Urteil des LSG Bayern vom 16.05.2006

LSG Bayern: polizei, versicherungsschutz, rechtssicherheit, unfallversicherung, wohnung, arbeitsunfall, wohnhaus, entschädigung, meinung, tierschutzgesetz

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 16.05.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Würzburg S 1 U 5035/02
Bayerisches Landessozialgericht L 18 U 461/04
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 10.11.2004 aufgehoben und die
Klage abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung des Ereignisses vom 05.12.2001 als Arbeitsunfall streitig.
Der 1930 geborene Kläger ist selbstständiger Jagdpächter. Am 05.12.2001 um 23.45 Uhr erhielt er in seinem
Wohnhaus einen Telefonanruf. Als er den Hörer abhob, war die Verbindung unterbrochen. Daraufhin kleidete sich der
Kläger an. Er ging davon aus, dass es sich - wie in der Vergangenheit öfter geschehen - um einen Anruf der Polizei
gehandelt hat, die ihn von einem Wildunfall verständigen wollte. Kurz darauf klingelte das Telefon erneut. Auf dem
Weg zum Telefonapparat stürzte der Kläger und erlitt einen Oberschenkelhalsbruch rechts. Die Lebensgefährtin des
Klägers nahm den Anruf entgegen. Der Anrufer war ein Beamter der Landespolizeiinspektion K ... Dieser wollte dem
Kläger mitteilen, dass sich auf der Staatsstraße, die durch das Jagdrevier des Klägers führt, ein Wildunfall ereignet
hatte.
Mit Bescheid vom 28.01.2002 lehnte die Beklagte die Entschädigung des Unfalls ab. Innerhalb des häuslichen
Bereiches bestehe kein Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Es sei unerheblich, dass der Kläger in seiner
Eigenschaft als Jagdpächter angerufen worden und der Telefonanruf dem versicherten Jagdunternehmen zuzurechnen
sei.
Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, dass der Weg zum Telefon Teil seiner versicherten Tätigkeit sei.
Zwar liege dieser Weg im häuslichen Bereich. Er müsse den Weg aber in Ausübung seiner versicherten Tätigkeit
zurücklegen. Als Jagdpächter sei er verpflichtet, jederzeit für die Polizei fernmündlich erreichbar zu sein, damit
seitens der Polizei die entsprechenden Anweisungen erfolgen könnten, verunfalltes, noch lebendes Wild zu
erschießen.
Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26.06.2002 zurück. Die versicherte Tätigkeit
beginne erst mit Durchschreiten der Außentür des Gebäudes, in dem sich die Wohnung des Versicherten befinde. Die
Grenze zwischen dem unversicherten häuslichen Bereich und dem betrieblichen Bereich sei nach der Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts (BSG) im Interesse der Rechtssicherheit gezogen worden, weil sie an objektive und leicht
feststellbare Merkmale anknüpfe.
Mit der zum Sozialgericht (SG) Würzburg erhobenen Klage hat der Kläger daran festgehalten, dass der Weg zum
Telefon seiner versicherten Tätigkeit zuzurechnen sei. Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 10.11.2004
verpflichtet, das Ereignis vom 05.12.2001 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen. Der Kläger sei als
Jagdpächter im Rahmen seines Jagdunternehmens tätig geworden. Auf dem Weg zum Telefon habe der Kläger eine -
jedenfalls von seinem berechtigten Standpunkt aus gesehen - dem Unternehmen wesentlich dienende Tätigkeit
aufgenommen. Dass der Versicherungsschutz erst mit dem Durchschreiten der Außentür beginne, bedeute nach der
Rechtsprechung des BSG nicht, dass eine betriebsdienliche Verrichtung dem Versicherungsschutz deshalb nicht
unterliege, weil sie im häuslichen, privaten Bereich ausgeübt werde.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Aus der angefochtenen Entscheidung gehe nicht hervor, aus
welchen Gründen der Unfall im privaten Wohnbereich als Arbeitsunfall anzuerkennen sei. Besondere Umstände, die
ein Abweichen von der im Interesse der Rechtssicherheit gezogenen starren Grenze zwischen dem unversicherten
häuslichen Bereich und dem betrieblichen Bereich rechtfertigen könnte, seien nicht ersichtlich. Auch habe der Kläger
zum Unfallzeitpunkt keine Gewissheit haben können, dass er zu einem Wildunfall gerufen werde.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 10.11.2004 aufzuheben und die Klage
abzuweisen, hilfsweise die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise die Revision zuzu lassen.
