Urteil des LSG Bayern vom 05.12.2006
LSG Bayern: arbeitsunfähigkeit, eintritt des versicherungsfalles, arbeitsunfall, wahrscheinlichkeit, erwerbstätigkeit, arztbericht, heilbehandlung, rechtfertigung, behandlungsbedürftigkeit, zustand
Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 05.12.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 2 U 265/02
Bayerisches Landessozialgericht L 17 U 97/05
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 25.01.2005 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Dauer der Arbeitsunfähigkeit aufgrund des Arbeitsunfalles vom 26.02.2002 streitig.
Der 1967 geborene Kläger erlitt am 26.02.2002 einen Arbeitsunfall. Während einer Dienstfahrt kam er - angeschnallt -
mit seinem PKW von der Straße ab und fuhr in einen Graben. Nach seinen Angaben habe er durch die abrupte
Stoppbewegung des Fahrzeuges eine starke Manipulation der Halswirbelsäule (HWS) iS einer Seitneige nach rechts
erlitten. Nachdem sein PKW aus dem Straßengraben gezogen worden war und noch fahrtüchtig gewesen sei, habe er
ihn selbst in die Werkstatt zur Überprüfung gefahren. Bei dem Unfall erlitt der Kläger eine Zerrung der HWS-
Muskulatur linksseitig (Durchgangsarztbericht des Chirurgen Dr.N. vom 27.02.2002).
Die Beklagte zog einen Befundbericht des Dr.N. vom 10.04.2002 sowie einen MRT-Bericht der HWS vom 05.04.2002
bei. Nach Stellungnahme ihres beratenden Arztes Prof.Dr.H. vom 24.04.2002 erkannte sie mit Bescheid vom
06.05.2002 einen Arbeitsunfall an und gewährte Verletztengeld bis 05.04.2002. Als Folgen des Versicherungsfalles
erkannte sie an: Folgenlos verheilte Zerrung der HWS-Muskulatur links. Nicht als Folgen des Arbeitsunfalles sah sie
eine degenerative Erkrankung der Halswirbelkörper 3 und 4 sowie 5 und 6 mit deformierenden knöchernen
Veränderungen (Spondylose deformans) an.
Im anschließenden Widerspruchsverfahren zog die Beklagte einen Arztbericht der Neurologin Dr.B. vom 29.04.2002
sowie des Dr.N. vom 07.05.2002 bei. Nach beratungsfachärztlicher Stellungnahme des Prof.Dr.H. vom 19.08.2002
wies die Beklagte mit Bescheid vom 11.09.2002 den Widerspruch zurück. Sie führte aus, dass die Spondylose
deformans der Segmente Halswirbelkörper 3/4 bis 5/6 nicht durch den Arbeitsunfall verursacht worden sei.
Gegen diese Bescheide hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und beantragt, über den
05.04.2002 hinaus Heilbehandlung und Verletztengeld zu gewähren. Er hat hierzu einen
Heilverfahrensentlassungsbericht des Klinikums Bad G. vom 05.12.2002 (stationärer Aufenthalt: 22.10. bis
26.11.2002) sowie einen Arztbericht des Orthopäden Dr.S. vom 09.07.2002 vorgelegt.
Das SG hat ein chirurgisches Gutachen von Dr.E. vom 27.02.2003/26.01.2004 eingeholt. Dr.E. hat ausgeführt, dass
bereits 1993 bei dem Versicherten eine im Vergleich zu heute identische, radiologisch objektivierbare Fehlstellung der
HWS in der seitlichen Ebene vorgelegen habe. Der Unfall vom 26.02.2002 habe insoweit zu keiner Verschlimmerung
der vorbestehenden Fehlstellung der HWS geführt. Eine objektivierbare Schädigung im Bereich der HWS sei durch
den Arbeitsunfall nicht eingetreten.
In einem weiteren Gutachten auf Veranlassung des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der
Orthopäde Dr.T. am 29.10.2003/19.02.2004 darauf hingewiesen, dass die Fehlfunktion, verbunden mit Irritation der
Nerven-/Rückenmarkshaut- strukturen, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf die mehrfach
einwirkenden Traumata auf die HWS im Rahmen verschiedener Unfälle zurückzuführen sei. Dabei sei das
Unfallereignis vom 26.02.2002 als das führende Ereignis zu bezeichnen. Eine Arbeitsunfähigkeit von 4 Monaten ab
dem Unfallereignis sei gerechtfertigt.
Mit Urteil vom 25.01.2005 hat das SG die Klage abgewiesen und sich im Wesentlichen auf die Ausführungen des
Dr.E. gestützt.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und vorgetragen, dass der unfallbedingte Zeitraum der
Arbeitsunfähigkeit von 2 Monaten nach dem Unfall zu kurz bemessen sei. Er hat hierzu auf die Ausführung des Dr.T.
verwiesen.
