Urteil des LSG Bayern vom 09.09.2008
LSG Bayern: aufschiebende wirkung, vollziehung, öffentliches interesse, rücknahme, rechtsschutz, interessenabwägung, verfügung, verwaltungsakt, russland, rückforderung
Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 09.09.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Würzburg S 15 SO 46/08 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 11 B 678/08 SO ER
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 04.07.2008 (einstweiliger Rechtsschutz)
wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I. Streitig ist die Rücknahme der Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
(Grundsicherungsleistungen) und von Leistungen der Krankenhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB
XII). Dem 1931 geborenen Antragsteller (ASt) bewilligte die Antragsgegnerin (Ag) seit längerem antragsgemäß
Grundsicherungsleistungen (zuletzt aufgrund des Bescheides vom 13.11.2007 in der Fassung des
Änderungsbescheides vom 22.11.2007 für die Zeit von Dezember 2007 bis August 2008) und Krankenhilfe (ohne
schriftlichen Bewilligungsbescheid). Der ASt hatte keinerlei Einkommen und Vermögen in seinen jeweiligen Anträgen
angegeben. Am 21.07.2008 beantragte der ASt Grundsicherungsleistungen ab 01.09.2008. Hierüber ist noch nicht
entschieden worden. Bei zwei polizeilichen Hausdurchsuchungen nach entsprechender Anzeige durch die Ag wurden
Bargeldbeträge, Kreditkarten, Sparbücher - ausgestellt u.a. von einer russischen Bank -, Einzahlungs- und
Auszahlungsquittungen über höhere Geldsummen und vom ASt als verloren gemeldete Ausweispapiere gefunden.
Diese Ausweispapiere benutzte der ASt um für von ihm nicht angegebene Reisen nach Russland durchzuführen.
Aufgrund dieser Erkenntnisse stellte die Ag die Leistungen der Grundsicherung mit Bescheid vom 25.03.2008 und die
Leistungen der Krankenhilfe mit Bescheid vom 25.03.2008 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 30.06.2008
ab 01.04.2008 ein. Hilfebedürftigkeit liege nicht vor. Den Widerspruch hiergegen wies die Regierung von Unterfranken
mit Widerspruchsbescheid vom 20.06.2008 betreffend die Grundsicherungsleistungen vollständig und mit
Widerspruchsbescheid vom 16.07.2008 betreffend die Krankenhilfe im Übrigen zurück. Die Bescheide vom
25.03.2008 enthielten eine konkludente Aufhebung bzw. Rücknahme der Bewilligungsbescheide. Klage hat der ASt
nur gegen den Widerspruchsbescheid vom 20.06.2008 erhoben. Mit Bescheid vom 05.05.2008 ordnete die Ag die
sofortige Vollziehung der Einstellung der Krankenhilfe und der Grundsicherungsleistungen an. Bei Verzicht auf den
Sofortvollzug sei zu befürchten, dass weiterhin Sozialhilfe geleistet werden müsse und eine spätere Rückforderung
wegen zwischenzeitlicher Vermögensdispositionen des ASt gefährdet sei. Trotz Beschlagnahme eines Teils des
Vermögens seien dem ASt erhebliche Vermögenswerte belassen worden, über deren Verbleib er keine Aussage
gemacht habe. Einem Missbrauch von Sozialleistungen müsse vorgebeugt werden. Andere Maßnahmen zur
Sicherung des öffentlichen Interesses seien nicht ersichtlich.
Am 25.05.2008 hat der ASt beim Sozialgericht Würzburg (SG) beantragt, die aufschiebende Wirkung seiner
Widersprüche gemäß § 86b Abs 1 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) anzuordnen. Er besitze nur noch 60,00 EUR. Das
vorhandene Bargeld sei bei den Hausdurchsuchungen beschlagnahmt bzw. von ihm an die tatsächlichen Eigentümer
zurückgegeben worden. An die russische Rente auf einem russischen Sparbuch komme er nicht - sofort - heran.
Leistungen seien daher zumindest als Darlehen zu bewilligen. Zudem seien medizinische Maßnahmen dringend
erforderlich, Krankenhilfe müsse daher umgehend geleistet werden. Eine Mitwirkungspflicht bezüglich der Aufklärung
der Verwendung der Gelder bestehe nicht. Er brauche sich nicht selbst belasten. Im Übrigen habe er den Verbleib des
Geldes dem Sachbearbeiter der Ag bekanntgegeben. Eine Überweisung einer russischen Rente nach Deutschland sei
inzwischen möglich. Hierüber hätte er aber von der Ag informiert werden müssen. Der ASt hat verschiedene
Erklärungen zu den Eigentums- und Besitzverhältnissen des bei den Hausdurchsuchungen gefundenen
Geldvermögens vorgelegt.