Ergänzend trägt er vor, dass sich der Unfall außerhalb des privaten Wohnbereiches ereignet habe. Zwischen den
beiden Telefonaten habe er sich in dem - dem Wohnhaus angebauten - Wintergarten aufgehalten, der mit einer Glastür
mit dem Jagdzimmer verbunden sei. Im Jagdzimmer bewahre er auch seine Jagdkleidung auf. Zur Jagdausübung
benutze er stets den Gartendurchgang.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakten
erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -
SGG -) und auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 28.01.2002 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 26.06.2003 ist rechtmäßig, so dass das Urteil des SG vom 10.11.2004 aufzuheben und
die Klage abzuweisen ist. Der Kläger kann die Entschädigung des Unfalls vom 05.12.2001 nicht verlangen, da ein
Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung nicht vorliegt.
Gemäß § 8 Abs 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten
infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Nach §
8 Abs 2 Nr 1 SGB VII sind versicherte Tätigkeiten auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit
zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Erforderlich ist allerdings ein innerer
Zusammenhang zwischen dem konkreten unfallbringenden Verhalten und dem generell versicherten Tätigkeitsbereich
des Versicherten. Dieser innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige
Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung
reicht (BSGE 61, 127, 128). Maßgeblich kommt es auf die Handlungstendenz des Versicherten an (BSG SozR 3-2200
§ 559 Nrn 4 und 17), wie sie insbesondere durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigt wird.
Als sich der Unfall ereignete stand der Kläger nicht unter Versicherungsschutz, denn der Kläger befand sich beim
Zurücklegen der Wegstrecke zum Telefon nicht auf einem Betriebsweg im Sinne des § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII. Ein
Betriebsweg ist ein Weg, der in Ausübung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt wird, Teil der versicherten Tätigkeit
ist und damit der Betriebsarbeit gleichsteht; anders als der Weg nach dem Ort der Tätigkeit wird er im unmittelbaren
Betriebsinteresse unternommen und geht nicht lediglich der versicherten Tätigkeit voran (BSG SozR 3-2700 § 8 Nr 3).
Insofern trägt der Kläger vor, dass die Entgegennahme des Anrufes eine nach § 2 Abs 1 Nr 5 Buchst a, § 123 Abs 1
Nr 5 SGB VII betriebsbezogene Tätigkeit darstelle. Jedoch ist bereits fraglich, ob die Entgegennahme des Anrufes der
betrieblichen Tätigkeit des Klägers zugerechnet werden kann. Hiergegen spricht, dass eine gesetzliche Verpflichtung
des Jagdpächters/Jagdausübungsberechtigten nicht besteht, stets für eine Verständigung über einen Wildunfall durch
die Polizei erreichbar zu sein. Auch ist er nicht gesetzlich verpflichtet, sich nach einer Verständigung zur Unfallstelle
zu begeben. Hiervon zu unterscheiden ist allerdings die Verpflichtung des Jagdpächters, falls er im Einzelfall als
Verwaltungshelfer von der Polizei im Zuge der Gefahrenabwehr herangezogen wird, und die Pflicht nach näherer
Maßgabe des § 17 Tierschutzgesetz zur Nachsuche des angefahrenen Wildes. Auch ist das Bewusstsein des Jägers
zu berücksichtigen, aus Gründen der Waidgerechtigkeit verpflichtet zu sein, sich zur Unfallstelle zu begeben.
Indessen bedarf die Frage der Betriebsbezogenheit keiner Entscheidung, da der Versicherungsschutz schon deshalb
zu verneinen ist, weil sich der Unfall im häuslichen Bereich des Klägers ereignet hat. Nicht nur der versicherte Weg
zum Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII), sondern auch der direkt angetretene Betriebsweg (§ 8 Abs 1 Satz 1
SGB VII) beginnt grundsätzlich erst mit dem Verlassen des häuslichen Wirkungskreises. Die Grenze zwischen dem
noch nicht oder nicht mehr dem Versicherungsschutz unterliegenden häuslichen Bereich und dem mit der versicherten
Tätigkeit zusammenhängenden Weg bildet die Außentür des vom Versicherten bewohnten Gebäudes (BSG aaO).