Nach Beiziehung der einschlägigen Röntgen- und CT-Aufnahmen hat der Orthopäde Prof. Dr.S. am
30.09.2005/27.03.2006 ein Gutachten erstellt. Er hat vorgetragen, dass ein sogenanntes Cervikalsyndrom mit
muskulären Verspannungen im Bereich der Nackenmuskulatur bei radiologisch geringen und sich an typischer
Lokalisation befindenden degenerativen Veränderungen vorliege. Das bedeute, dass aufgrund des Arbeitsunfalles von
einer leichtgradigen Distorsionsverletzung der HWS auszugehen sei. Diese sei folgenlos ausgeheilt, wobei eine
unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit bis 05.04.2002 nachvollziehbar sei. Die aktuellen Gesundheitsstörungen seien nicht
Folge des Unfalles vom 26.02.2002. Der Kläger hat noch eine Stellungnahme des Dr.T. vom 27.12.2005 vorgelegt.
Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Abänderung des Urteils des SG Nürnberg vom 25.01.2005 sowie des
Bescheides vom 06.05.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.09.2002 zu verurteilen, über den
05.04.2002 hinaus Heilbehandlungskosten und Verletztengeld aus Anlass des Arbeitsunfalles vom 26.02.2002 zu
gewähren, hilfsweise Dr.T. nochmals zu hören.
Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 25.01.2005
zurückzuweisen.
Der Senat hat noch die medizinischen Unterlagen der Arbeitsunfälle vom 20.01.1993 (HWS und linker Arm),
20.05.1996 (Zerrung der Paravertebralmuskulatur der unteren HWS links sowie Übergang der Halsmuskulatur zur
rechten Schulter), 03.02.2003 (HWS) sowie 29.07.2003 (ebenfalls HWS) zum Verfahren beigezogen.
Ergänzend wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, sachlich aber nicht begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Heilbehandlungskosten und Verletztengeld über den 05.04.2002
hinaus, weil insoweit die Voraussetzungen nicht erfüllt sind.
Ein Anspruch auf Verletztengeld setzt nach § 45 Abs 1 Nr 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VII voraus, dass der
Versicherte infolge eines Arbeitsunfalles arbeitsunfähig iS der Krankenversicherung ist oder wegen einer Maßnahme
der Heilbehandlung eine ganztägige Erwerbstätigkeit nicht ausüben kann. Die Arbeitsunfähigkeit ist dabei ein
Rechtsbegriff, dessen medizinische Voraussetzungen der Arzt lediglich festzustellen hat. Es ist Sache des Gerichts,
dazu Feststellungen zu treffen, ob die objektiven medizinischen Befunde den Rechtsbegriff der Arbeitsunfähigkeit
ausfüllen (Bereiter-Hahn/Mehrtens, § 45 SGB VII Anm 5.1). Der Verletzte ist dann arbeitsunfähig, wenn er seine
bisherige, d.h. unmittelbar vor Eintritt des Versicherungsfalles ausgeübte Erwerbstätigkeit infolge Krankheit nicht mehr
oder doch mit der Gefahr, in absehbarer Zeit seinen Zustand zu verschlimmern, verrichten kann (Bereiter-Hahn aaO,
Anm 5). Das Vorliegen von Behandlungsbedürftigkeit ist dabei keine Voraussetzung für die Arbeitsunfähigkeit
(Kasseler Kommentar - Höfler - § 44 SGB V RdNr 19).
Voraussetzung für einen Anspruch auf Gewährung von Verletztengeld über den 05.04.2002 hinaus ist, dass die
Arbeitsunfähigkeit Folge des Arbeitsunfalles ist, dass also zwischen der unfallbringenden versicherten Tätigkeit und
dem Unfall sowie dem Unfall und der Arbeitsunfähigkeit ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Ein ursächlicher
Zusammenhang liegt nach dem in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsbegriff nur dann vor,
wenn das Unfallereignis mit Wahrscheinlichkeit wesentlich die Entstehung oder Verschlimmerung der
Arbeitsunfähigkeit bewirkt hat.
Diese Voraussetzungen des Anspruchs auf Gewährung von Verletzungsgeld über den 05.04.2002 hinaus sind aber
nicht erfüllt. Der Senat folgt insoweit den Ausführungen der Gutachter Prof. Dr.S. und Dr.E ... Danach ist infolge des
Arbeitsunfalles vom 26.02.2002 von einer leichtgradigen Distorsionsverletzung der HWS auszugehen.
