsprechendem Hinweis des Gerichts auf die Absicht, im Wege eines Gerichtsbescheides zu entscheiden, hat
das Sozialgericht sodann mit Gerichtsbescheid vom 02.01.2001 die Klage abgewiesen: Die Klage sei zwar zulässig,
mit der zutreffenden Verpflichtungsklage (§ 54 Abs.1 SGG) wende sich der Kläger dagegen, dass die Beklagte eine
erneute Überprüfung des bestands- kräftigen Bescheides vom 22.01.1991 abgelehnt habe (vgl. Schrei- ben vom
05.10.1998 und 27.10.1998). Die Klage sei jedoch nicht begründet, weil die Voraussetzungen des § 44 Abs.1 Satz 1
SGB X nicht vorlägen. Zunächst sei zu prüfen gewesen, ob sich durch die Antragstellung nach § 44 SGB X neue
Tatsachen oder Erkenntnisse ergeben haben, die für die Unrichtigkeit der Vorentscheidung sprechen könnten. Ist
schon dies nicht der Fall - wie hier -, dann darf sich die Verwaltung ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung
des früheren Verwaltungsaktes berufen (mit weiteren Urteilsnachweisen). Im vorliegenden Fall hatte die Beklagte sich
mit Schreiben vom 19.04.1995 und 01.10. 1996 unter Hinweis auf den erst kürzlich durchlaufenen Instanzenweg und
die bereits damals berücksichtigen ärztlichen Bescheinigungen hinsichtlich der Überprüfungsanträge des Klägers ohne
weitere Sachprüfung auf die Bindungswirkung (§ 77 SGG) berufen. Der Kläger hat sodann erneut im September und
Oktober 1998 eine Rücknahme beantragt, wobei aber weder neue Tatsachen noch neue rechtliche Gesichtspunkte
aufgezeigt worden seien. In diesen Fällen sachlich nicht zu rechtfertigender wiederholter Überprüfungsanträge könne
die Beklagte ohne Verletzung der Schutzfunktion des § 44 SGB X von einer erneuten Bescheiderteilung absehen und
sich auf die Verweisung der bestehenden Bescheidlage beschränken.
Gegen diesen Gerichtsbescheid hat der Kläger mit Schreiben vom 22.01.2001 Berufung eingelegt: Im angefochtenen
Urteil sei sein Antrag - ohne weiteren Grund - abgelehnt worden, weshalb er um Überprüfung bitte. In Zusammenhang
mit seiner Beschwerde gegen den ablehnenden Prozesskostenhilfebeschluss des Sozialgerichts machte er im
Schreiben vom 13.01.2001 geltend, dass die Entscheidung des Sozialgerichts nicht begründet gewesen sei, weil er zu
80 % behindert sei und keine Arbeit aufnehmen dürfe. Dafür lägen ärztliche Bescheinigungen als Beweis vor. Mit
Schreiben vom 24.03.2001 bat er nochmals um eine gutachtliche Untersuchung, hierdurch könne bewiesen werden,
dass er behindert sei.
In der mündlichen Verhandlung am 21.08.2001 ist der Kläger nicht erschienen. Die Beklagte wurde darauf
hingewiesen, dass im vorliegenden Verwaltungsverfahren bisher über den Widerspruch des Klägers, der zwar nicht
förmlich eingelegt worden sei, jedoch in der Klageerhebung zum Ausdruck gebracht sei, nicht entschieden worden sei.
Deshalb wurde der Beklagten anschließend Gelegenheit gegeben, die Widerspruchsentscheidung nachzuholen. Nach
Aktenrücksendung an die Beklagte erging durch diese nachfolgend der Widerspruchsbescheid vom 11.10.2001, der
Gegenstand des Verfahrens ist. Die Beklagte hat den Widerspruch gegen den Verwaltungsakt vom 27.10.1998 darin
als unbegründet zurückgewiesen: Die Voraussetzungen nach § 44 SGB X lägen nicht vor. Eine entsprechende
spezielle Sachprüfung habe nur bei Vorbringen neuer Tatsachen oder Erkenntnisse zu erfolgen, ansonsten sei ohne
jede weitergehende Abklärung eine Berufung auf die Bindungswirkung der früheren Entscheidung möglich (vgl. Urteile
des LSG Nordrhein-Westfalen vom 27.05.1992 und LSG Baden-Württemberg vom 26.09.1995). Nach nochmaliger
Überprüfung der Sach- und Rechtslage sei festzustellen, dass im Rahmen der Verwaltungsverfahren keine neuen
berücksichtigungsfähigen Aspekte vorgetragen worden seien. Im angefochtenen Verwaltungsakt sei daher zutreffend
ohne Durchführung einer erneuten Sachprüfung auf die Bindungswirkung der früheren Entscheidung, welche zudem im
Rahmen der vorangegangenen Sozialgerichts-, Landessozialgerichts- und Bundessozialgerichtsverfahren bestätigt
wurde, verwiesen worden. Dem Widerspruch habe damit nicht stattgegeben werden können.
Nach Erhalt der Ladung zur weiteren mündlichen Verhandlung am 18.12.2001 hat der Kläger sinngemäß mit Schreiben
vom 26.11. 2000 die Gewährung von Prozesskostenhilfe/Beiordnung eines vom Gericht ausgewählten Rechtsanwalts
beantragt. Dieser Antrag ist mit Beschluss vom 06.12.2001 abgelehnt worden. Mit Beschluss vom 11.12.2001 ist Herr
Oberamtsrat B. für den Termin am 16.12.2001 gemäß § 72 Abs.2 SGG als besonderer Vertreter des Klägers bestellt
worden.