Die Ag hat vorgetragen, dem ASt werde noch Krankenhilfe gewährt und er habe nach Ablauf eines Monats Anspruch
auf Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung gemäß § 5 Abs 1 Nr 13 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB
V).
Mit Bescheid vom 04.07.2008 hat das SG den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt. Die Anordnung der
sofortigen Vollziehung sei formal und materiell rechtmäßig. Insbesondere das besondere öffentliche Interesse sei
ausreichend von der Ag dargelegt worden. Zwischenzeitliche Vermögensdispositionen des ASt würden zu einer
Gefährdung der Rückforderung führen. Die Einstellungsbescheide seien offensichtlich rechtmäßig. Die
Voraussetzungen einer Rücknahme lägen vor. Auch wenn sich der ASt nicht selbst bezichtigen müsse, trage er die
Beweislast für das Vorliegen von Hilfebedürftigkeit im Rahmen einer Rücknahmeentscheidung, denn es seien
ausschließlich Erklärungen und Unterlagen zum Einkommen und Vermögen erforderlich, die allein er abgeben könne.
Die Ag habe ihr Ermessen ausgeübt. Der ASt habe zumindest grob fahrlässig unrichtige Angaben gemacht. Dies gelte
auch für die Einstellung der Krankenhilfe. Im Übrigen werde die Krankenhilfe weiterhin gewährt.
Dagegen hat der ASt Beschwerde eingelegt und mitgeteilt, ein Großteil des Geldes habe ihm nicht gehört bzw. sei
von der Ag mehrfach berücksichtigt worden.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Akte der Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter
Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist zulässig, aber nicht
begründet. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruches bzw. der zwischenzeitlich unter dem Az. S 15 SO 52/08
eingelegten Klage gegen den Bescheid vom 25.03.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.06.2008
(Einstellung der Grundsicherungsleistung) bzw. des Widerspruches gegen den Bescheid vom 25.03.2008 in der
Fassung des Bescheides vom 30.06.2008 (Krankenhilfe) in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.07.2008
wird nicht angeordnet.
Hinsichtlich des Bescheides vom 25.03.2008 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 30.06.2008 ist am
16.07.2008 ein Widerspruchsbescheid ergangen. Hiergegen hat der ASt keine Klage zum Sozialgericht erhoben.
Damit sind diese Bescheide bestandskräftig geworden. Ein Hauptsacheverfahren ist nicht mehr anhängig, so dass
kein Rechtsschutzbedürfnis für einen einstweiligen Rechtsschutz mehr besteht. Die Beschwerde diesbezüglich ist
daher zurückzuweisen.
Zur Begründung der Zurückweisung hinsichtlich der "Einstellung" der Grundsicherungsleistungen wird gemäß § 142
Abs 2 Satz 3 SGG auf die Ausführungen des SG Bezug genommen.
Zur Ergänzung ist dabei lediglich auf Folgendes hinzuweisen: Streitgegenständlich ist allein noch der Bescheid vom
25.03.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.06.2007, somit Leistungen der Grundsicherung bis
31.08.2008. Nicht Streitgegenstand sind Leistungen der Grundsicherung ab 01.09.2008, denn die Ag hat über den für
diese Zeit gestellten Antrag vom 21.07.2008 noch nicht entschieden. Der bereits am 25.05.2008 gestellte Antrag auf
einstweiligen Rechtsschutz hat sich auf die Zeit ab 01.09.2008 nicht bezogen, vielmehr sich lediglich gegen die
"Einstellung" gerichtet.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist von der Ag im Bescheid vom 05.05.2008 gerade noch hinreichend
dargelegt worden. Sie ist formell rechtmäßig, denn sie ist schriftlich begründet worden (§ 86a Abs 2 Nr 5 SGG). Die
Begründung stellt dabei auf den konkreten Einzelfall ab und legt das hier erforderliche besondere öffentliche Interesse
an der sofortigen Vollziehung dar. Dabei hat die Ag neben der Gefährdung einer Rückforderung durch weitere
Vermögensdispositionen des ASt darauf abgestellt, dass diesem ein Missbrauch von Sozialleistungen, also
vorsätzliches Verschleiern von vorhandenem Vermögen und Einkommen vorgeworfen wird. Das durch diese
Formulierung angesprochene besondere öffentliche Interesse überwiegt das Interesse des ASt an dem weiteren Erhalt
von Leistungen. Die Ag hat diesbezüglich eine Abwägung vorgenommen und ist zu dem Ergebnis gekommen, die
Anordnung des Sofortvollzuges lasse keine irreparablen Folgen für den ASt befürchten. Er könne jederzeit durch
wahrheitsgemäße Offenlegung seines Einkommens und Vermögens bzw. dessen Verbleib seine Hilfebedürftigkeit
nachweisen.
Die damit vorgenommene Interessenabwägung ist für den Senat nachvollziehbar und als noch ausreichend
anzusehen.