Bereits die im Jahre 2004 erstellten Röntgenaufnahmen der Orthopädischen Klinik S. sowie die aktuellen
Funktionsaufnahmen zeigen keinerlei Hinweise auf strukturelle Verletzungsfolgen im Bereich der HWS nach mehrfach
erlittenen Verkehrsunfällen. Insbesondere lässt sich eine segmentale Instabilität nicht feststellen. Auch fehlen
Verknöcherungen weichteiliger Strukturen als Hinweis auf eine weichteilige Verletzung. Die Kernspin-Aufnahme (KSP)
vom 05.04.2002 lässt ebenfalls keinen Nachweis struktureller Verletzungsfolgen erkennen. Die erlittene
Distorsionsverletzung ist demnach dem leichteren Verletzungsgrad zuzuordnen. Diese Zuordnung kann nicht nur
aufgrund der anamnestischen Angaben des Klägers zu den Ereignissen unmittelbar nach dem Unfall erfolgen, sondern
auch aufgrund des weiteren Verlaufes. In der KSP haben sich, wie bereits oben erwähnt, keine Hinweise auf
strukturelle Verletzungszeichen ergeben. Auch findet der Röntgenverlauf von nun über 3 Jahren trotz weiterer
erlittener Distorsionsverletzungen der HWS keinen Hinweis auf Verknöcherungen weichteiliger Strukturen als Zeichen
einer strukturellen Weichteilverletzung. Ein Instabilität einzelner Bewegungssegmente war bei den
Funktionsaufnahmen vom November 2004 und auch aktuell nicht nachweisbar.
Leichtgradige Distorsionsverletzungen der HWS heilen erfahrungsgemäß folgenlos aus. Prinzipiell ist davon
auszugehen, dass die unfallbedingten Beschwerden im Krankheitsverlauf kontinuierlich abnehmen. Bei einer
Perpetuierung des Beschwerdebildes - wie beim Kläger - sind dann unfallunabhängige endogene Faktoren zunehmend
beteiligt. Damit kann festgehalten werden, dass bei dem Arbeitsunfall am 26.02.2002 eine folgenlose Ausheilung
eingetreten ist.
Hinsichtlich der Frage, wie lange nach dem Arbeitsunfall eine Arbeitsunfähigkeit bestand, ist nach medizinischer
Erkenntnis bei leichtgradigen Distorsionsverletzungen von einer Arbeitsunfähigkeit von bis zu 6 Wochen auszugehen.
Danach kann die von der Beklagten angenommene unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit bis 05.04.2002 als gerechtfertigt
angesehen werden. Medizinisch ergeben sich keinerlei Argumente, die eine längere Arbeitsunfähigkeit rechtfertigen
würden. Eine Arbeitsunfähigkeit infolge des Arbeitsunfalles bis 05.04.2002 liegt eindeutig im oberen gutachterlichen
Ermessensspielraum.
Nicht folgen kann der Senat dem Gutachten des Dr.T ... Die dortigen Ausführungen sind nicht nachvollziehbar.
Insbesondere handelt es sich bei einer anzunehmenden Zerrung von neuromeningialen Strukturen
(Nervenrückenmarkhautstrukturen) um ein hypothetisches Konstrukt, für das sich keine Basis findet. Bei einer
derartigen Verletzung hätten bereits unmittelbar nach dem Unfall und frühzeitig neurologische Auffälligkeiten auftreten
müssen. Eine neurologische Untersuchung im Krankheitsverlauf war aber unauffällig (Befundbericht der Neurologin
Dr.B. vom 29.04.2002). Auch finden die Ausführungen des Dr.T. , dass ein verzögerter Heilverlauf auf eine
weitergehende HWS-Zerrung hindeuten würde, keinerlei Rechtfertigung. Strukturelle Verletzungszeichen sind eben
nicht nachweisbar. Eine von Dr.T. attestierte statische Fehlentwicklung der HWS im Zusammenhang mit einer
frühkindlichen Operation bei Pylorusstenose entbehrt ebenfalls einer soliden Grundlage. Zudem führt Dr.T. eine
Dysfunktion der HWS mit craniozervikaler Fixierung und Fehlpositionierung des ersten Halswirbels an. Dagegen
sprechen aber die nach dem Unfall erstellten Röntgendokumente. Hierbei wurde auch eine Dens-a.p.-Aufnahme
durchgeführt, die die Kopfgelenke darstellt und eine vollkommen symmetrische Projektion der Kopfgelenke zeigt.
Daraus ist zu entnehmen, dass die von Dr.T. angenommene Fixierung und Fehlpositionierung des ersten Halswirbels
nicht als unfallbedingt anzusehen ist, da diese auf den Aufnahmen am ersten Tag nach dem Unfall nicht erkennbar
waren. Einer nochmaligen Anhörung des Dr.T. bedarf es daher nicht.
Das Urteil des SG Nürnberg ist nicht zu beanstanden. Die Berufung des Klägers muss erfolglos bleiben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.