Der Kläger beantragt, den angefochtenen Gerichtsbescheid und die zugrunde liegenden Bescheide der Beklagten
aufzuheben und die Beklagte zur Rücknahme des Bescheides vom 22.02.1991 und zur Gewährung von
Verletztenrente wegen des Folgen des Unfalls vom 01.06. 1970 zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers zurückzuweisen, weil das angefochtene Urteil zutreffend sei.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts gemäß § 136 Abs.2 SGG auf den Inhalt der Akten der Beklagten
sowie der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz einschließlich vorausgegangener Prozesse verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Entscheidungsgründe:
Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig, in der Sache, das heißt im Bezug auf die
Wiedergewährung von Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 01.06.1970 betreffend, jedoch nicht
begründet.
Die Beklagte hat es mit Bescheid vom 27.10.1998 in der Gestalt des zwischenzeitlich ergangenen
Widerspruchsbescheides vom 11.10.2001, der gemäß § 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist,
und der Voraussetzung für die streitgegenständliche Verpflichtungsklage mit dem Ziel der Erteilung eines Bescheides
nach § 44 SGB X und Wiedergewährung von Rente (§ 54 SGG) ist, zutreffend abgelehnt, in eine Überprüfung nach §
44 SGB X einzutreten. Die Beklagte konnte sich ohne eine solche auf die Bindungswirkung der früheren Entscheidung
berufen, weil der Kläger keine neuen berücksichtigungsfähigen Aspekte vorgetragen hat. Durch die zwischenzeitlich
nachgeholte Entscheidung über den Widerspruch des Klägers im Widerspruchsbescheid vom 11.10.2001 ist der
verfahrensrechtliche Aspekt, der einer Entscheidung im Sinne der erhobenen Verpflichtungsklage bisher entgegen
stand, behoben. Soweit mit der Berufung die Wiedergewährung von Verletztenrente wegen der Folgen des
Arbeitsunfalls des Klägers vom 01.06.1970 begehrt wird bzw. wenigstens die Wiederaufnahme des Verfahrens im
Sinne der vom Kläger begehrten Überprüfung seiner Rentenangelegenheit durch die Beklagte, kann die Berufung in
keiner Hinsicht Erfolg haben.
Wie bereits das Sozialgericht in der Sache zutreffend dargelegt hat, hat es die Beklagte mit Recht abgelehnt, in eine
erneute Überprüfung des rechtsverbindlichen Bescheides vom 22.02.1991 einzutreten. Denn wie das BSG in seiner
Rechtsprechung (vgl. BSG vom 03.02.1988 in BSGE 63, 33; BSG vom 29.01.1992 in SozR 1300 § 44 Nr.33) betont
hat, ist im Rahmen der Überprüfung nach § 44 Abs.1 Satz 1 SGB X bei der Anwendung durch die Verwaltung in zwei
Prüfungsschritten vorzugehen: Zunächst ist zu prüfen, ob sich durch die Antragstellung nach § 44 SGB X neue
Tatsachen oder Erkenntnisse ergeben haben, die für die Unrichtigkeit der Vorentscheidung sprechen könnte. Ist
schon das nicht der Fall - wie hier im Fall des Klägers -, dann darf sich die Verwaltung ohne jede Sachprüfung auf die
Bindungswirkung des früheren Verwaltungsaktes berufen. Diese Auffassung vertreten auch Landessozialgerichte (vgl.
z.B. LSG Nordrhein-Westfalen vom 27.05. 1992 - E LSG V-001; LSG Baden-Württemberg vom 26.09.1995 in
Breithaupt 1996, S.331). Im vorliegenden Fall hatte sich die Beklagte mit Schreiben vom 19.04.1995 und 01.10. 1996
unter Hinweis auf den erst kürzlich durchlaufenen Instanzenweg und die bereits damals berücksichtigten ärztlichen
Bescheinigungen hinsichtlich der Überprüfungsanträge des Klägers ohne weitere Sachprüfung auf die
Bindungswirkung (§ 77 SGG) berufen. Der Kläger hat sodann erneut im September und Oktober 1998 eine
Rücknahme beantragt, wobei er aber weder neue Tatsachen noch neue rechtliche Gesichtspunkte aufgezeigt hat. In
diesen Fällen sachlich nicht zu rechtfertigender wiederholter Überprüfungsanträge kann die Beklagte ohne Verletzung
der Schutzfunktion des § 44 SGB X von einer erneuten Bescheiderteilung absehen und sich auf die Verweisung der
bestehenden Bescheidlage beschränken.
Auch das bisherige Vorbringen des Klägers im Sozialgerichts- wie auch im Berufungsverfahren enthält nichts, was
geeignet wäre, eine andere Entscheiung herbeizuführen. Die Beklagte hat sich somit auch im Widerspruchsbescheid
vom 11.10.2001, der Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist, auf ihre bisherige Rechtsauffassung
bezogen und mit Recht abgelehnt, in eine Überprüfung der Rentenangelegenheit des Klägers einzutreten.
Nach allem konnte daher die Berufung des Klägers keinen Erfolg haben, sie ist unbegründet und daher
zurückzuweisen gewesen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen hierfür nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG
nicht vorliegen.