Somit ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtmäßig erfolgt.
Gemäß § 86b Abs 1 Nr 2 SGG kann jedoch das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch oder
Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.
Dabei sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen und eine Interessenabwägung ist
vorzunehmen.
Im Rahmen der Prüfung der Erfolgsaussichten ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung aufzuheben, wenn der
angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist. Die offensichtliche Rechtmäßigkeit des
Verwaltungsaktes spricht dafür, die aufschiebende Wirkung nicht anzuordnen. Die Vollziehungsanordnung bedarf aber
auch beim offensichtlich rechtmäßigen Verwaltungsakt zusätzlich eines öffentlichen Interesses daran, den
Verwaltungsakt vor Eintritt seiner Bestandskraft zu vollziehen (vgl Keller in Meyer-Ladewig, SGG, 8.Aufl, § 86b Rdnr
12c). Vorliegend ist der angegriffene Bescheid vom 25.03.2008 (Einstellung der Grundsicherungsleistungen) nicht
offensichtlich rechtswidrig. Die Frage der Rechtmäßigkeit ist vielmehr allenfalls als offen zu bezeichnen, nachdem die
Ag mit dem genannten Bescheid die Leistungen lediglich "eingestellt" hat. Sie hat mit diesem Bescheid nicht den der
Einstellung zugrundeliegenden Bewilligungsbescheid aufgehoben bzw. zurückgenommen. Auch im Rahmen des
Widerspruchsverfahrens ist eine solche Aufhebung bzw. Rücknahme durch den Widerspruchsbescheid vom
30.06.2008 nicht erfolgt. Vielmehr wird darin lediglich ausgeführt, im Bescheid vom 25.03.2008 sei konkludent auch
eine Aufhebung bzw. Rücknahme vorgenommen worden.
Nachdem die Erfolgsaussichten in der Hauptsache damit - allenfalls - als offen anzusehen sind, ist eine
Interessenabwägung vorzunehmen. Diesbezüglich kann auf die obigen Ausführungen im Rahmen der Prüfung der
Anordnung der sofortigen Vollziehung hingewiesen werden. Ein öffentliches Interesse ist in den nach Auffassung des
Senates vorsätzlichen falschen Angaben des ASt zu sehen (z.B. zu seinen verlorenen Ausweispapieren und
verheimlichten Reisen nach Russland). Auch die bisher abgegebenen Erklärungen zum Verbleib der bei den
Hausdurchsuchungen vorgefundenen Bargeldbeträge sind in keinster Weise nachvollziehbar. Der unmittelbar im
Anschluss an die erste Hausdurchsuchung stattfindende Geldfluss über einen Mittelsmann am Bahnhof A-Stadt lässt
den Senat an der ordnungsgemäßen Abwicklung vertraglicher Rückgabeansprüche an eventuell tatsächliche
Eigentümer zweifeln. Auch die Reisetätigkeit des ASt trotz des Bezugs von Leistungen der Grundsicherung bzw.
vorher von Leistungen der Sozialhilfe sprechen für ein vorsätzliches Verschleiern der Einkommens- und
Vermögensverhältnisse.
Die Interessen des ASt an einem - vorläufigen - weiteren Erhalt von Leistungen der Grundsicherung erlangen im
Rahmen der Interessenabwägung nach Auffassung des Senates keine entscheidende Bedeutung. Dem ASt standen
größere Beträge zur Verfügung, deren Herkunft bzw. Weggabe er bislang nicht eindeutig erklären konnte. Nachdem er
jedoch von verschiedenen Seiten Geldbeträge zur Verfügung gestellt bekommen hat, ohne entsprechende
Sicherheiten bieten zu können - er bezog Sozialhilfeleistungen -, geht der Senat davon aus, dass dem ASt genügend
Möglichkeiten zur Verfügung stehen, sich Bargeld zum Lebensunterhalt zu verschaffen. Im Übrigen bestreitet er
Renteneinkommen in Russland nicht mehr. Diese Rente kann er nach Deutschland überführen, so dass er auf
Einkommen in noch unbekannter Höhe zurückgreifen kann. Zudem ist streitgegenständlich allen die Zeit bis
31.08.2008, also ein bereits abgelaufener Zeitraum. Eine frühere Entscheidung des Senates konnte wegen der
angekündigten Beschwerdebegründung nicht erfolgen. Ein Abwarten der Hauptsacheentscheidung bezüglich bereits
vergangener Leistungszeiträume ist ihm zumutbar.
Aus all dem ergibt sich für den Senat, dass das besondere öffentliche Interesse am Fortbestehen der Anordnung der
sofortigen Vollziehung das Interesse des ASt am Erhalt von vorläufigen Leistungen für einen bereits vergangenen
Zeitraum überwiegt.
Die Beschwerde ist somit zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).