Außentür ist neben der Haustür jede Außentür, durch welche der häusliche Bereich verlassen werden kann (BSG
SozR 2200 § 550 Nr 80). Das BSG hat diese Grenze zwischen dem unversicherten häuslichen Lebensbereich und
dem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg (Weg zum Ort der Tätigkeit) bzw. dem ihr zugehörigen
Weg (Betriebsweg) im Interesse der Rechtssicherheit bewusst starr gezogen, weil sie an objektive Merkmale
anknüpft, die im Allgemeinen leicht feststellbar sind. Ein Abweichen von dieser gefestigten Rechtsprechung käme nur
dann in Betracht, wenn dadurch die Rechtssicherheit, die sich in der Gewährleistung der zu erstrebenden
Einheitlichkeit der Rechtsprechung auswirkt, nicht gefährdet würde (BSG SozR 3-2700 § 8 Nr 3).
Ein Anlass für ein Abweichen von dieser Rechtsprechung besteht vorliegend nicht. Die Entgegennahme des Anrufes
ist dem unversicherten häuslichen Bereich des Klägers zuzurechnen. Denn innerhalb des häuslichen Bereiches ist es
sachgerecht und billig, dem Versicherten das Unfallrisiko grundsätzlich zu belassen und nicht der gesetzlichen
Unfallversicherung zuzuordnen. Der häusliche Bereich stellt eine Gefahrenquelle dar, für die der Versicherte selbst
verantwortlich ist und die er kraft seiner Verfügungsmacht über die Wohnung selbst weitgehend beseitigen oder
reduzieren kann. Der Charakter der häuslichen Lebenssphäre wird auch beibehalten, wenn der Versicherte in der
Wohnung einer den betrieblichen Interessen dienenden Verrichtung nachgeht (BSG aaO). Darüber hinaus kommt es
nicht darauf an, aus welchen Gründen im Einzelfall der Unfall im häuslichen Bereich eingetreten ist. Dies würde zu
Abgrenzungsproblemen führen, die mit der Festlegung der Außentür als Grenze zwischen dem häuslichen und dem
versicherten Bereich vermieden werden sollen. Für den Kläger verbleibt es daher dabei, dass er sich zum Zeitpunkt
des Unfalls im unversicherten häuslichen Bereich befunden hat.
Zwar hat das BSG in Ausnahmefällen einen inneren Zusammenhang auf Wegen innerhalb des häuslichen Bereiches
bejaht, die der Aufnahme der beabsichtigten Tätigkeit in einem Hause dienen, in dem sich Wohnung und Arbeitsstätte
befinden, wenn der Versicherte durch besondere Umstände gezwungen war, die Verrichtung ausschließlich und in
unmittelbarer Aufnahme der versicherten Tätigkeit in einem bestimmten Zeitpunkt auszuführen (BSG SozR 2200 §
548 Nr 72; vgl auch BSG USK 93101). Hiervon ist beim Kläger jedoch nicht auszugehen. Es fehlt bereits daran, dass
sich im Wohnhaus des Klägers nicht auch dessen Arbeitsstätte befunden hat. Auch liegen keine Umstände vor, die
die besondere Eilbedürftigkeit der auszuführenden Betriebstätigkeit begründen. Zwar hat sich der Kläger in der
zutreffenden Erwartung dem Telefon genähert, eine Mitteilung der Polizei über einen Wildunfall zu erhalten. Es genügt
jedoch nicht, dass der Versicherte von seinem Standpunkt aus der Meinung sein konnte, den Interessen des
Unternehmens zu dienen. Die subjektive Meinung muss auch in den objektiven Verhältnissen eine ausreichende
Stütze finden (BSGE 52, 57, 59). Die vorgebrachten Erfahrungen der Vergangenheit, dass es sich um eine Mitteilung
der Polizei handeln könnte, rechtfertigen es aber nicht anzunehmen, dass der Kläger von einem betriebsbezogenen
und nicht privaten Anruf ausgehen konnte.
Nach alledem ist das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind insbesondere in Hinblick auf die zitierte Rechtsprechung des BSG (zB
SozR 3-2700 § 8 Nr 3) nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG).